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Psychiatrie und Zwang

Helfen oder Kosten sparen?

Psychiatrie und Zwang: Helfen oder Kosten sparen?
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Sollen psychisch kranke Menschen per Gesetz zu einer Behandlung gezwungen werden können? Eine solche "ambulante Behandlungsweisung" führe zu mehr Sicherheit, sagen Befürworter:innen. Gegner:innen sprachen auf einer Tagung in Zwiefalten von der Gefahr einer Ruhigstellung. Und die Politik hat ganz andere Interessen.

Es sei eine "Idee, die in Fachkreisen immer wiederkehrt", sagte Gerhard Längle, Regionaldirektor Alb-Neckar des Zentrums für Psychiatrie (ZfP) Südwürttemberg, während einer Tagung in Zwiefalten, die sich rund um das Thema ambulante Behandlungsweisung drehte. Damit könnten Psychiater:innen die Patient:innen, von denen sie glauben, dass diese straffällig werden könnten, auch ambulant zu einer Behandlung verpflichten. Verankert werden könnte dies im Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz (PsychKHG).

Befürworter:innen stellen die ambulante Behandlungsweisung als mildes Mittel dar, mit dem gezielt jene wenigen getroffen werden sollen, die ansonsten straffällig würden. Gegner:innen sehen darin lediglich eine Senkung der "formalrechtlichen Hürden zur Ausübung zum Zwang", wie es in Infoblättern des Bundesverbands Psychiatrie-Erfahrener zu lesen ist: "Das Wort Behandlungsweisung bedeutet Behandlungserzwingung." Der Verband protestierte denn auch auf der Tagung gegen die Pläne.

UN-Berichterstatter sprechen von Folter

Bereits 2017 wurde im Bürgerlichen Gesetzbuch geregelt, dass eine Zwangsbehandlung als letztes Mittel ausschließlich im stationären Setting möglich ist. Doch schon die bestehenden Gesetze in Deutschland zu psychiatrischer Zwangsbehandlung sind rechtlich umstritten. Manfred Nowak, Sonderberichterstatter über Folter des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte, hat in der 63. Tagung der UN-Generalversammlung vor 15 Jahren Zwangsbehandlung in der Psychiatrie zu einer Form grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung beziehungsweise zu Folter erklärt. 2013 schrieb der UN-Sonderberichterstatter über Folter, Juan Ernesto Mendéz: Der "Mandatsträger ebenso wie auch die Vertragsorgane der Vereinten Nationen haben befunden, dass in Gesundheitseinrichtungen stattfindende unfreiwillige Behandlung und sonstige psychiatrische Eingriffe Formen der Folter und Misshandlung darstellen".  (rah)

Wenn Psychiater:innen annehmen, dass eine unmittelbare Selbst- oder Fremdgefährdung bei einer Person vorliegt, ermöglicht das PsychKHG bereits den Einsatz von Zwangsmaßnahmen wie Freiheitsentzug, Fixierungen und Zwangsmedikation. In der ambulanten Behandlungsweisung aber soll es um Möglichkeiten für Psychiater:innen gehen, ehemalige Patient:innen, die zu Hause leben, zu einer Behandlung zu verpflichten und beispielsweise Medikamente zu nehmen.

Befürworter:innen führen an, dass die ambulante Behandlungsweisung nur sehr wenige Menschen treffen soll. "Es geht um eine ganz kleine Gruppe, bei der es immer wieder zu Eskalationen kommt", sagt Längle im Gespräch mit Kontext. Ralf Aßfalg, Pflegedirektor der Psychiatrie Zwiefalten, spricht sogar davon, es seien "keine acht bis zehn Personen", denen er in den 43 Jahren, die er in der Psychiatrie arbeitet, begegnet sei und bei denen er eine ambulante Behandlungsweisung sinnvoll gefunden hätte.

Wenn das Gesetz so wenige Menschen betreffe, warum eröffne man einen gesetzlichen Raum, der für so viele Menschen potenziell verhängnisvoll sein könne, fragt eine Frau im Publikum auf der Tagung in Zwiefalten, die Erfahrung als Psychiatriepatientin hat.

Frau X: ein Teil der "ganz kleinen Gruppe"

Einen Fall, bei dem in ihren Augen eine ambulante Behandlungsweisung sinnvoll gewesen wäre, präsentierten zwei Vertreter der Psychiatrie auf der Tagung. "Frau X" sei durch "sich zuspitzendes, herausforderndes Verhalten" immer mehr aufgefallen, berichtete Ralf Aßfalg. Sie habe "mit Tassen und Tellern geschmissen", sich in einer Metzgerei nackt ausgezogen, habe sich in das Bett einer fremden Privatwohnung gelegt, wo gerade die Türe offen stand, und sei nicht mehr herausgekommen. Sie habe in einer Bäckerei andere Kunden mit einem Messer bedroht, eine Mitpatientin auf der Klinikstation mit einem stumpfen Messer attackiert, einer anderen Haare ausgerissen. Ihre Wahrnehmung und ihr Verhalten habe Frau X "nicht als Krankheit erlebt" – im Gegenteil. Sie sei jemand, die das "Leben im Krankheitsgeschehen schätzte" und habe "eher andere in Mitleidenschaft gezogen". Es habe umfängliche Bemühungen gegeben, "Frau X" psychiatrisch zu behandeln. Die mittlerweile 57-jährige "Frau X" sei dennoch schließlich in einer forensischen Klinik untergebracht worden und "wird voraussichtlich langfristig dort leben müssen", sagt Hubertus Friederich, Ärztlicher Direktor der Psychiatrie Zwiefalten.

Forensik als Worst Case

In forensische Kliniken werden für nicht schuldfähig anerkannte Straffällige im Rahmen des Maßregelvollzugs eingewiesen. Während Gefangene in Justizvollzugsanstalten die Zeit absitzen müssen, die ihr jeweiliges Urteil ergeben hat, ist der Aufenthalt in forensischen Kliniken zeitlich unbegrenzt und hängt unter anderem von psychiatrischen Gutachten ab.  (rah)

Carina Kebbel vom Landesverband Psychiatrie-Erfahrener Baden-Württemberg befand auf der Tagung, das Problem seien nicht "Systemsprenger:innen" wie "Frau X", die nicht mit dem Angebot erreicht werden können, "welches die Psychiatrie gegenwärtig bereithält". Sie meint, es gehe vielmehr um ein System, "das sich mit der Begrenztheit seiner eigenen Wirksamkeit auseinandersetzen muss". Wenn es das "bequeme und rechtlich abgesicherte Mittel" der kostengünstigeren ambulanten Behandlungsweisung gebe, wer stelle dann sicher, dass sich "mit diesen besonderen Menschen, die einfach nicht so recht in den von der Gesellschaft definierten Rahmen passen wollen, noch tatsächlich befasst und ihnen wirkliche und angemessene Unterstützung zur Verfügung gestellt wird?"

Dass es in der Debatte tatsächlich besonders um Kosten geht und weniger um Hilfen, zeigte auf der Tagung die Videobotschaft von Baden-Württembergs Gesundheitsminister Manfred Lucha (Grüne). "Bundesweit steigt die Einweisung in forensische Kliniken erheblich an", führte er aus. Derzeit sind rund 12.000 Menschen in Deutschland in forensischen Kliniken untergebracht, schreibt die "Frankfurter Rundschau" Anfang dieses Jahres. 2018 waren es laut Statistischem Bundesamt halb so viele. Während mittelschwere Kriminalität wie Brandstiftung oder Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte gesamtgesellschaftlich abnehme, steigt in diesem Strafmaß die Rate jener, die vor Gericht für nicht schuldfähig erklärt werden und damit in forensischen Kliniken landen.

Für die Zeit nach der Entlassung von Menschen aus forensischen Kliniken gebe es bereits eine gesetzliche Regelung, sie die ersten Jahre zu einer psychiatrischen Anschlussbehandlung zu zwingen. Wenn sie gegen die Regelung verstoßen, könne dies sogar selbst einen Straftatbestand darstellen, sagt Udo Frank, Leiter des Zentralbereichs Maßregelvollzug des ZfP Südwürttemberg. Dafür brauche es also keine neue Regelung. Die ambulante Behandlungsweisung soll offenbar ein großes Problem lösen: die Überbelegung und Unterfinanzierung forensischer Kliniken. Wer im Verdacht steht, kriminell werden zu können und deshalb verpflichtet wird, daheim Medikamente zu nehmen, kostet deutlich weniger als ein:e tatsächlich Verurteilte:r in der Forensik.

Ein weiteres Argument der Befürworter:innen der ambulanten Behandlungsweisung betrifft wiederum das Problem von Überbelegung. Allerdings von einer anderen Institution: den psychiatrischen Kliniken. Es wird gehofft, dass die ambulante Behandlungsweisung den sogenannten "Drehtüreffekt" in Psychiatrien verhindert – also, dass Menschen immer wieder in psychiatrischen Kliniken landen. "30 Prozent der Patienten kommen immer wieder in die Psychiatrie", sagt Längle, einige von ihnen auch mit der Polizei.

Die Studienlage, inwieweit ambulante Behandlungsweisungen Drehtüreffekt und Einweisungen in den Maßregelvollzug verhindern könnten, ist allerdings dürftig. In vielen Staaten gibt es bereits eine Art von ambulanter Behandlungsweisung, deren dokumentierte Ergebnisse fallen allerdings nicht eindeutig positiv aus. Shrank Derenbach hat klinische Psychologie studiert und tätigt für den Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener nach eigener Aussage "im Monat circa hundert Beratungen". Derenbach sagt: "Wenn man etwas zwangsweise macht, dann muss es sich erst recht am Maßstab der evidenzbasierten Medizin messen", und hält es für wichtig, auch soziale Aspekte zu beleuchten. In Australien beispielsweise betreffe die ambulante Behandlungsweisung häufiger Migrant:innen. Zudem gebe es zur Frage potenzieller schädlicher Wirkungen von ambulanten Behandlungsweisungen keine Daten, so Derenbach.

Baden-Württemberg als Vorreiter

Wenn der Impuls zu einem Gesetz heranwachse, wäre Baden-Württemberg das erste Bundesland in Deutschland, das das PsychKHG auf diese Weise ausweitet. Das Ministerium für Soziales, Gesundheit und Integration habe bisher "keine eindeutige Meinung" zum Thema, sagt die leitende Ministerialrätin Christina Rebmann bei ihrem Beitrag auf der Tagung. Eine Grundsatzentscheidung stehe noch aus, sagt ein Pressesprecher des Ministeriums auf Kontext-Anfrage.

Es sei unter anderem noch nicht klar, ob die ambulante Behandlungsweisung mit dem Verfassungsrecht vereinbar sei. Die Grundlage für eine Gesetzesänderung müsse gegebenenfalls in "einem breiten Beteiligungsprozess" und mit weiteren Expert:innen gelegt werden.

Im Landtag tun sich bisher besonders die Grünen hervor. Deren Sprecher für Gesundheitswirtschaft, Norbert Knopf, sprach sich auf der Tagung für die Behandlungsweisung aus. Ihm sei es allerdings wichtig, im Gespräch zu bleiben, denn einige Punkte seien noch nicht abschließend geklärt, sagt er auf Kontext-Anfrage. Auch der gesundheitspolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Florian Wahl, befindet, ambulante Behandlungsanweisungen wären eine wichtige Ergänzung zu den bestehenden Instrumenten der psychiatrischen Behandlung. "Wir fordern den Sozialminister auf, den bundesrechtlichen Rahmen durch das Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz voll auszuschöpfen." Die Landes-FDP habe sich noch nicht mit dem Thema beschäftigt, erklärt sie, und die CDU antwortete nicht auf die Anfrage.

Lediglich die baden-württembergische Linke ist klar gegen eine ambulante Behandlungsweisung und klar für die Reduzierung von Zwang in Psychiatrien: "Jede Änderung des PsychKHG muss sich daher daran messen lassen, inwiefern die Häufigkeit oder die Eingriffstiefe von heute praktiziertem Zwang dadurch deutlich reduziert werden kann", sagt Landessprecherin Sahra Mirow. "Wir sehen die Gefahr, dass eine ambulante Zwangsbehandlung nur zu einer Art kostensparender medikamentöser Ruhigstellung zu Hause wird, die weitere Bemühungen erübrigt, den Patient:innen ein möglichst lebenswertes und selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen."


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