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Arabisches Filmfestival

Was geblieben ist

Arabisches Filmfestival: Was geblieben ist
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Die palästinensisch-amerikanische Regisseurin und Schauspielerin Cherien Dabis ist auf Tour mit ihrem dritten Film, der von der Vertreibung der Palästinenser:innen handelt. Am vergangenen Donnerstag, bei der Eröffnung des Arabischen Filmfestivals in Stuttgart, rührte er das Publikum zu Tränen.

Cherien Dabis ist Tochter palästinensischer Eltern, geboren 1976 in den USA. In ihrem dritten, teils mit deutscher Unterstützung produzierten Film "Im Schatten des Orangenbaums" erzählt sie eine Familiengeschichte aus palästinensischer Sicht ab 1948. Die Dreharbeiten sollten eigentlich Ende Oktober 2023 im Westjordanland beginnen – doch am 7. Oktober brach alles zusammen. Nach dem Terroranschlag der Hamas, bei dem über tausend Menschen ermordet und Hunderte entführt worden waren, wurde das Westjordanland abgeriegelt und die deutsche Filmcrew evakuiert.

Der arabische Originaltitel "Illi Baqi Minnak" bedeutet so viel wie "Alles, was von dir geblieben ist". Darin erzählt die Mutter Hanan, gespielt von Dabis selbst, die Geschichte ihres Sohnes Noor: eines Jugendlichen, der 1988 bei einer Demonstration von israelischen Soldaten angeschossen wird. Um das einordnen zu können, beginnt sie die Erzählung mit dem Leben von Noors Großvater, der 1948 aus seinem Haus mit Orangenhain in Jaffa, dem heutigen Tel Aviv, vertrieben wurde. Dann führt sie durch zwei weitere Generationen, die ihr Leben im Flüchtlingslager im Westjordanland verbringen.

Fokus liegt auf Männern

Der zweieinhalbstündige Film eröffnete vergangenen Donnerstag, 2. Oktober, das Arabische Filmfestival in Stuttgart. Dabis war persönlich vor Ort und begrüßte mit Adwan Taleb, dem Initiator und Leiter des Filmfestivals, das Publikum. Sie war noch am selben Tag von einer Filmvorstellung in Berlin gekommen und reiste gleich am nächsten Morgen weiter nach Zürich, zum dortigen Filmfestival.

Ihren Film versteht Dabis als "emotionale Erziehung" gegen das Unwissen über eine Geschichte, "die nicht 2023 begonnen hat", sagt sie mit Bezug auf den Terroranschlag der Hamas in Israel am 7. Oktober 2023, der oft als Ursache des Leids in Gaza genannt wird. Die Botschaften im Film sind auch ihre persönliche Antwort auf das Aufwachsen in den USA – in einer Gesellschaft, die Menschen wie sie aufgrund ihrer Herkunft diskriminiert. "Ich möchte die palästinensische Menschlichkeit feiern und würdigen, während die Welt nur Gewalt sieht."

Im bewegenden Spielfilm schildert Cherien Dabis die Dilemmata von drei Generationen palästinensischer Männer, die auf verschiedene Weise mit dem Verlust ihrer Heimat seit 1948 umgehen: Amnesie, Resignation und Wut. Mit ihrem Fokus auf Männer versuche die Regisseurin, sich gegen deren Entmenschlichung, gegen die kollektive Bestrafung zu stellen. Täglich sei in den Nachrichten zu hören, dass Kinder und Frauen in Gaza sterben. Doch wie steht es um die Männer? Stehen sie alle unter Generalverdacht? "Ich wollte auch meinen Vater würdigen", erklärte Dabis auf eine Publikumsfrage. Den zunehmenden Verlust seiner Gesundheit zu beobachten, wie sehr ihn die eigene Vertreibung verfolgte, fast wie eine "Obsession", habe ihr das Herz gebrochen.

Die Israelis sind im Film nicht nur Soldaten, die 1948 Hanans Schwiegervater aus dessen Haus drängen oder 30 Jahre später bei Ausgangssperren und Checkpoints ihren Mann erniedrigen. Sie sind auch Ärzte, die alles tun, um das Leben ihres Sohns zu retten, es gibt auch eine israelische Familie, die zu Besuch kommt.

Rhodos als Jaffa

Statt der ursprünglich anvisierten drei Monate war der Filmdreh erst nach elf Monaten abgeschlossen. Mehrmals musste Dabis Schauspieler und Crew neu zusammensuchen, neue Orte finden, die das ehemalige Jaffa und ein Flüchtlingslager im Westjordanland darstellen sollten. Schließlich drehte sie in Jordanien, auf Zypern und Rhodos. "Wir haben Palästina an vielen Orten neu erschaffen", sagte sie nach der Vorstellung und erzählt, wie belastend die Zeit der Dreharbeiten gewesen sei. Auch, weil die Nachrichten über den anhaltenden israelischen Militäreinsatz in Gaza mit zivilen Opfern und Vertreibung täglich präsent waren. "Wir haben versucht, diesen Schmerz in den Film einfließen zu lassen", sagte Dabis.

Glück hatte Dabis mit der deutschen Förderung durch das ZDF und Arte, die bereits vor dem 7. Oktober zugesagt worden war. Danach sei es schwieriger geworden, solche "sensiblen Themen" finanziert zu bekommen. Nicht, weil sie nicht relevant gewesen wären, sondern weil nun viel genauer kontrolliert würde, welche Positionen Regisseur:innen im Bezug auf den Insrael-Palästina-Konflikt einnehmen.

Schwerer Weg in die Kinos

Trotz des Fokus auf die Männer verleiht Dabis der Mutter Hanan Gewicht, die die Familie wegführt vom Hass. Sie verkörpert damit die "stille Macht" der Frauen – in Richtung Versöhnung mit den Israelis und mit dem eigenen Schmerz.

"Im Schatten des Orangenbaums", deutscher Trailer.

Auch ihren US-Pass, mit dem sie nach Palästina einreisen darf, macht die Regisseurin zum Thema im Film. Ihr Ziel sei es, Perspektiven zu verschieben. Oft habe sie von US-Amerikanern gehört, dass sie nichts wüssten über die Geschichte der Nakba, der Vertreibung der Palästinenser:innen 1948. In Israels Kinos würde sie ihren Film nicht zeigen wollen, sagt sie. Allerdings habe sie in Gesprächen mit Israelis außerhalb von Israel als Rückmeldung erhalten, der Film sei "zu nett zu den Israelis" gewesen.

Dass mit Warner Bros. ein großes Unternehmen den Film in Deutschland vertreibt, freut die Filmemacherin. In den USA fand sie hingegen keinen großen Verleih und musste ein eigenes Unternehmen gründen. In anderen englischsprachigen Ländern wie Australien und Großbritannien hatte sie ähnliche Probleme. Viele Filme zum Thema Nahostkonflikt kämen in diesem Jahr in die Kinos, sagt Festivalinitiator Adwan Taleb beim Gespräch im Kinosaal. "Deutschland traut sich mehr – aber nicht auf Regierungsebene."


Cherien Dabis' Film "Im Schatten des Orangenbaums" wird für Jordanien ins Rennen um den Oscar 2026 gehen. Er kommt ab 20. November in die deutschen Kinos. Das 21. Arabische Filmfestival läuft noch bis 11. Oktober im Stuttgarter Linden-Museum und den Innenstadtkinos EM und Cinema mit Filmen aus mehreren arabischen Ländern.

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