Gehen Sie mit der Psychiatrie nicht zu hart ins Gericht?
Michalski: Das sind meine persönlichen Erfahrungen. Es sollte wieder der Soteria-Gedanke in die Psychiatrie einfließen: wohnliche Atmosphäre und vertrauensvolle Beziehungen, Einbeziehung der Angehörigen, Unterstützung durch die therapeutische Gemeinschaft – und das alles mit möglichst geringer Medikation.
Und wie ist Ihr Blick auf die Psychiatrie, Herr Rahman?
Rahmann: Meiner Erfahrung nach ist Psychiatrie leider oft ein Ort, an dem man wenig ernst genommen wird, sobald eine Diagnose im Raum steht. Zudem wird an den Einrichtungen gespart. Es ist belegbar, dass Krankenhäuser mit weniger Personal mehr Zwangsmaßnahmen durchführen, wie das Versorgungsbarometer Psychiatrie von Verdi beispielsweise 2019 zeigte.
Klingt abschreckend.
Rahmann: Wir leben in einer Gesellschaft, in der es kranken Menschen in therapeutischen Einrichtungen nicht zu gut gehen darf. Wichtiger ist, dass sie sich rasch wieder in die Lohnarbeit begeben. Wäre die Psychiatrie ein Ort, an dem es Menschen gut ginge, und der keine Abschreckungsfunktion hätte, dann wären mehr Betroffene bereit, sich klinisch behandeln zu lassen.
Wie sieht Ihre Vision für die Zukunft aus?
Rahmann: Dass die Mad-Pride-Bewegung wächst und gesellschaftlich Druck macht. Etwa um eine stärkere Sichtbarkeit und Einbindung von Psychiatrieerfahrenen in therapeutische Konzepte durchzusetzen. Sie sollten darin als Experten aus Erfahrung auch Kontroll- und Entscheidungsbefugnis haben – wie beim Berliner "Weglaufhaus". Das ist eine Zuflucht für Menschen, die Psychiatrisierung ablehnen und sich einen selbstbestimmten Umgang mit ihren Krisen wünschen.
Michalski: Wir müssen Hürden abbauen, anstatt Misstrauen zu schüren. Eine Forderung, wie die vom Generalsekretär der CDU Carsten Linnemann, Register für psychisch kranke Straftäter anzulegen, ist undemokratisch und gefährlich. Ich halte es mit der Autorin und Bildhauerin Dorothea Buck, die in der NS-Diktatur zwangssterilisiert wurde und sich ab den 1960er-Jahren stark in der Bewegung Psychiatrie-Erfahrener engagiert hat. Es war ihre Überzeugung, dass man nicht über, sondern stets mit den Betroffenen sprechen soll. Das gilt es zu kultivieren.
Die Mad Pride Parade Stuttgart startet am Samstag, den 11. Oktober um 13.30 Uhr in der Lautenschlagerstraße. Abschluss ist ab 15.15 Uhr auf dem Marktplatz mit Reden und Live-Musik. Um 16.30 Uhr geht es in der CVJM-Halle (Büchsenstraße 37) weiter mit Musik, Theater und einer Podiumdiskussion. Thema: "Tragen Medien aktuell zur Diskriminierung von Menschen mit psychischer Erkrankung bei?" Dabei sind die Journalistinnen Lea de Gregorio, Nina Ayerle sowie der Autor Cordt Winkler.
Transparenzhinweis: Thomas Rahmann hat vor fünf Jahren ein Praktikum bei Kontext gemacht und schrieb anschließend als freier Autor für Kontext.
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