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Frauenfilmtage Tübingen

Ein Coup aus Italien

Frauenfilmtage Tübingen: Ein Coup aus Italien
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Die Tübinger Frauenfilmtage präsentierten in diesem Jahr den italienischen Überraschungserfolg "C'è ancora domani – Morgen ist auch noch ein Tag". Der Film erlebte damit seine Deutschlandpremiere.

Er schlägt zu und das Paar beginnt zu tanzen. Es ist nicht die einzige Szene dieser Art in "C'è ancora domani", dem Film, mit dem die Tübinger Frauenfilmtage 2024 am 28. Februar eröffneten: Das Werk der italienischen Regisseurin und Schauspielerin Paola Cortellesi erzählt von Gewalt gegen Frauen, von der Ehe als ausweglos anmutender Lebensfalle, von einer reaktionären italienischen Gesellschaft – und unterläuft dies immer wieder mit aufmüpfigem Witz, einer Leichtigkeit, die der Brutalität spottet, die zu Widerstand und Selbstbestimmung aufruft.

Mit "C'è ancora domani" – "Morgen ist auch noch ein Tag" – ist den Tübinger Frauenfilmtagen ein echter Coup gelungen: In Italien ist es der erfolgreichste Film der vergangenen Jahre, wurde häufiger besucht als "Barbie" und sorgte monatelang für ausverkaufte Kinos. Die internationale Kritik ist begeistert, in Deutschland war der Film bislang nicht zu sehen. Hervorgegangen sind die Frauenfilmtage aus dem Tübinger Festival Frauenwelten. Aufgebaut hatte das Irene Jung. Die Sozialpädagogin arbeitete von 1973 an in Südamerika, Mittelamerika, der Karibik, für den Deutschen Entwicklungsdienst (DED) betreute sie schließlich Projekte, die sich vornehmlich mit der Situation von Frauen auseinandersetzten. "Eigentlich", sagt sie und lacht, "bin ich Schwäbin, Hochdeutsche und Lateinamerikanerin."

Aus dem Experiment wird ein Festival

Anfang der 1990er-Jahre kehrte die gebürtige Tübingerin in die Heimat zurück und begann, für Terre des Femmes zu arbeiten. Zum 20. Jubiläum des Vereins organisierte sie eine Frauenfilmreihe. "Das war zuerst ein Experiment, dann wurde ein langfristiges Projekt daraus und so entstand das Filmfestival Frauenwelten. Es entwickelten sich Ableger in anderen Städten wie Leipzig, Hamburg, München, Konstanz, Heidelberg und Stuttgart. Doch dauerhaft war das nicht. Lediglich Bielefeld verfügt heute noch und seit 20 Jahren über ein Frauenfilmfest, das einst von Tübingen aus angeregt wurde. Mit den französischen Filmtagen, dem Festival CineLatino und dem Cine Español gibt es in Tübingen drei weitere Filmfestivals. Die Frauenwelten entstanden mit Unterstützung der anderen Festivals, verbesserten ihre Organisation über die Jahre. Auch als Terre des Femmes 2010 ihre Geschäftsstelle nach Berlin verlegte, blieb das Filmfestival in Tübingen. "Das war völlig klar für uns. Wir sind hier sehr viel besser vernetzt und angebunden", sagt Irene Jung.

19 Jahre lang präsentierten die Tübinger Frauenwelten jährlich mehr als 30 Filme. Rund 300 Filmschaffende waren während dieser Zeit zu Gast – unter ihnen Leymah Gbowee, die 2003 mit Tausenden von Frauen dem liberianischen Präsidenten einen Friedensvertrag aufzwang: Die Frauen drohten, sich öffentlich zu entblößen. Da nach dem liberianischen Glauben Männer den Fluch ihrer Mütter auf sich ziehen, wenn eine verheiratete Frau sich vor ihnen entkleidet, wirkte die Idee. 2009 kam Leymah Gbowee nach Tübingen, 2011 erhielt sie den Friedensnobelpreis. Immer wieder zum Filmfest kam der vielfach international ausgezeichnete iranische Filmemacher Mohsen Makhmalbaf mit seiner Familie, seine Tochter Samira Makhmalbaf – ebenfalls Regisseurin – war im Jahr 2000 mit 20 Jahren die jüngste Teilnehmerin der Filmfestspiele in Cannes.

Die Gründerin muss immer wieder ran

Das Festival Frauenwelten funktionierte jahrelang ziemlich erfolgreich, doch irgendwann wollte Irene Jung in Rente gehen. Ihre Nachfolgerin hielt zwei Jahre lang durch, fand dann eine Festanstellung, die das Tübinger Filmfestival nicht bieten konnte. Also übernahm Irene Jung die Aufgabe erneut, organisierte das Festival mit kleinem Team und großem Erfolg. Mittlerweile sind die Frauenwelten nach Berlin abgewandert. Damit in Tübingen keine Lücke entstand, organisiert Irene Jung mit einem kleinen Team einen Ableger des Festivals: die Tübinger Frauenfilmtage. Zeigten sie 2020 über drei Tage sechs Filme, reichte das den Macher:innen schnell nicht mehr. Bald wurden acht Filme gespielt und in diesem Jahr waren es an fünf Tagen bereits zwölf.

Finanziert werden die Filmtage von der Stadt, dem Regierungspräsidium, über Anzeigen, Spenden und Kartenverkäufe. Das Budget ist kleiner als früher, die Organisator:innen reisen nicht mehr auf andere Festivals, um Filme zu sichten, sondern übernehmen meist Filme vom Mutterfestival in Berlin.

2024 nun hatte das kleinere Festival erstmals auch Filme im Programm, die nicht zuvor auf dem Mutterfestival zu sehen waren – vor allem "C'è ancora domani" – "Morgen ist auch noch ein Tag". Der Film verdankt seinen Sensationserfolg in Italien auch einem traurigen Umstand: Im November 2023 wurde die Studentin Giulia Cecchettin von ihrem Freund erschlagen. Er floh nach Deutschland, wurde dort gefasst. Der Femizid an der 22-Jährigen sorgte in Italien für Unruhen, es kam zu Massendemonstrationen. In den Berichten darüber, die die Festivalmacher:innen verfolgten, war immer wieder die Rede von diesem einen Film. Kontakt zur Produktionsfirma herzustellen, erwies sich als schwierig – die Verleiher sprachen weder Deutsch noch Englisch, Französisch oder Spanisch. Über Kontakte nach Italien und per Instagram gelang es schließlich doch, mit ihnen ins Gespräch zu kommen – noch ehe der Tobis-Filmverleih "C'è ancora domani" ins Programm aufnahm. "Wir haben es lange gar nicht gecheckt, dass wir die Deutschlandpremiere haben", sagt Irene Jung.

Frauen wehren sich auch mit Filmen

"C'è ancora domani" erzählt von Delia, einer Frau im amerikanisch besetzten Rom, ihrer Tochter, ihren beiden Söhnen, ihrem Mann. Der war vielleicht vor vielen Jahren einmal ein junger Charmeur – geblieben ist ein Schläger, der seine Frau fortwährend prügelt und demütigt, säuft und Prostituierte besucht. Auch der Großvater, der in einem kleinen Zimmer vor sich hin siecht, ist bösartig maskulin. Delia besorgt den Haushalt, verdient hinzu als Pflegerin, legt heimlich Geld beiseite für das Brautkleid ihrer Tochter, die sich mit dem Sohn eines Cafébesitzers verloben möchte. Ihre eigene Familie lebt auf engstem Raum in einer Hinterhofwohnung. Die Ehe der Tochter scheint vielversprechend – doch Delia nimmt an diesem Bräutigam bereits all die Gesten, Verhaltensmuster wahr, die sie von ihrem Mann her kennt.

Filmvorschau "Morgen ist auch noch ein Tag".

Wird es immer so weitergehen oder wird es Delia gelingen, auszubrechen? "C'è ancora domani" baut große Spannung auf – und löst sie ganz zuletzt in einem überraschenden Finale auf, das nicht nur Frauen Mut machen kann. Der Film spielt auf unterhaltsame, clevere und oft spöttische Weise mit den Klischees des italienischen Lebens, spielt aber auch mit Verweisen auf berühmte Vorbilder: Rossellini, De Sica, der italienische Neorealismus stehen Pate für die stilsicher gestalteten Schwarz-Weiß-Bilder, die Kameraführung, das raue, lebhafte Milieu, das gezeigt wird. Immer wieder bricht der Film dieses Pastiche durch den Einsatz von Rap und moderner Popmusik, treibt den familiären Sexismus auf die Höhe und stellt ihn bloß. Regisseurin Paola Cortellesi selbst spielt die Rolle der Delia auf beeindruckende Weise.

Veranstaltungsort der Frauenfilmtage Tübingen ist neben dem Kino Museum auch das deutsch-amerikanische Institut. Dort waren am letzten Tag des Festivals noch mehrere Filme zu sehen. "Gretas Geburt" schildert dokumentarisch den Fall einer Hebamme, die wegen Totschlags angeklagt wurde, nachdem ein Kind leblos zur Welt gekommen war. Mit dem kanadisch-kenianischen Dokumentarfilm "Koromousso Big Sister", der sich mit weiblicher Genitalverstümmelung auseinandersetzt, endete das Festival.

Wie es weitergehen wird mit den Frauenfilmtagen Tübingen ist offen. Über fünf Jahre hin ist das Festival, nach dem Abschied der Frauenwelten, bereits wieder auf seinen doppelten Umfang angewachsen. Irene Jung ist 71 Jahre alt. "Man muss schon schauen, wie weit die Kräfte noch reichen", sagt sie – aber: "Für mich ist das immer noch eine große Freude und ein großer Genuss, und ich sage nicht, dass das mein letztes Festival war."


"Morgen ist auch noch ein Tag" startet in Deutschland am 4. April 2024. Zum Internationalen Frauentag am 8. März ist der Film in einigen Kinos als Vorabpremiere zu sehen, unter anderem in Freiburg, Reutlingen, Singen und Friedrichshafen – hier eine Übersicht.

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