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Klimakrise und Armut

Kleiner Fußabdruck, große Gefahr

Klimakrise und Armut: Kleiner Fußabdruck, große Gefahr
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Wer reich ist, schädigt die Atmosphäre mit dicken Autos, weiten Flugreisen und dem Bau von Luxusvillen. Wer arm ist, trägt das Risiko, an den Folgen der Erderwärmung vorzeitig zu sterben. Eine Schieflage, mit der sich Baden-Württembergs Klima-Sachverständigenrat erstmals ausführlich beschäftigt hat.

Hamburg macht es vor. Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann hatte 2023 seine Kultusministerin Theresa Schopper (beide Grüne) zum Informationsaustausch nach Hamburg geschickt, um sich Tipps vom Aufsteiger in allen Bildungsvergleichsstudien zu holen. Jetzt könnte Landesumweltministerin Thekla Walker (ebenfalls Grüne) folgen, am besten im Geleitzug mit jenen ihrer CDU-Kolleg:innen am Kabinettstisch, die bremsen und blockieren, wenn es um die dringend gebotenen schärferen Maßnahmen zur Reduzierung des CO₂-Ausstoßes geht.

Denn in der Hansestadt hat in einem Volksentscheid die Mehrheit für konkrete Verschärfungen im Kampf gegen die Erderwärmung votiert. Damit muss die Bürgerschaft mit ihrer rot-grünen Mehrheit das zugrunde gelegte geänderte Klimaschutzgesetz jetzt annehmen. Wie weichenstellend dieser Erfolg ist, zeigen die ersten Reaktionen. "Fridays for Future siegt in Hamburg und bestimmt jetzt die Klima-Politik", barmt die "Welt". Tatsächlich werden die Auswirkungen bundesweit ausstrahlen. Nicht nur das Ziel, emissionsneutral zu werden, ist in Hamburg nun von 2045 auf 2040 vorgezogen. Bei Verfehlungen auf dem Weg dahin muss zeitnah mit zusätzlichen Maßnahmen reagiert werden, und vor allem müssen entsprechende Einschnitte oder Förderprogramme sozial gerecht ausgestaltet sein. Noch am Abend der Auszählungen drohten Wirtschaftsverbände mit Abwanderungen.

Dass die Klima-Entwicklung auch in Baden-Württemberg nach immer rascheren Reaktionen verlangen, weil die Lage immer bedrohlicher wird, beschreibt ein einziger Tatbestand. "Die zu erbringende Minderung der Treibhausgas-Emissionen in den sechs Jahren von 2025 bis 2030 ist fast genauso hoch wie die in den vergangenen 34 Jahren erbrachte Minderung", erläuterte Maike Schmidt, die Vorsitzende des Klima-Sachverständigenrates. Das gesetzlich verankerte Gremium hat vergangene Woche seinen aktuellen "Fortschrittsbericht" vorgelegt. Die Herausforderungen seien heute noch größer als ursprünglich angenommen.

Arme sind weniger schuld, aber stärker betroffen

"Wir sind zutiefst besorgt", sagt die Fachfrau, im Hauptberuf Leiterin des Fachgebiets Systemanalyse beim Zentrum für Sonnenenergie- und Wasserstoff-Forschung Baden-Württemberg. Zumal wenn der Klimawandel aus einem bisher vernachlässigten Blickwinkel betrachtet wird, dem Gerechtigkeitsaspekt. "Die soziale Frage wurde im 20. Jahrhundert als gesellschaftliches Gesamtprojekt angegangen", schreiben die sechs Autor:innen, "und in ähnlicher Weise erfordert die ökologische Frage beziehungsweise Klimafrage, dass sie solidarisch gelöst wird. Denn werden soziale Gerechtigkeitsaspekte bei der Entwicklung von Maßnahmen vernachlässigt, riskiert die Politik das Gesamtprojekt der Klimaneutralität."

Wer arm ist und deshalb in weniger begrünten Quartieren lebt, in schlecht gedämmten Häusern wohnt und sich weniger gesund ernähren kann, ist von der Erderwärmung deutlich schneller und stärker betroffen. Dabei stoßen Ärmere deutlich weniger Traibhausgas aus – wegen kleinerer oder gar keiner Autos, keiner Flugreisen, schon gar keiner Villen. "Der ökologische Fußabdruck von Menschen mit geringem Einkommen ist nur halb so groß wie der von Menschen der mittleren Einkommensgruppen in Deutschland", rechnet Schmidt vor. Die Menschen in den höchsten Einkommensgruppen hätten "sogar einen bis zu dreimal größeren ökologischen Fußabdruck und damit auch einen bis zu dreimal so hohen CO₂-Ausstoß wie die unteren".

Dabei hatte sich speziell die CDU viel vorgenommen. Im Mai 2021, in seiner ersten Parlamentsrede als neu gewählter Fraktionschef, sagte Manuel Hagel – inzwischen auch Landesvorsitzender und Spitzenkandidat für die Landtagswahl 2026 –, Klimaschutz sei "uns in dieser Koalition, für unsere Generation, für unsere Gesellschaft existenziell". Die Bewahrung der Schöpfung sei die Zukunftsfrage schlechthin. Die Halbwertszeit solcher Sätze erwies sich als überschaubar, spätestens als der Sachverständigenrat vor einem Jahr erstmals mit sehr deutlichen Worten größere Anstrengungen anmahnte und auf ein Sofortprogramm drängte.

Mehr Geld für grüne Haushaltsgeräte

Das Interesse an Gerechtigkeitsaspekten ist bisher schmerzlich unterentwickelt in Land und Bund. Statt gegenzusteuern, wird die Schieflage verstärkt, etwa durch den Verzicht auf eine – nach der Inflationsrate – eigentlich gebotene Erhöhung des Bürgergeldes. Das beginnt schon damit, dass es auf dringenden Wunsch der Union nicht mehr so heißen darf. Zur Erinnerung: Der Regelbedarfsatz wurde 2023 von 449 auf 502 Euro angehoben und ein Jahr später wegen der Inflation auf 563 Euro. Mit Blick auf mögliche klimafreundlichere Neuanschaffungen hat die Bundesagentur für Arbeit einen guten "Tipp", der mit Alltag im beschwerlichen Leben mit wenig Geld nicht allzu viel zu tun hat: "Wie Sie den Regelbedarf verwenden, entscheiden Sie selbst. Sie sollten monatlich einen Betrag ansparen – für den Fall, dass Sie zum Beispiel ein Haushaltsgerät ersetzen müssen."

In der Theorie sind die 563 Euro dreigeteilt in laufende, regelmäßige und unregelmäßige Ausgaben. In die letzte Kategorie fallen Wohnungsausstattung, Stromnachzahlungen oder die Anschaffung neuer Elektrogeräte. Die Armutskonferenz Baden-Württemberg betrachtet es als illusorisch, dass Empfänger:innen dafür Geld zurückzulegen. Jahrelang hat Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) auch deshalb für Projekte geworben wie die Abgabe effizienter Kühlschränke an Familien, die sich die Anschaffung nicht leisten können. Eingeflossen in die Förderstrukturen des Landes sind derartige Nachhaltigkeitskriterien nie. Die Sachverständigen halten ein "Zusatzprogramm bei Empfängerinnen und Empfängern von Bürgergeld für den Erwerb stromsparender Technologien im Alltag" für denkbar.

Überhaupt macht die Vorsitzende des Sachverständigenrats auf die prinzipielle Zwickmühle aufmerksam: Ordnungspolitische Maßnahmen, sagt Maike Schmidt, um den Begriff Verbot zu vermeiden, seien verpönt, Anreize müssten gesetzt werden. Bisher aber seien die Landesförderprogramme keineswegs passgenau nach dem Einkommen gestaffelt. Baden-Württemberg könnte Vorreiter werden und die Handlungsspielräume konsequent nutzen. Nach Hamburg, muss es seit dem Wochenende heißen. Ein 100-Millionen-Euro-Prgramm zum Heizungsaustausch könnte Abhilfe schaffen. Das so sehr und zu Unrecht in Verruf geratene Gebäudeenergiegesetz lässt grüßen: 86 Prozent der Öl- und 65 Prozent der Gasheizungen im Land sind älter als zwanzig Jahre. Der Sachverständigenrat fordert, dieses "riesige, schlummernde Modernisierungspotenzial" zu heben, so die Klima-Sachverständige. Weitere Stellschrauben sind das aus Einspargründen beendete Quartierförderprogramm des Bundes zur energetischen Stadtsanierung, auf dessen Wiedereinführung das Land drängen könnte. Oder der Gebäudebestand der Wohlfahrtsverbände, von Kinderkrippen bis zu Altenheimen, die aus dem Sondervermögen des Bundes energetisch saniert werden müssten. 

Ross und Reiter nennen die Sachverständigen nicht

In der Pflicht sehen Schmidt und ihre Kolleg:innen den Regierungschef selbst. Denn der hätte den Kampf gegen die Erderwärmung zur Chefsache machen müssen, insbesondere nach der Prognose von 2024, das Land drohe die eigenen Ziele erheblich zu verfehlen und der Forderung nach einem Sofortprogramm. Letzteres bremste die CDU durch monatelanges Mauern konsequent aus. Ross und Reiter nennen die Klima-Sachverständigen jedoch nicht. Möglicher Grund: Der bis Ende 2026 berufene Rat muss gegebenenfalls mit einem Ministerpräsidenten Hagel auskommen, um gehört zu werden und in der Sache Fortschritte erzielen zu können. 

CDU koffert gegen die eigenen Regierungsmitglieder

Nur einen Tag, nachdem der Klima-Sachverständigenrat seinen neuen Fortschrittsbericht im Kampf gegen die Erderwärmung vorlegt, wartet der neue CDU-Generalsekretär Tobias Vogt mit einer pikanten Kritik auf. Beim Bezirksparteitag in Südbaden am Samstag verlangt der 37-jährige Landtagsabgeordnete aus dem Wahlkreis Bietigheim-Bissingen nach einer "Regierung, die führt, und nicht einer, die schläft". Seine Partei stellt bekanntlich im Kabinett Kretschmann III fünf Minister:innen und fünf Staatssekretär:innen, darunter mit Peter Hauk (Agar), Nicole Razavi (Wohnen) und Nicole Hoffmeister-Kraut (Wirtschaft) solche, die im besonderen Fokus des Klima-Sachverständigenrats stehen und dessen Forderung, die Anstrengungen in den betreffenden Sektoren zu erhöhen. Nicht nur dieser Ausritt lässt einen Ausblick auf den Landtagswahlkampf zu. Seit Wochen versucht das Team um Manuel Hagel und der Spitzenkandidat selber, sich abzugrenzen von den eigenen Regierungsmitgliedern. Aktuell vor allem in der Wirtschaftspolitik. Wiewohl das Ressort seit 2016 in CDU-Hand ist, verlangte Hagel in einem "Programmlabor", dass Baden-Württemberg wieder dorthin komme, "wo es hingehört, ganz nach vorne". Gemeinsam mit Kanzleramtsminister Thorsten Frei (CDU) gab Hagel am Wochenende bei der IHK Schwarzwald-Baar diese Losung aus: "Unsere Wirtschaft braucht uns jetzt." Solche Versuche, auf Kosten von Parteifreund:innen in die Offensive zu kommen, rühren auch daher, dass Hagel bei öffentlichkeitswirksamen Terminen die zweite oder gar keine Geige spielt – weil er eben nicht am Kabinettstisch sitzt. Das verschafft einerseits Beinfreiheit, versperrt aber andererseits den Zugang zum hochkarätigen Termin. So kommt Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) nächste Woche zum Antrittsbesuch nach Baden-Württemberg. Im offiziellen Programm der Landesregierung haben nur Regierungsmitglieder Platz. Und nach dem Auftritt im Kabinett, fährt der Kanzler in die Heimat von Innenminister Thomas Strobl (CDU). Den hat Hagel bekanntlich 2023 aus dem Amt des Parteivorsitzenden verdrängt.  (jhw)

Lobend erwähnt werden die beiden grünen Ressortchefs Thekla Walker (Umwelt) und Winfried Hermann (Verkehr). Vor der Sommerpause hatten sie allein und zum Ärger des Koalitionspartners ihre Maßnahmen gegen den Klimawandel öffentlich vorgestellt. Kritik an anderen Ministerien ist aus dem Bericht herauszulesen, wenn es etwa heißt, es werde "auch im Gebäudebereich zu einer erheblichen Zielverfehlung kommen". Die Bauministerin heißt Nicole Razavi (CDU). Nicht mehr auf der Höhe der Zeit ist auch der für den Wald zuständige Peter Hauk (CDU), der immer wieder dessen Klimaschutzbeitrag betont durch die Aufnahme von CO₂. Den können Baden-Württembergs Wälder aber gar nicht mehr leisten. Schon seit 2023 sind sie ihrerseits Treibhausgasquelle.

Die größte Baustelle ist der Verkehrssektor. Hier ist vielfach belegt, dass Hermann deutlich schärfere Maßnahmen zur Erreichung der Klimaneutralität gegen die CDU nicht durchsetzen konnte. 

Der Ministerpräsident selbst bleibt seiner Linie treu, sich nicht drängen zu lassen, schon gar nicht zur Kritik am Koalitionspartner. Er dankt dem Sachverständigenrat für seine Arbeit und zieht es vor, so zu tun als hätte das Land gar keinen Handlungsspielraum, weil Zuständigkeiten von Bund oder EU entstehen. Einen Schuh allerdings zieht er sich aber sehr wohl an. Maike Schmidt hat hervorgehoben, dass bis Ende Juni Anträge für 1.230 neue Windenergieanlagen im Südwesten eingereicht worden sind – eine im Bundesvergleich "herausragend hohe Zahl". Da sieht Kretschmann den Koalitionsvertrag sogar übererfüllt. Vorerst jedoch hat die Positivbilanz einen Schönheitsfehler: Um wirklich voranzukommen in der Transformation, müssen die Räder zur Erzeugung von nachhaltigem und im Idealfall leistbarem Strom erst noch gebaut werden.

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