Vor zwei Jahren trafen zwei Schwestern in Belarus eine Abmachung. Die eine bleibt im Land, um bei den Wahlen für die Opposition gegen Präsident Alexander Lukaschenko anzutreten. Die andere geht ins Ausland, falls es zum Worst Case kommt: zu Wahlfälschung, Verfolgung der Opposition, zu Gefängnis. Damit ein Vater nicht zwei Töchter verliert, damit eine noch da ist, die ihre Stimme erhebt für die Schwester und für alle politischen Gefangen. Die zwei Schwestern waren Maria Kalesnikava und Tatsiana Khomich. "Und genau so kam es", sagt Tatsiana Khomich, "Worst Case".
An einem Frühlingstag im März sitzt die 35-Jährige in dem nüchternen Besprechungszimmer im Technischen Rathaus in Esslingen, am nächsten Tag wird sie für ihre Schwester reden, für die Menschenrechte in Belarus, für die mehr als 1.000 politischen Gefangenen dort, wird den Theodor-Haecker-Preis der Stadt Esslingen entgegennehmen. Vor dem Rathaus sitzen wintermüde Menschen am Neckar, drinnen wärmen die letzten Sonnenstrahlen den kargen Interviewraum. Vor wenigen Minuten erst ist Tatsiana Khomich angekommen. Schnell noch den Spiegel gezückt, knallroten Lippenstift aufgetragen, eine Farbe wie eine Kampfansage. Es kann losgehen.
Frau Khomich, Ihre Schwester Maria Kalesnikava ist seit September 2020 politische Gefangene in Belarus. Wie geht es ihr?
Vergangene Woche habe ich sie seit anderthalb Jahren zum ersten Mal wieder gesehen, konnte mit ihr über einen Videocall reden, ich war glücklich. Maria hat inzwischen dunkle Haare, sie sah gut aus und war so ungebrochen wie immer, so stark. Das waren die besten Nachrichten seit Langem. Und sie freut sich darüber, dass sie in Stuttgart nicht vergessen wird, dass sie den Friedenspreis der AnStifter bekommen hat im vergangen Jahr und jetzt den Menschenrechtspreis der Stadt Esslingen.
Wie hält Maria Kalesnikava Kontakt zu Ihnen?
Die Anwälte können sie besuchen und Nachrichten übermitteln. Bis sie verlegt wurde ins Straflager in Gomel, konnte unser Vater sie einmal im Monat besuchen, jetzt telefonieren sie. Viele Menschen schreiben Briefe, Maria antwortet, doch manche Briefe verschwinden einfach. Das war und ist ein ständiger Kampf, und man weiß nie, ob eine Antwort von Maria kommt oder nicht. Aber sie kämpft dafür, beschwert sich, fragt nach. Sie gibt nicht auf, auch nicht in diesen kleinen Dingen. Die Frauen, die mit ihr im Straflager sind, dürfen nicht mit ihr reden, Maria wird ständig von der Gefängnisverwaltung überwacht. Aber sie sehen sie so wie ich in dem Videocall, sehen, wie sie kämpft, dass sie zuversichtlich ist. Und dass sie auch im Gefängnis den Lippenstift trägt, der neben dem Herz zu ihrem Markenzeichen geworden ist. Das macht vielen Menschen Mut. Sie war einmal nur meine Schwester, nun ist sie die Schwester von vielen.
Am Internationalen Frauentag wurden vier inhaftierte Frauen begnadigt. Ist das mehr als eine Showveranstaltung von Lukaschenko?
Begnadigt heißt nicht, dass sie freigelassen wurden, es wurden allenfalls Einschränkungen gelockert. Über Details dieser Lockerungen wollten die Frauen nicht reden. Aber klar ist, sie wurden gedrängt, in einem Brief an den Präsidenten um Begnadigung zu bitten und zu schreiben, dass sie ihren Protest bereuen. Einfach so wird niemand begnadigt. Maria und ich freuen uns für die Frauen, aber wir haben beide nichts zu bereuen.
Die Frau, die nichts bereut, wurde Anfang des Jahres ins Straflager Gomel verlegt, nahe der ukrainischen Grenze. Dort hört Maria Kalesnikava die Explosionen des Krieges und hat doch niemanden, mit dem sie darüber reden kann. Alle politischen Themen sei es bei den seltenen Kontakten mit dem Vater, der Schwester, den Anwälten sind verboten, auch in den Briefen. Und doch weiß sie genau, dass der Ukrainekrieg Auswirkungen hat auf das Nachbarland Belarus. Genau dies hatte sie immer befürchtet: den Verlust der Souveränitat, und dass Belarus in einen Krieg getrieben wird.
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Heike Schiller
am 17.03.2022