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Opposition in Belarus

"Das Land, von dem wir träumen"

Opposition in Belarus: "Das Land, von dem wir träumen"
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Sie spricht für die politischen Gefangenen in Belarus: beim Demokratiegipfel in den USA, vor dem Europäischen Parlament in Straßburg – und jetzt in Esslingen. Dort nahm Tatsiana Khomich den Menschenrechtspreis für ihre Schwester Maria Kalesnikava entgegen. Ein Gespräch über die Lage in Belarus, den Ukrainekrieg und über Lippenstift.

Vor zwei Jahren trafen zwei Schwestern in Belarus eine Abmachung. Die eine bleibt im Land, um bei den Wahlen für die Opposition gegen Präsident Alexander Lukaschenko anzutreten. Die andere geht ins Ausland, falls es zum Worst Case kommt: zu Wahlfälschung, Verfolgung der Opposition, zu Gefängnis. Damit ein Vater nicht zwei Töchter verliert, damit eine noch da ist, die ihre Stimme erhebt für die Schwester und für alle politischen Gefangen. Die zwei Schwestern waren Maria Kalesnikava und Tatsiana Khomich. "Und genau so kam es", sagt Tatsiana Khomich, "Worst Case".

An einem Frühlingstag im März sitzt die 35-Jährige in dem nüchternen Besprechungszimmer im Technischen Rathaus in Esslingen, am nächsten Tag wird sie für ihre Schwester reden, für die Menschenrechte in Belarus, für die mehr als 1.000 politischen Gefangenen dort, wird den Theodor-Haecker-Preis der Stadt Esslingen entgegennehmen. Vor dem Rathaus sitzen wintermüde Menschen am Neckar, drinnen wärmen die letzten Sonnenstrahlen den kargen Interviewraum. Vor wenigen Minuten erst ist Tatsiana Khomich angekommen. Schnell noch den Spiegel gezückt, knallroten Lippenstift aufgetragen, eine Farbe wie eine Kampfansage. Es kann losgehen.

Frau Khomich, Ihre Schwester Maria Kalesnikava ist seit September 2020 politische Gefangene in Belarus. Wie geht es ihr?

Vergangene Woche habe ich sie seit anderthalb Jahren zum ersten Mal wieder gesehen, konnte mit ihr über einen Videocall reden, ich war glücklich. Maria hat inzwischen dunkle Haare, sie sah gut aus und war so ungebrochen wie immer, so stark. Das waren die besten Nachrichten seit Langem. Und sie freut sich darüber, dass sie in Stuttgart nicht vergessen wird, dass sie den Friedenspreis der AnStifter bekommen hat im vergangen Jahr und jetzt den Menschenrechtspreis der Stadt Esslingen.

Wie hält Maria Kalesnikava Kontakt zu Ihnen?

Die Anwälte können sie besuchen und Nachrichten übermitteln. Bis sie verlegt wurde ins Straflager in Gomel, konnte unser Vater sie einmal im Monat besuchen, jetzt telefonieren sie. Viele Menschen schreiben Briefe, Maria antwortet, doch manche Briefe verschwinden einfach. Das war und ist ein ständiger Kampf, und man weiß nie, ob eine Antwort von Maria kommt oder nicht. Aber sie kämpft dafür, beschwert sich, fragt nach. Sie gibt nicht auf, auch nicht in diesen kleinen Dingen. Die Frauen, die mit ihr im Straflager sind, dürfen nicht mit ihr reden, Maria wird ständig von der Gefängnisverwaltung überwacht. Aber sie sehen sie so wie ich in dem Videocall, sehen, wie sie kämpft, dass sie zuversichtlich ist. Und dass sie auch im Gefängnis den Lippenstift trägt, der neben dem Herz zu ihrem Markenzeichen geworden ist. Das macht vielen Menschen Mut. Sie war einmal nur meine Schwester, nun ist sie die Schwester von vielen.

Am Internationalen Frauentag wurden vier inhaftierte Frauen begnadigt. Ist das mehr als eine Showveranstaltung von Lukaschenko?

Begnadigt heißt nicht, dass sie freigelassen wurden, es wurden allenfalls Einschränkungen gelockert. Über Details dieser Lockerungen wollten die Frauen nicht reden. Aber klar ist, sie wurden gedrängt, in einem Brief an den Präsidenten um Begnadigung zu bitten und zu schreiben, dass sie ihren Protest bereuen. Einfach so wird niemand begnadigt. Maria und ich freuen uns für die Frauen, aber wir haben beide nichts zu bereuen.

Die Frau, die nichts bereut, wurde Anfang des Jahres ins Straflager Gomel verlegt, nahe der ukrainischen Grenze. Dort hört Maria Kalesnikava die Explosionen des Krieges und hat doch niemanden, mit dem sie darüber reden kann. Alle politischen Themen sei es bei den seltenen Kontakten mit dem Vater, der Schwester, den Anwälten sind verboten, auch in den Briefen. Und doch weiß sie genau, dass der Ukrainekrieg Auswirkungen hat auf das Nachbarland Belarus. Genau dies hatte sie immer befürchtet: den Verlust der Souveränitat, und dass Belarus in einen Krieg getrieben wird.

Frau Khomich, was bedeutet der Ukrainekrieg für Sie und Ihre Arbeit?

Natürlich zieht der Ukrainekrieg derzeit alle Aufmerksamkeit auf sich. Aber wir dürfen darüber die über 1.000 politischen Gefangenen nicht vergessen, die immer noch inhaftiert sind wie meine Schwester. Als Maria vom Krieg hörte, sagte sie: "Ich bin so zornig, dass mein Land in einen Krieg gegen die geliebte Ukraine getrieben wird. Das ist nicht das, was wir wollen. Unser Ziel ist Frieden, Gerechtigkeit und Güte."

Von diesem Ziel ist Belarus weit entfernt. Am 28. Februar hat Präsident Lukaschenko in einem Referendum seine Macht ausgebaut: Er kann jetzt bis 2035 regieren und hat sich durch eine Verfassungsänderung sogar Straffreiheit zusichern lassen. Ging das völlig ohne Protest?

Nein. Viele BelarussInnen haben sich an den Wahllokalen zu spontanen Anti-Kriegs-Demonstrationen zusammengefunden. Bis zu 100.000 Menschen waren auf der Straße, wieder wurden 1.000 verhaftet. Wir dürfen nicht vergessen, dass der Krieg in der Ukraine und die politischen Gefangenen in Belarus, dass diese zwei Themen eng miteinander verknüpft sind. Lukaschenko unterstützt Putin, zieht an der Grenze Militär zusammen als Drohgebärde für die Ukraine.

Derzeit fliehen viele junge Männer aus Belarus, weil sie nicht eingezogen werden wollen, weil sie nicht an der Seite der Russen gegen die Ukraine kämpfen wollen.

Ja, wieder müssen BelarussInnen fliehen. Als die Verhaftungen nach der Wahl 2020 begannen, flohen viele AktivistInnen in die Ukraine und suchten dort Sicherheit. Nun müssen sie weiter fliehen nach Polen oder in die Slowakei. Und viele verlassen Belarus, weil sie diesen Krieg nicht wollen, viele verweigerten die Wehrpflicht und fliehen deshalb. Wir wollen diesen Krieg nicht, aber er darf kein Grund dafür sein, die politischen Gefangenen zu vergessen. Sie brauchen weiter unsere Unterstützung.

Maria Kalesnikava hat zwölf Jahre in Stuttgart gelebt. Sie spricht perfekt deutsch, studierte an der Musikhochschule alte und zeitgenössische Musik. Die 39-Jährige hat hier viele FreundInnen, mit denen sie gemeinsam an Kulturprojekten arbeitete. Das Stuttgarter Projekt InterAKT hat sie zusammen mit Viktoriia Vitrenko gegründet. Kalesnikava vertraut auf die weiche Macht der Kultur. Soft Power, ein Begriff aus der Politikwissenschaft, bedeutet, andere passiv zu überzeugen, statt sie aktiv zu zwingen. Kultur gehört zu dieser Soft Power. Auf Kultur hat die Musikerin, die ihre FreundInnen Mascha nennen, immer gesetzt.

Frau Khomich, Ihre Schwester studierte und lebte lange in Stuttgart. Sie hätte zurückkehren und hier ein bequemes Leben haben können. Warum hat sie es nicht getan?

Sie hat den Präsidentschaftskandidaten Wiktar Babaryka unterstützt. Sie unterstütze seine Ideen, hatte die gleichen Werte, die gleichen Visionen von einer demokratischen Gesellschaft. Sie arbeitete in Minsk als Kunstdirektorin eines Kulturzentrums, das in einem ehemaligen Industriegebäude untergebracht war. Sie glaubte an die Kraft der Kultur für eine Veränderung der Gesellschaft.

Das taten andere auch, doch viele sind geflohen, darunter auch die zwei Frauen, mit denen sie als Trio Lukaschenko herausforderte. Sie haben das Land verlassen, sie ist geblieben. Warum?

Als Babaryka verhaftet wurde, sprach Maria für sein Wahlteam. Viele dieses Teams wurden schon vor der Wahl verhaftet. Es waren ihre Freunde, sie wollte mit ihnen gemeinsam Belarus verändern, sie konnte sie nicht im Stich lassen. Und heute sagen ihr viele: Du bist unsere Hoffnung. Das bestärkt sie ebenso wie die Menschen, die am 28. Februar zu Tausenden protestiert haben.

Frau Khomich, nicht nur auf Maria, auch auf Sie hat die geschwisterliche Worst-Case-Abmachung Auswirkungen. Sie leben nicht mehr in Belarus, Sie arbeiten nicht mehr als IT-Expertin, sondern für die politischen Gefangenen in ihrer Heimat. Vermissen Sie Ihr altes Leben?

Ich vermisse meine Freunde, ich vermisse Maria und meine Familie in Belarus. Ich werde oft genau wie Maria gefragt, ob ich es bereue, mich dem Protest gegen Lukaschenko angeschlossen zu haben, auch Maria hat mich das schon gefragt. Und immer wieder komme ich zu dem Schluss, dass es damals eine Chance für einen Wandel gab. Ja, ich würde mich heute wieder so entscheiden. Es ist unser Kampf, unsere Anstrengung für Frieden. Der Weg ist lang und schwierig, aber es ist unser Weg.

Wie soll die Welt aussehen, wenn Sie 40 Jahre alt sind?

Belarus soll ein freies Land sein, in dem die Tausende, die ihre Heimat verlassen mussten wie ich, zurückkommen können. Zurück in das Land von dem wir träumen, in dem Menschenrechte gelten, eine Demokratie herrscht und kein Diktator, in ein Land, in dem Rechte und Respekt gelten und es keine politischen Gefangenen gibt. Ich sehe mich in in dieser neuen belarussischen Gesellschaft mit all den Menschen, die dafür gekämpft haben.

Manchmal sagen Gesten mehr als viele Worte. Als Gastgeber des Theodor-Haecker-Preises in der Württembergischen Landesbühne Esslingen beschränkte sich Intendant Marcus Grube auf wenige Worte und zitierte die drei Frauen, die gegen Lukaschenko antraten, mit drei Gesten: Die eine zeigt immer ein Victory-Zeichen, die zweite reckt die rechte Faust, die dritte formt ihre Hände zu einem Herzen. Die dritte ist Maria Kalesnikava.


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1 Kommentar verfügbar

  • Heike Schiller
    am 17.03.2022
    Antworten
    Liebe Susanne Stiefel, danke für dieses Interview, das den Blick wieder ein bisschen weitet. Vor bald zwei Jahren standen wir zusammen auf der Straße, um der Stuttgarterin Mascha Kalesnikava unsere Solidarität zu bekunden, haben vorgefertigte Postkarten an lukaschenko mit der Forderung für ihre…
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