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Umsonst & Draußen, Stuttgart

Neuer Ort, alter Spaß

Umsonst & Draußen, Stuttgart: Neuer Ort, alter Spaß
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 Fotos: Jens Volle 

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Datum:

Fast wäre das traditionsreiche Stuttgarter Umsonst & Draußen-Festival Geschichte gewesen, denn der bisherige Veranstaltungsort wurde von der Stadt nicht mehr genehmigt. Doch Ende März fand sich ein neuer Platz, der am vergangenen Wochenende generationsübergreifend gefeiert wurde.

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"Jetzt geht's in die Wüste", sagt der Sänger des Stuttgarter Trios Qrawl, was musikalisch durchaus Sinn ergibt. Denn die drei Musiker frönen stilsicher einem Genre namens Stoner Rock, das um 1990 in der kalifornischen Wüstenstadt Palm Desert entstanden ist. Als Kommentar zum Wetter ist es aber der denkbar unpassendste Satz, denn wenige Augenblicke danach geht ein kräftiger Regenguss auf die Zuhörenden vor der Hauptbühne nieder. Nicht der erste und nicht der letzte beim Festival Umsonst & Draußen (kurz: U&D), das am vergangenen Wochenende zum ersten Mal auf dem Festplatz an der Krehlstraße in Stuttgart-Vaihingen stattfindet.

Das Wetter mag nicht ganz optimal sein, aber es ist auch nicht so schlimm wie beim wesentlich größeren und berühmteren Festival im schleswig-holsteinischen Wacken. Es ist auch nicht sonderlich schlimm angesichts der Tatsache, dass lange unklar war, ob es überhaupt eine 42. Ausgabe des traditionsreichen Festivals geben wird (Kontext berichtete). Wettergejammere wirkt sowieso komplett daneben mit Blick auf das Schicksal von Geflüchteten, die im Mittelmeer in Seenot geraten. "Festung Europa" lautet der inhaltliche Schwerpunkt des diesjährigen U&D, das sich immer auch als politisch linkes Festival verstanden hat, mit Ständen verschiedenster Initiativen. Das Schwerpunktthema aus allen möglichen Blickwinkeln beleuchten Vorträge von Aktivist:innen diverser NGOs wie Amnesty International, Seebrücke Stuttgart, der Seenotrettungsorganisation SARAH (Search and Rescue for all Humans) und Seawatch. Letztere steuern am Sonntagnachmittag einen der aufwühlendsten Beiträge bei: die szenische Lesung "No one is coming except the waves" – niemand kommt außer den Wellen.

Der Titel greift einen immer wiederkehrenden Zeilenanfang des Gedichts "Home" der somalisch-britischen Autorin Warsan Shire auf, aus dem immer wieder Passagen aus dem Off angespielt werden: "No one leaves home unless home is the mouth of a shark" heißt es etwa oder "no one leaves home unless home chases you". Eine Art Rahmen für die drei Fluchtgeschichten, die zwei junge Männer und eine Frau von Seawatch vortragen, nebeneinander auf der Bühne stehend. Sie lesen dokumentierte Kommunikation von NGOs mit Menschen auf in Seenot geratenen Booten, erklären Rahmenbedingungen, und zwischendurch werden immer wieder Originalfunkaufnahmen abgespielt, die etwa die Versuche schildern, die "sogenannte" libysche Küstenwache zu erreichen – "sogenannte", weil sie fast nie erreichbar ist und kaum Rettungseinsätze unternimmt, eher Flüchtlingsboote beschießt. Es sind Dokumente der Unmenschlichkeit und der unterlassenen Hilfeleistung, die es einem immer wieder kalt über den Rücken laufen lassen. "Sorry, we don't talk with NGOs", heißt es irgendwann am anderen Ende der Leitung. Erschauertes Schweigen im Publikum, am Ende bewegter Applaus.

Generationsübergreifendes Headbangen

Wer darauf das Veranstaltungszelt Richtung Hauptbühne verlässt, erlebt ein ziemliches Kontrastprogramm: Die Ludwigsburger Metal-Band "Death by Dissonance" sorgt für einen der dezibelstärksten Auftritte des Festivals. Die beiden Sänger schütteln zwischen abwechselndem Growling (der genretypische Röchel- und Grunzgesang) ihre Matten und Dreadlocks, als gäbe es kein Morgen, und das Publikum macht im Regen kräftig mit. Es ist ein ziemlich alters- und szenenübergreifendes Moshen und Headbangen vom Hippie bis zum Punk, vom Grundschulkind bis zu (mutmaßlich) den Großeltern, das trotz des aggressiven Sounds ziemlich fröhlich aussieht. Ein Miteinander von Subkulturen und Generationen, das seit jeher zu den Markenzeichen des U&D gehört. Das, gepaart mit der bunten Musikmischung abseits des Mainstreams, ist wohl auch ein Grund, warum es für viele eines der besten und buntesten antikommerziellen Festivals der Region ist.

Warum es das war, hätte man dieses Jahr fast sagen müssen. Denn im November 2022 hatte das Amt für Umweltschutz der Stadt Stuttgart eine Genehmigung am bisherigen Ort, der Uniwiese am Pfaffenwald in Stuttgart-Vaihingen, versagt. Der Grund: Bestände des Wiesenknopf-Ameisenbläulings, eines bedrohten Schmetterlings, seien gefährdet. Doch mithilfe der Stadt konnte der Festplatz Krehlstraße in Stuttgart-Vaihingen als Alternativstandort gefunden werden, Ende März gab es grünes Licht.

Der neue Platz hat Vorteile – aber auch Nachteile

"Die Stadt und das Kulturamt unterstützen uns sehr", sagt Roland Brömmel vom veranstaltenden Umsonst & Draußen Kultur e. V. Stuttgart. Brömmel, lange gewellte und mittlerweile graue Haare, ist eines der Urgesteine des U&D. Seit genau 40 Jahren, dem 4. Festival im Jahr 1983, ist er organisierend mit dabei, und wahrscheinlich wäre es nicht übertrieben, ihn die gute Seele des Festivals zu nennen. Am Sonntagabend wirkt er trotz der Regentropfen, die ihm der Wind ins Gesicht klatscht, einigermaßen entspannt und zufrieden.

"Am Anfang habe ich noch mit dem neuen Platz gefremdelt, aber je länger ich hier bin, umso besser gefällt er mir", sagt Brömmel. Und der Ort habe auch einige gewichtige Vorteile: "Der Boden ist stabiler, wir haben Feststrom, müssen keine Generatoren aufstellen, die Logistik-Wege sind kürzer", und dass auch asphaltierte Wege über das Gelände führen, mache den Aufbau wesentlich leichter. Auf dem alten Gelände wäre es bei dem feuchten und glitschigen Boden wohl kritisch für die Laster mit dem Bühnen-Equipment gewesen.

Zugleich gibt's aber auch Kröten zu schlucken. Es gibt keine Campingmöglichkeiten mehr wie auf der Uniwiese, das sei ein richtig großes Manko, sagt Brömmel, "und wir wissen noch nicht, wie die Anwohner reagieren, ob es auch was für die Zukunft ist". Denn im Vergleich zur Uniwiese liegt die Festwiese, trotz viel Grün und Bäumen drumherum, in einem Wohngebiet.

Noch nie so voll: das Kinderprogramm

Beschwerden wegen Lärm gab es aber immerhin bis Sonntagnachmittag nicht, und Brömmel hat sogar das Gefühl, die neue Lage habe auch neues Publikum gebracht. "Am Samstag gab es eine bunte Mischung aus klassischem U&D-Publikum und Anwohnern, die mit Kind und Kegeln kamen", und beim Kinderprogramm, das schon lange zum Festival gehört, sei es "noch nie so voll gewesen". Jetzt müsse man es erstmal sacken lassen und das Feedback abwarten, sagt Brömmel, und schauen, wie hoch die Einnahmen aus den Essens- und Getränkeverkäufen waren. Denn mit denen finanziert sich das Festival zum größten Teil, was das Wetter zu einem entscheidenden Faktor macht. Wie etwa 2002, als Dauerregen, knietiefer Matsch und entsprechend wenig Publikum dem U&D mehrere Tausend Euro Miese bescherten und mehrere Soli-Konzerte nötig machten, um es zu erhalten. Da sind die Aussichten dieses Jahr besser. Am Freitag seien um die 1.000 Besucher:innen da gewesen, so Brömmel, am nahezu durchgängig trockenen Samstag 2.000 bis 2.500, am Sonntag trotz des widrigen Wetters nochmal etwa 1.000. Das sei leicht unter dem Durchschnitt der letzten Jahre, aber nicht viel.

Die, die hinfinden, bekommen musikalisch jedenfalls bei 21 Bands den gewohnt bunten Mix aus größtenteils lokalen und einigen überregionalen Acts, von der Nachwuchsband bis zu etablierteren Namen. Zum Auftakt am Freitag bringt Loisach Marci aus Garmisch-Partenkirchen mit einer Mischung aus Alphorn und Elektrobeats die Stimmung zum Kochen, das gleiche gelingt zum Abschluss am Sonntagabend Wonk Unit aus London mit einer extrem eindrucksvollen und unterhaltsamen Mischung aus Punk und ein bisschen Ska. Vor der Bühne sieht man auf- und abhüpfende Köpfe, ein Vater tanzt am Rand Pogo mit seiner kleinen Tochter, woanders kicken ein hyperaktiver Althippie, einige coole Indierocker, Punks und Kinder einen Fußball hin und her, es regnet mal wieder, und Sänger Alex Brindle Johnson sagt irgendwann in diesem herrlichen Londoner Akzent, in dem das "i" zum "oi" tendiert: "I'm having the time of my life". Das sagt er möglicherweise häufiger, aber von der Stimmung her hätte er an diesem Abend allen Grund. Also: bis zum nächsten U&D! Wo auch immer.


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