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Mad Pride Day in Stuttgart

Mehr Selbstbestimmung und Anerkennung

Mad Pride Day in Stuttgart: Mehr Selbstbestimmung und Anerkennung
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Wer schon mal psychisch erkrankt war, kennt die Hürden, die sich deswegen im Leben auftun können. Der erste Mad Pride Day in Stuttgart soll darauf aufmerksam machen. Die Bedingungen in Psychiatrien müssen sich dringend ändern, sagen Sybille Michalski und Thomas Rahmann vom Landesverband Psychiatrie-Erfahrener, der den Aktionstag organisiert.

Der Mad Pride Day kommt nach Stuttgart. Was bedeutet dieser Tag für Sie, Frau Michalski, Herr Rahmann?

Michalski: Endlich aufstehen und für die Rechte psychisch Kranker auf die Straße gehen zu können! Mobbing gegenüber psychisch Erkrankten fängt bereits in der Schule an und setzt sich in Ausbildung und Beruf fort. Ich hoffe, dass die mediale Aufmerksamkeit ein gesellschaftlicher Weckruf wird, um zu zeigen, dass psychische Krankheit zum Menschen dazugehört.

Rahmann: Mad Pride Days gab es bislang nur im Ruhrgebiet und in Norddeutschland. Insofern ist es ein starkes Zeichen, dass die Mad Pride Parade nun auch in Stuttgart ankommt, dem Thema psychische Erkrankung Sichtbarkeit verleiht und Gelegenheit zu Vernetzung und Begegnung bietet.

"Mad Pride", "verrückter Stolz" – das klingt provokant. Was steckt dahinter und welche Botschaft wollen Sie senden?

Rahmann: "Mad Pride" ist eine globale Bewegung, die 1993 in Toronto entstanden ist. Bei meinen Infoveranstaltungen schlage ich vor, "pride" nicht nur mit Stolz, sondern mit Selbstbewusstsein zu übersetzen. Denn das Selbstbewusstsein vieler Betroffener ist gering aufgrund von Stigmatisierung und Diskriminierung. Sich das Selbstbewusstsein wieder zurückzuholen, ist für mich Kern des Mad Pride Days.

Sie betonen, dass es beim Mad Pride Day nicht nur um Protest, sondern auch um Feiern und Vielfalt geht. Wie verbinden sie beides?

Rahmann: Es wird bei der Parade einen "ruhigeren Bereich" geben. Ebenso einen Bereich, in dem darum gebeten wird, nicht zu fotografieren. Dazu stellen sich kreative Aktionen, die aber nicht laut sein müssen. Einige Teilnehmende wollen Pflanzensetzlinge verteilen – das ist bunt, aber leise. Der Mad Pride Day soll eine Plattform sein, an der Menschen kreativ andocken und etwas von sich einbringen können.

Sie haben bereits die Diskriminierung psychisch Erkrankter angesprochen. Können Sie konkrete Beispiele schildern?

Michalski: Ich war aufgrund einer psychischen Erkrankung sieben Jahre in einem Heim. Daher fehlt mir die lückenlose Vita, die in unserer Leistungsgesellschaft erwartet wird. Als ich mich bei einem großen Stuttgarter Arbeitgeber beworben und meine Schwerbehinderung samt Diagnose angegeben habe, kam weder eine Rückmeldung noch habe ich meine Unterlagen zurückerhalten.

Wie schätzen Sie Ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt ein?

Michalski: Das Jobcenter meinte, es gebe keine Chance, mich auf dem Arbeitsmarkt unterzubringen – weil mein Psychiater mich dauerhaft krankgeschrieben hatte. Aber ich habe mich selbst am Schopf gepackt und mich im Ehrenamt engagiert. Dort bin ich unter Gleichgesinnten, die ein großes Herz füreinander haben.

Haben Sie ähnliche Erfahrungen gemacht, Herr Rahmann?

Rahmann: Wegen einer psychischen Krise habe ich knapp acht Jahre Lücke im Lebenslauf. Nach der Krise habe ich mein Studium wieder aufnehmen und abschließen können. In einem Coaching wurde mir nahegelegt, bei Bewerbungen die Formulierung zu verwenden, "nach langer Krankheitsphase wieder voll einsatzfähig" zu sein.

Thomas Rahmann, 36, ist Journalist und Autor von sowohl wissenschaftlichen Beiträgen als auch Lyrik und Prosa. Als derzeitiger Mitarbeiter des Landesverbands Psychiatrie-Erfahrener Baden-Württemberg hielt er seit Februar 26 Info-Vorträge in Tagesstätten, Psychiatrien und sozialen Zentren zum Mad Pride Day und moderiert die Sendung "Mad Pride Talk", die über Freie Radios und auf Podcastplattformen läuft.

Sybille Michalski, 61, ist gelernte Einzelhandelskauffrau, arbeitete als Disponentin in der Logistik und war wegen ihrer psychischen Erkrankungen – Schizophrenie, Borderline, Depressionen und posttraumtische Belastungsstörung – jahrelang in einem Pflegeheim untergebracht. Seit mehreren Jahren engagiert sie sich für eine bessere Psychiatrie, unter anderem ist sie im Vorstand des Landesverbands Psychiatrie-Erfahrener sowie Vorsitzende der Stuttgarter Initiative, im Vorstand des Stuttgarter Treffpunkts Süd und sachkundige Einwohnerin im Stuttgarter Beirat für Menschen mit Behinderung. Heute ist sie äußerst stabil und lebt in einer Zweier-Frauen-WG.  (lee)

Wie ging es Ihnen mit diesem Rat?

Rahmann: Es ist schon ein Unterschied, ob man eine überstandene schwere körperliche Krankheit hatte oder eine schwere psychische Krise. Die Formulierung hat mir gezeigt: im Arbeitsumfeld muss man so tun, als gebe es da keinen Unterschied, und spricht bloß nicht über psychische Krisen. Zudem ist es ein enormer Druck, so zu tun, als dürfe niemals wieder eine Krankheit oder Krise auftreten, als sei die Heilung abgeschlossen und werde nie wieder eine Rolle spielen in der "vollen Einsatzfähigkeit". Schön war es im Gegensatz dazu, als ich mich beim Landesverband Psychiatrie-Erfahrener beworben habe und meine eigenen Krisenerfahrung als Kompetenz anführen konnte. Das tat sehr gut. Denn Menschen, die Krisen durchgestanden haben, machen oft wertvolle Erfahrungen, lernen sich selbst und die eigenen Grenzen dabei gut kennen und entwickeln ein Gespür für Stimmungen und Spannungen in ihrer Umwelt.

Und dieses spezifische Wissen teilen Sie als Verband ja bereits mit. Sie bieten zum Beispiel Schulungen für Polizisten an.

Michalski: Das haben wir gemacht. Mittlerweile hat das Zentralinstitut für seelische Gesundheit in Mannheim die Arbeit übernommen und arbeitet mit den von uns erarbeiteten Materialien.

Das Schulungsangebot hat einen tragischen Hintergrund. Am 2. Mai 2022 ist Ante P. auf dem Mannheimer Marktplatz durch einen Polizeieinsatz gestorben. Er befand sich in einer akuten psychischen Krise.

Rahmann: Leider kein Einzelfall. Nach Schätzungen des Kriminologen Thomas Feltes befinden sich 75 Prozent der Menschen, die in Deutschland während eines Polizeieinsatzes zu Tode kommen, zum Zeitpunkt des Eingriffs in einer psychischen Ausnahmesituation.

Was müsste sich ändern?

Michalski: Polizeibeamte sollten die Mental Health First Aid Ausbildung absolvieren – eine Ausbildung zum Ersthelfer für psychische Ausnahmesituationen. In der lernen sie die Diagnosen der psychischen Erkrankungen kennen und wie man damit umgeht. So verstehen sie besser, was eine Angststörung oder Psychose für den Patienten bedeutet. Zudem lernen sie, wie sie deeskalierend einwirken können. Bei einem in eine Psychose geratenen Patienten zum Besipiel sollte man beruhigend auf ihn einreden, nicht gleich mit der Pistole auf ihn zielen – außer natürlich wenn der Polizist bedroht wird.

Wo sehen Sie weitere Lücken und Bedarfe in der psychiatrischen Versorgung?

Michalski: Das System muss grundlegend reformiert werden. Man kommt in die Psychiatrie, sitzt einem Arzt gegenüber, der nicht mit einem spricht, sondern mit Informationen zuschüttet, die man gar nicht aufnehmen kann. Medikamente werden überdosiert verabreicht, Behandlungspläne über den Kopf der Patienten erstellt. Viele Patienten geraten in einen Drehtür-Effekt, müssen also kurz nach der Einlassung bereits wieder stationär behandelt werden.

Gehen Sie mit der Psychiatrie nicht zu hart ins Gericht?

Michalski: Das sind meine persönlichen Erfahrungen. Es sollte wieder der Soteria-Gedanke in die Psychiatrie einfließen: wohnliche Atmosphäre und vertrauensvolle Beziehungen, Einbeziehung der Angehörigen, Unterstützung durch die therapeutische Gemeinschaft – und das alles mit möglichst geringer Medikation.

Und wie ist Ihr Blick auf die Psychiatrie, Herr Rahman? 

Rahmann: Meiner Erfahrung nach ist Psychiatrie leider oft ein Ort, an dem man wenig ernst genommen wird, sobald eine Diagnose im Raum steht. Zudem wird an den Einrichtungen gespart. Es ist belegbar, dass Krankenhäuser mit weniger Personal mehr Zwangsmaßnahmen durchführen, wie das Versorgungsbarometer Psychiatrie von Verdi beispielsweise 2019 zeigte. 

Klingt abschreckend.

Rahmann: Wir leben in einer Gesellschaft, in der es kranken Menschen in therapeutischen Einrichtungen nicht zu gut gehen darf. Wichtiger ist, dass sie sich rasch wieder in die Lohnarbeit begeben. Wäre die Psychiatrie ein Ort, an dem es Menschen gut ginge, und der keine Abschreckungsfunktion hätte, dann wären mehr Betroffene bereit, sich klinisch behandeln zu lassen.

Wie sieht Ihre Vision für die Zukunft aus?

Rahmann: Dass die Mad-Pride-Bewegung wächst und gesellschaftlich Druck macht. Etwa um eine stärkere Sichtbarkeit und Einbindung von Psychiatrieerfahrenen in therapeutische Konzepte durchzusetzen. Sie sollten darin als Experten aus Erfahrung auch Kontroll- und Entscheidungsbefugnis haben – wie beim Berliner "Weglaufhaus". Das ist eine Zuflucht für Menschen, die Psychiatrisierung ablehnen und sich einen selbstbestimmten Umgang mit ihren Krisen wünschen.

Michalski: Wir müssen Hürden abbauen, anstatt Misstrauen zu schüren. Eine Forderung, wie die vom Generalsekretär der CDU Carsten Linnemann, Register für psychisch kranke Straftäter anzulegen, ist undemokratisch und gefährlich. Ich halte es mit der Autorin und Bildhauerin Dorothea Buck, die in der NS-Diktatur zwangssterilisiert wurde und sich ab den 1960er-Jahren stark in der Bewegung Psychiatrie-Erfahrener engagiert hat. Es war ihre Überzeugung, dass man nicht über, sondern stets mit den Betroffenen sprechen soll. Das gilt es zu kultivieren.


Die Mad Pride Parade Stuttgart startet am Samstag, den 11. Oktober um 13.30 Uhr in der Lautenschlagerstraße. Abschluss ist ab 15.15 Uhr auf dem Marktplatz mit Reden und Live-Musik. Um 16.30 Uhr geht es in der CVJM-Halle (Büchsenstraße 37) weiter mit Musik, Theater und einer Podiumdiskussion. Thema: "Tragen Medien aktuell zur Diskriminierung von Menschen mit psychischer Erkrankung bei?" Dabei sind die Journalistinnen Lea de Gregorio, Nina Ayerle sowie der Autor Cordt Winkler. 

Transparenzhinweis: Thomas Rahmann hat vor fünf Jahren ein Praktikum bei Kontext gemacht und schrieb anschließend als freier Autor für Kontext.

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