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Lankum in Schorndorf

Folksound der Postapokalypse

Lankum in Schorndorf: Folksound der Postapokalypse
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Lankum aus Dublin verbinden traditionelle irische Musik mit Post Punk, Noise und Drone. Sie ebneten den Weg für eine neue Generation an Folk-Musiker:innen und beginnen ihre Deutschland-Tour in der Schorndorfer Manufaktur.

"The Wild Rover" ist eines der bekanntesten irischen Volkslieder. Es erzählt von einem bekehrten Trinker. Die Liste seiner Interpreten ist lang; ganz oben stehen The Dubliners, The Pogues. Aber so wie auf "The Livelong Day", dem zweiten Album von Lankum, hörte man dieses Lied noch nie. Die schwungvolle alte Weise scheint geradezu erstarrt zu einer Skulptur, um die herum die Stimme der Sängerin Radie Peat mit zitterndem Timbre ihre Kreise zieht. Männerstimmen fallen ein, Instrumente kommen hinzu, der Klangraum weitet sich, die Musik gewinnt an Wucht, scheint diese plötzlich so wehmütige Melodie geradezu aufzusaugen. Alle Fröhlichkeit fällt hinein in einen Mahlstrom von schwermütig hypnotischer Schönheit. Mit dem nächsten Lied dann kehrt Ruhe ein – und größere Trauer noch: "When the young People dance, they do not dance forever", singt die Gruppe nun gemeinsam. Der Song erzählt von einem, der nicht mehr tanzt.

"The Livelong Day" erschien im Herbst 2019, wenige Monate ehe die Welt in Corona versank. "False Lankum", das Nachfolgealbum, wurde im Frühjahr 2023 veröffentlicht und zählt für das britische Label Rough Trade zu den wichtigsten Neuerscheinungen des Jahres. Lankum haben einer Reihe sehr unterschiedlicher irischer Künstler zu größerer Aufmerksamkeit verholfen. Nun tourt die Band aus Dublin zum ersten Mal durch Deutschland, und das erste Konzert dieser Tour findet statt in der Manufaktur Schorndorf.

Lankum spielen selten eigene Stücke, bei den meisten Songs der Band handelt es sich um Traditionals. Aus Irland müssen sie nicht stammen – "Dig my Grave", die Single des neuen Albums beispielsweise, ist ein Stück, dessen Ursprung in den Appalachen liegt, einem Waldgebiet im Osten der USA. Bekannt gemacht wurde der Song durch die US-Sängerin Jean Ritchie, die 2015 verstarb und großen Einfluss vor allem auf amerikanische Songwriter wie Bob Dylan, Joni Mitchell, Joan Baez hatte.

"Wir interessieren uns nicht nur für Musik, die aus unserer Heimat stammt", sagt Radie Peat im Interview mit Kontext. "Oft gibt es Verbindungen zwischen den alten Songs”, fügt Daragh Lynch hinzu. "Sie sind gereist, sie haben sich entwickelt, während sie von einem Ort zum anderen gewandert sind." Auf "Between the Earth and the Sky", dem ersten Album, das die Band unter dem Namen Lankum veröffentlichte, findet sich auch ein Stück, das in Deutschland entstand, im Konzentrationslager Börgermoor: "Peat Bog Soldiers" heißt das Lied der Moorsoldaten auf Englisch. Lankum lernten es von Swan Arcade, einer Gesangsgruppe des britischen Folk.

Lankum geben auf ihren Alben an, welchen Song sie auf welche Weise kennenlernten, bei welchem Musiker, in welcher Aufnahme zuerst hörten. Das entspricht – nicht nur in Irland – ganz den Gepflogenheiten der Folkmusiker:innen, die reisen, sich begegnen, voneinander lernen. Ian Lynch, Daraghs Bruder, unterhält mit "Fire Draw Near" einen monatlichen Podcast, in dem er historische Aufnahmen vorstellt, die Songs und ihre Hintergründe diskutiert.

Ungewohnt, düster und irisch

Aber Lankum interpretieren diese Stücke auf ihre ganz eigene Weise – in einem Sound, der seine Wurzeln in Punk, Post Punk, Noise hat. Sie spielen die Tin Whistle, die Uilleann Pipes, die englische Konzertina, Fiddle, Banjo, Harfe, Mellotron, Hammondorgel, natürlich Gitarre, Percussion, Piano – ein Instrumentarium, das der Tradition gehört, aber eine Musik aufsteigen lässt, die mit jener von Bands wie Swans oder Sunn O))) verglichen wurde: eine dunkle, schwirrende Wand, aus der die Jigs und Reels des Irish Folk hervorbrechen wie kleine Strudel und dann aufgesogen werden von der nächsten Welle, auf der irgendwann eine Melodie zu tanzen beginnt, schlicht und schön und klar, in einem schwebenden Ton, wie sie sich auf Brian Enos Album "Another Green World" finden könnte.

Die Konsequenz, mit der Lankum ihre Folksongs interpretieren, macht Eindruck – auch auf Geoff Travis, den Gründer von Rough Trade Records. 2019, als Lankum mit "The Livelong Day" ihren Durchbruch hatten, gründete Travis gemeinsam mit Jeannette Lee, der Mitinhaberin von Rough Trade, das Sublabel River Lea Recordings. Auf ihm erscheinen seither handverlesene Künstler:innen der neuen irischen, schottischen, britischen Szene – das Dubliner Folk-Duo Ye Vagabonds, die Songwriterin Lisa O'Neill, der Multiinstrumentalist John Francis Flynn und Brìghde Chaimbeul, die den schottischen Dudelsack spielt. Zuständig für die Auswahl ist der Musikjournalist Tim Chipping. "Lankum", sagt er in einem Gespräch mit dem britischen Magazin Folk Radio, "haben alles verändert, ihre Herangehensweise an die Musik hat viele Möglichkeiten eröffnet. Manchmal muss eine Band den Weg frei machen für andere."

Die Musikszene Irlands ist überschaubar. "Do it yourself spielt noch eine große Rolle", sagt Radie Peat, "und ob man nun experimentelle Musik macht, Songwriting, Punk, Folk oder Indie, ist nicht wichtig. Wichtiger ist das Ethos der Musiker. Sie spielen ihre Gigs in kleinen Clubs und verdienen dabei oft nicht genug Geld, um ihre Miete zu bezahlen. Für sie ist die Musik eine Lebensaufgabe. Die Musikindustrie ist eine Million Meilen entfernt von ihnen."

Lankum selbst entwickelten ihren Sound auf diese Weise: "Oft haben wir nur lange mit den Klängen herumgespielt und hatten zuletzt nur 30 Sekunden, die gut waren", sagt Radie Peat. Auf "False Lankum" sind die Texturen der Musik vielschichtiger geworden, kontrastreicher. Radie Peats Stimme schwebt mit ihrer spröden, zerbrechlichen Schönheit über ihnen – und tief unten öffnen sich schwere, atmende Abgründe, ziehen Bässe langsam wie Gletscher vorbei.

Lankum ist ein böser Geist

Am 25. April 2023 gaben Lankum ein einzelnes Konzert in Berlin, im "Silent Green", dem früheren Krematorium im Wedding, heute Kulturquartier – ein Umstand, der den finsteren Iren gut gefiel. Es war das erste Mal, dass sie ihr neues Album vollständig spielten. Das kam gut an – bei einem Publikum, zu dem so viele Fans von Folk wie von Metal oder Doom gehören. Im August 2020 spielten Lankum im ehrwürdigen Abbey Theatre in Dublin, mitten im Lockdown, vor leerem Saal, laufenden Kameras, ein Konzert im Livestream. "A national Disgrace" – so nannten sie die Show. Radie Peat: "Damit haben wir uns einen Scherz erlaubt. Dass eine Band wie wir an diesem Ort spielt – das musste eine Schande für das Land sein."

Auf Tour nun werden Lankum den Sound, den sie im Studio mit vielen Instrumenten, Begleitmusikern, Tape-Loops kreieren, möglichst authentisch auf die Bühne bringen. Zur Band gehören Radie Peat, Daragh Lynch, Ian Lynch und Cormac Mac Diarmada. Bei manchen Konzerten wird Cormacs Bruder John als Schlagzeuger zur Band stoßen.

Als Lankum sich um 2010 gründeten, nannten sie sich Lynched. Ein erstes Album enthält noch raue, aber konventionelle Folksongs. Mit dem Wechsel zu Rough Trade kam der neue Name. Lankum ist eine Figur, die in unterschiedlichen Varianten auftritt in der Folklore Irlands und Englands. "Im Grunde", sagt Radie Peat, "ist das einfach nur ein böser Mann, in manchen Versionen der Geschichte aber auch ein Dämon aus den Wäldern, ein Mörder von Frauen und Kindern. Oder er ist ein Baumeister, der eine Burg erbauen sollte für einen Herrn, um seinen Lohn betrogen wurde und sich nun rächen möchte." Ein böser Geist also, auf jeden Fall – und ein Lügner: "False Lankum".

"Irish Folk wird der Welt als eine heitere, unbeschwerte Musik verkauft", meint Daragh Lynch. "Aber das entspricht nicht der Wahrheit. In Irland gibt es alle Arten von Musik – fröhliche und traurige, auch solche, die von Einsamkeit und Verzweiflung handelt." Diese Lieder spielen Lankum. "Weshalb nicht?", sagt Radie Peat. "Die Menschen zieht es hin zu den dunklen Geschichten. Die Zeitungen sind voll von ihnen." Gemeinsam mit den irischen Sängerinnen Katie Kim und Elly Myler gründete Radie Peat im Sommer 2023 eine neue Band. Das Video zu "Love Henry", der ersten Single von ØXN, zeigt das Trio wild, bei flackerndem Licht, mit Ziegenbock und Totenschädel.

Zuvor schon war Radie Peat beteiligt am Soundtrack zur deutschen Netflix-Serie "1899", die trotz guter Zuschauerzahlen aber eingestellt wurde. "Ich habe die Serie 'Dark' gesehen", sagt Radie Peat. "Ich fand sie wirklich gut. Und ich liebe die Filmmusiken, die Ben Frost geschrieben hat. Als er mich fragte, ob ich bei '1899' mitarbeiten wollte, habe ich natürlich zugesagt. Unsere Arbeitsweise dabei war sehr interessant – wir konnten einzelne Filmszenen sehen, uns von den Charakteren ein Bild machen. Es ist ein Jammer, dass die Serie gestrichen wurde." Radie Peats Stimme taucht überall auf in "1899", manchmal auch ihr Spiel auf dem Akkordeon. Sie singt auf Irisch, English, wird zu einer italienischen Operndiva und singt Zeilen aus Dantes Inferno, während das Schiff, auf dem die Handlung der Serie spielt, vom Meer verschlungen wird.

"Katie Cruel”, ein amerikanischer Folksong, interpretiert von vielen, erschien auf "The Livelong Day" und sollte die Musik sein für ein anderes Filmprojekt, das aufgegeben wurde. In einem postapokalyptischen Irland sollte dieser Film spielen – "so etwas wie ein irischer Mad Max." Wie würde das aussehen – Irland nach der Apokalypse? "Vielleicht nicht anders als heute", sagt Radie Peat und alle lachen.


Lankum spielen am Freitag, 17. November um 20:30 Uhr in der Manufaktur in Schorndorf.


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