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Bürgerbegehren gegen Bebauung der S-21-Flächen

Wut aufs Rathaus

Bürgerbegehren gegen Bebauung der S-21-Flächen: Wut aufs Rathaus
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Das Bürgerbegehren gegen die Bebauung der durch Stuttgart 21 freiwerdenden Gleisflächen geht in den Schlussspurt, noch fehlen viele Unterschriften. Doch derzeit ärgern sich die Initiator:innen über einen Termin zur weiteren Planung des Areals, den die Stadtverwaltung noch vor Ende der Abgabefrist anberaumt hat.

Luftbild: Stadtmessungsamt Stuttgart, Grafik: Kontext

Bebauen oder nicht? S-21-Teilflächen

Bei der Benennung der Flächen, die durch S 21 frei und bebaut werden sollen, herrscht Verwirrungspotenzial: Alle Teilflächen (A2, B, C1 und C2) fasst die Stadt Stuttgart mittlerweile als Projekt "Stuttgart Rosenstein" zusammen, das geplante Rosensteinquartier ist aber nur eines davon: die Teilfläche B. Auf der Teilfläche A2, dem unmittelbaren Gleisvorfeld, soll das Europaquartier entstehen – nur gegen deren Bebauung richtet sich das Bürgerbegehren des Bündnisses "Bahnhof mit Zukunft". Auf Teilfläche C1 soll die Maker City entstehen, für C2 ist bislang kein eigener Name bekannt. Das Areal A1 gehört nicht zu den S-21-Flächen, es wurde seit Mitte der 1980er-Jahre sukzessive auf dem Gelände des ehemaligen Güterbahnhofs bebaut.  (os)

Es regnet fein, aber ausdauernd auf die etwa 200 Menschen auf dem Schillerplatz in der Stuttgarter Innenstadt, die kalte Nässe zieht in die Glieder. Und Hannes Rockenbauch kündigt schon an, dass seine Worte nicht geeignet sind, die Stimmung zu heben. "Wir brauchen noch richtig viele Unterschriften", sagt der SÖS-Stadtrat den Teilnehmer:innen der 776. Montagsdemo gegen Stuttgart 21. Er meint Unterschriften für das Bürgerbegehren, das am 15. Juli startete (Kontext berichtete). Damit will die Initiative "Bahnhof mit Zukunft" den Weg für einen Bürgerentscheid ebnen, um die Bebauung des A2-Areals, ein Teilgebiet der durch S 21 freiwerdenden Gleisflächen, zu verhindern.

20.000 Stimmen braucht sie, zu ihren Initiator:innen gehören unter anderem die von Rockenbauch geführte Fraktionsgemeinschaft Die Linke SÖS Plus im Gemeinderat und der VCD Baden-Württemberg. Während der Sommerferien sei kaum etwas zusammengekommen, beklagt Rockenbauch, den Rückstand noch bis zum 15. Oktober aufzuholen – dann müssen alle gesammelten Unterschriften im Rathaus abgegeben werden – sei ein Kraftakt. "Aber auch wenn es so aussieht, als ob wir noch ein Wunder bräuchten", sagt Rockenbauch auf der Demo-Bühne, "macht mich doch eines aggressiv: Die Arroganz des Rathauses."

Vergangene Woche wurde bekannt, dass im Gemeinderatsausschuss für Stadtentwicklung und Technik (STA) am 14. Oktober, also einen Tag vor Ende der Frist für das Bürgerbegehren, die Vergabe der Freiraum- und Erschließungsplanung sowie die Vorplanung für die A2-Fläche auf der Tagesordnung steht. Damit werde dem Bürgerbegehren "in unzulässiger Weise vorgegriffen", kritisiert Rockenbauch scharf. Die Entscheidung so zu terminieren, sei "ein besonders dreister Versuch, das Bürgerbegehren zu übergehen und in überheblicher Weise Fakten zu schaffen".

Laut Stadt wird am 14. Oktober noch nicht entschieden

Wegen des Termins im STA hat Rockenbauch am vergangenen Montag einen Brief an OB Frank Nopper (CDU) geschrieben. In diesem fordert er das Stadtoberhaupt auf, "jegliche Behinderung des Bürgerbegehrens durch Sie und die Ihnen unterstellte Stadtverwaltung zu unterlassen und stattdessen Bürgerinnen und Bürger der Stadt, denen Sie ihr Amt verdanken, bei der Wahrnehmung demokratischer Rechte zu unterstützen".

Bei der Stadt versteht man die Aufregung offenbar nicht. Nein, es bestehe kein Bezug zwischen dem Termin im Ausschuss und der Abgabefrist für die Unterschriften, betont auf Kontext-Anfrage Fabian Jensen. Er leitet die Kommunikation für das Projekt Stuttgart Rosenstein, das auf den freien Gleisflächen entstehen soll. Das bloße Vorhaben, einen Bürgerentscheid zu erwirken, habe keinen Einfluss auf bereits gefasste Beschlüsse des Gemeinderats und deren Umsetzung durch die Verwaltung. "Die Stadt kommt daher ihrer Aufgabe nach, die Planungen effizient voranzutreiben." Am 14. Oktober werde zunächst nur eine Vorlage eingebracht. "Eine Entscheidung über die Vergabe erfolgt erst am 21. Oktober", erklärt Jensen, "somit hat der STA die Gelegenheit, falls erforderlich auf das Bürgerbegehren zu reagieren."

Und er betont: Sollten die Unterschriften des Bürgerbegehrens eingereicht werden, "nimmt die Stadtverwaltung ihre Verantwortung selbstverständlich ernst und wird die Zulässigkeitsprüfung des Begehrens und alle weiteren Schritte veranlassen". Aber so lange kein Bürgerbegehren eingereicht worden sei, setzte die Stadtverwaltung den Auftrag des Gemeinderats weiterhin um.

Selbst wenn die Terminierung "nicht böswillig erfolgte, ist das eine Art von politischer Ignoranz und Taktlosigkeit, die schon krass ist", sagt Rockenbauch gegenüber Kontext. Und es sei auch ein Signal an die Bürgerschaft.

Würde die Initiative "Bahnhof mit Zukunft" erfolgreich einen Bürgerentscheid auf den Weg bringen und eine Mehrheit gegen eine Bebauung stimmen, würde eine Vergabeentscheidung zwar keine vollendeten Tatsachen schaffen. Aber wenn die Stadt jetzt mit Planungen begänne, die dann wieder obsolet würden, sei das "ein Fall von Geld- und Ressourcenverschwendung". Dabei ist die Stadt momentan bekanntlich klamm.

Neues Gutachten: Bauen ist unzulässig

Unabhängig vom Ausgang des Bürgerbegehrens und von Entscheidungen des Gemeinderats kann es aber sein, dass die Stadt sowieso erst einmal nicht bauen darf. Darauf wies bereits im Juli der Nürtinger Grünen-Bundestagsabgeordnete Matthias Gastel hin. Gastel hatte bei dem Passauer Rechtsprofessor Urs Kramer ein Gutachten in Auftrag gegeben, was denn die erneute Änderung des Allgemeinen Eisenbahngesetzes (AEG) – konkret, dessen Paragrafen 23 – für die bis zum Kopfbahnhof führenden Gleise bedeute.

Zur Erinnerung: Die Ampel-Koalition hatte den besagten Paragrafen im Oktober 2023 dahingehend geändert, dass die Entwidmung und Bebauung von Gleisflächen wesentlich erschwert wurde (Kontext berichtete). Das hatte zu großem Verdruss bei den S-21-Fans im Rathaus geführt. Der Bundestag habe sich "mehrheitlich in einem Zustand kollektiver legislativer Verirrung" befunden, kommentierte Nopper die Gesetzesänderung. Entsprechend groß war die Freude bei ihm, als im Juni dieses Jahres diese Änderung von der neuen schwarz-roten Bundesregierung wieder rückabgewickelt wurde. Und so begannen konkrete Schritte zur Planung des Stadtviertels auf dem A2-Areal .

Doch Urs Kramer schüttet reichlich Wasser in den Wein: "Eine Freistellung der Grundstücke des heutigen Kopfbahnhofs würde im Moment auch auf der Basis der Neufassung des § 23 AEG scheitern", schreibt er. Denn: Es bestehe bei der Gäubahn weiter ein Verkehrsbedürfnis und es fehle eine Ersatzstrecke. Hier spielt wieder eine Besonderheit der S-21-Planung eine Rolle: Während die oberirdischen Gleise in einer Testphase liegen bleiben sollen, wenn der Tiefbahnhof fertig ist, soll die Gäubahn schon früher gekappt werden. Laut der Deutschen Bahn sei sie einer neuen Führung der S-Bahn im Weg. Stand jetzt soll deshalb die Kappung im März 2027 erfolgen. (Kontext berichtete). Dann sollen die aus Zürich kommenden Züge bis auf weiteres in Stuttgart-Vaihingen enden.

Doch eine solche Gäubahn-Abkopplung sei rechtlich nicht zulässig, auch mit der aktuellen Fassung des Eisenbahngesetzes nicht, argumentiert Kramer: "Mangels Vorliegen ihrer Voraussetzungen" – also einem sofort verfügbaren Ersatz. Denn die geplante alternative Streckenführung via Pfaffensteigtunnel wird erst in ungewisser Zukunft fertig, wenn überhaupt. Je nach Prognose soll das noch bis 2032 oder sogar bis in die 2040er-Jahre dauern.

"So einfach, wie es sich Deutsche Bahn und Stadt machen, ist es nicht", schlussfolgert der Bundestagsabgeordnete Matthias Gastel. Denn das Land habe den Verkehr bis zum Hauptbahnhof und nicht nur bis Stuttgart-Vaihingen bestellt. "Würde der Umstieg in Vaihingen einen gleichwertigen Ersatz zur durchgehenden Verbindung darstellen, gäbe es wiederum keine hinreichende Begründung für den Pfaffensteigtunnel."

Alles seit 2022 bekannt – und der Stadt egal

Es sind dies alles keine neuen Erkenntnisse. Bereits 2022 kam Kramer mit einem Gutachten zu diesem Schluss (Kontext berichtete). Eisenbahnrechtlich brauche es ein Stilllegungsverfahren, wolle man den Betrieb auf dem Abschnitt der Gäubahn zwischen Hauptbahnhof und Stuttgart-Vaihingen, genannt Panoramabahn, einstellen. Im Zuge eines solchen Verfahrens müsse der Abschnitt auch anderen Bahnanbietern angeboten werden. Und selbst nach einer Stilllegung dürfte die Stadt ihn nicht einfach bebauen, er müsste erst in einem weiteren Verfahren von Bahnbetriebszwecken freigestellt werden.

Ohne Stilllegungsverfahren keine Stilllegung – zu dieser Einschätzung kam übrigens nicht nur ein einzelner Jurist, sondern auch zwei weitere Gutachten. Darunter auch ein noch unter OB Fritz Kuhn (Grüne) von der Stadt in Auftrag gegebenes des Berliner Rechtsanwalts Stefan Rude (hier zum Download).

Zu den juristischen Expertisen hatte sich damals auch die Stadt geäußert – und ihre Gleichgültigkeit betont: Das Gutachten von Professor Kramer sei dessen juristische Meinung, sagte im Juni 2022 die für Verwaltungskoordination zuständige Stadtdirektorin Andrea Klett-Eininger. Aus dem Gutachten seien den Vertretern der Stadt "keine Handlungsverpflichtungen und Handlungsoptionen erkennbar".

Rechtlich gesehen bleibt es in Sachen Gleisvorfeld also in jedem Fall spannend – gleichgültig, ob ausreichend Unterschriften für einen Bürgerentscheid gesammelt werden.

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