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Schwarzer Peter Habitat

Am falschen Ende der Hackordnung

Schwarzer Peter Habitat: Am falschen Ende der Hackordnung
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 Fotos: Jens Volle 

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Bauprojekte, Eidechsen, Kleingärten – in dieser abfallenden Reihenfolge stellt sich die Stufenleiter in Stuttgart dar, wenn es um den Anspruch auf Grundstücksflächen geht. Auf dem Schnarrenberg sollen sechs langjährige Pächter weichen. Hier ist ein Ersatzhabitat für Mauereidechsen geplant.

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Der Wind bläst kräftig über die Gartengrundstücke am Schnarrenberg. Bäume, die um die Gärten gewachsen waren und bisher für Windschutz gesorgt hatten, liegen gestapelt am Rande des Spazierweges. Der 48-jährige Oliver Matkovic deutet auf einen unter aufgewühlter Erde kaum mehr erkennbaren Weg – dies sei einmal der Zugang zu ihren Grundstücken gewesen. Über die Abholzungen um ihre Gärten herum wie über die Pläne, ihre eigenen Gärten abgeben zu müssen, haben die Pächter aus der Zeitung erfahren, so Hans Schinner, der bald 84 Jahre alt wird und seinen Garten "mindestens fünf Jahre noch" behalten will.

Insgesamt handelt es sich bei den betroffenen Grundstücken um 3.000 Quadratmeter Fläche in einem Landschaftsschutzgebiet. Dass die Kleingärten weichen sollen, hängt mit einem hippen Bauprojekt zusammen, das einige Kilometer weiter im Zentrum der Stadt verwirklicht werden soll: der "Maker City", geplant im Rosenstein-Viertel auf Flächen, die durch die unterirdische Gleisverlegung im Zuge von Stuttgart 21 frei werden sollen. Der Webseite der Stadt Stuttgart nach soll sie "als Experimentierfeld für produktiv-kreative Pilotprojekte" dienen und "ökologisch-soziales Wohnen mit städtischer Produktion, Kultur, Bildungs- und Forschungseinrichtungen sowie urbaner Landwirtschaft verbinden". Neuer Raum für Kreativität und Nachhaltigkeit – das klingt zunächst nicht falsch. Aber welche schon vorhandenen Räume sollen weichen, damit dort lebende Eidechsen eine Ausgleichsfläche bekommen?

"Wir sind für Kunst, Kultur, Natur", betont Matkovic. Der Hobby-Künstler benutzt seine Garten-Hütte als Atelier. "Wir sind die Oldschool-Wagenhallen", scherzt er. Zu der "Maker City" hat er keine Meinung, er habe "zu wenig Information" und das Projekt "betrifft uns nur am Rand". Der 46-jährige Mike Saile, dessen Grundstück schon seit 1970 – "kurz vor meiner Geburt" – von seiner Familie gepflegt wird, lässt sich in seinem Garten zum Geigenspiel inspirieren.

Besonders beeindruckend sind die Schnitzereien, die der Pächter Norbert Gunkel auf seinem Grundstück anfertigt. Im Innern seines selbstgezimmerten Miniatur-Schwarzwaldhäuschens, das an seinem Teich steht, leuchtet ein rotes Licht auf. Gleichzeitig fließt ein Rinnsal auf ein gebasteltes Wasserrädchen, welches sich dreht. Im Teich würden sich Molche wohlfühlen, die gerade in Winterschlaf seien, sagt der 78-Jährige. Ein weiterer geschnitzter Kopf findet sich im Garten ebenso wie ein Insektenhotel und ein Häuschen mit Vogelfutter. Auch Nachbarschaftshilfe wird hier betrieben: Gunkel repariert in seiner Hütte beispielsweise Küchenmaschinen.

Angst um Idyll und Investitionen

Mindestens 20.000 Euro hat er für das Grundstück aufgewendet, berichtet Gunkel. Seine Sorge ist groß, dass die jahrelange Pflege und das Kultivieren des Gartens nun ins Leere laufen. Als er den Garten von einem Nachbarn übernommen hatte, sei das ganze Grundstück verwildert gewesen.

Slobodan Petrovic bewirtet sein Gartengrundstück seit fast 20 Jahren. Aus Erfahrung weiß er: "Es ist so schwer, wieder einen Garten zu bekommen.". Er hat "acht Jahre auf einen gewartet". Zurzeit bestehe ein Aufnahmestopp auf die Wartelisten. In der Vorankündigung des Liegenschaftsamtes Stuttgart vom 28. Februar, in der die Pächter schließlich über die Kündigung ihrer Verträge informiert wurden, wird ihnen zwar eine Ersatzfläche angeboten. Doch: "Wir weisen bereits heute darauf hin, dass die Ersatzversorgung gegebenenfalls nur mit einiger zeitlicher Verzögerung möglich sein wird, da uns nur sehr wenige freie Pachtflächen zur Verfügung stehen."

Ein Grundstück zu kaufen, stellt für die Pächter keine Alternative dar: zu teuer. Ein steiles Grundstück in der Nachbarschaft sei im Internet gerade für 70.000 Euro im Angebot. Die Gärten um die sechs gepachteten Grundstücke sind alles Eigentumsgrundstücke.

Die Stadt Stuttgart steht unter Druck, mit dem Bau der "Maker City" voranzukommen. Sie gehört zu den Projekten, welche zur Internationalen Bauausstellung 2027 (IBA) fertig werden sollen. Zum Oktober lassen sich die Pachtverträge ohne juristische Probleme für die Stadt kündigen.

Lange habe es lediglich ein Infoschreiben seitens der Stadt gegeben, berichten die Pächter. Am 13. Januar 2021 schreibt das Liegenschaftsamt, "hinsichtlich städteplanerischer Maßnahmen benötigen wir einen Zugang zu ihrem städtischen Pachtgrundstück". Das Schreiben erreichte vier der sechs Pächter. Zu einem angekündigten Besichtigungstermin im Februar des selben Jahres erscheint seitens der Stadt niemand. Nach dem missglückten Termin sei bei der Stadt niemand erreichbar gewesen. Das Liegenschaftsamt, von dem die Briefe kamen, habe sich für nicht zuständig erklärt. Dabei heißt es im Infoschreiben des Liegenschaftsamts: "Für Rückfragen stehen wir gerne zur Verfügung."

Schutzmaßnahme fraglich

Grundsätzlich sei eine Umsiedelung der Eidechsen – je nach Bewirtschaftung durch den konkreten Pächter – kompatibel mit einem Fortbestehen der Pacht-Nutzung, sagt Wolf-Dietrich Paul, Diplom-Biologe, Kreisvorstand des Stuttgarter BUND und früherer Mitarbeiter beim Amt für Umweltschutz in Stuttgart. "Eine private Pflege kann sogar effektiver und vor allem kostengünstiger als behördlich organisierte Pflege durch Landschaftspflegefirmen sein. Die Garteneigentümer müssen sich dann aber verpflichten, für den sehr langen Zeitraum von 30 Jahren ihren Garten entsprechend zu gestalten und zu pflegen." Dann aber seien gepflegte Gärten einer künstlichen Umwandlung der Landschaft vorzuziehen.

In Stuttgart haben sich – vermutlich unter anderem durch geflohene Futtereidechsen aus der Wilhelma – allochthone, also gebietsfremde Mauereidechsen angesiedelt. Durch den Klimawandel wachse ihre Population weiter. Der BUND Stuttgart steht der Umsiedelung der Eidechsen aus diesem Grund besonders kritisch gegenüber: "Fachlich gesehen ist sie unnötig, da die Populationen der allochthonen Mauereidechsen in Stuttgart ungefährdet sind. Grundsätzlich sollten bei Baumaßnahmen aber dennoch Vorkehrungen getroffen werden, dass Mauereidechsen nicht unmittelbar getötet – sprich vom Bagger plattgewalzt – werden", so Paul.

Ulrich Tammler, Fachbeauftragter für Ornithologie und Vogelschutzthemen beim NABU und Mitglied im NABU-Landesvorstand, sagt auf Anfrage von Kontext: "Dass die Abholzungen um die Gärten nun im Hochwinter stattgefunden haben, ist wegen der Eingriffe bis auf den Boden nicht vertretbar, da in dem Gebiet aufgrund seiner Beschaffenheit winterruhende oder -schlafende Arten wie Igel, Amphibien und Reptilien beeinträchtigt werden könnten – im Falle der Tötung ein Straftatbestand." Dass so stark in existierende und funktionierende Biotope bis zur vollkommenen Umgestaltung eingegriffen werde, lehne der NABU grundsätzlich ab. "Es ist nicht akzeptabel, dass zahlreiche, zum Teil geschützte Tier- und Pflanzenarten zugunsten einer einzigen ihren Lebensraum verlieren."

Zudem berichteten die Pächter der benachbarten Gärten von geschützten Arten wie Ringelnatter und Bergmolch auf dem Gebiet in und um die gepachteten Gärten. Nun sei zu prüfen, ob die Stadt ein Gutachten über das Vorkommen geschützter Arten auf dem Gebiet am Oberen Freienstein erstellt hat und ob alle zustimmungspflichtigen Behörden mit ausreichenden Informationen einbezogen wurden.

Die Stadt sagt, das Habitatpotenzial ist gesichert

Laut Jana Steinbeck, Abteilung Kommunikation der Stadt Stuttgart, wurden die Flächen "von einem Tierökologen entsprechend den allgemein gültigen fachlichen Anforderungen kartiert". Für geschützte Arten sei vorgesorgt: "So werden insbesondere alle älteren Bäume mit Habitatpotenzial für Vögel, Fledermäuse und Holzkäfer gesichert und bleiben auf den Flächen stehen." Steinbeck räumt ein, dass die ersten Maßnahmen "zunächst brutal und nicht naturverträglich" wirken.

Allerdings soll eine ökologische Aufwertung der gesamten Fläche geschehen: "Zielsetzung ist die Herstellung und Entwicklung charakteristischer Habitate einer halboffenen Kulturlandschaft, wie sie früher für die Stuttgarter Hanglagen charakteristisch war, angereichert um typische Elemente trocken-warmer Standorte." Während Gärten beispielsweise zugenommen hätten, seien diese Habitattypen "heute in der Kulturlandschaft 'Mangelware'". Neben den Mauereidechsen sollen auch "weitere seltene und gefährdete Heuschrecken-, Tag- und Nachtfalterarten sowie Wildbienen und andere Insekten" dort beherbergt werden.

Die Kleingärtner haben indessen noch nicht aufgegeben. Am 12. März treffen sie sich mit Fritz Schirrmeister, Referent der FrAktion im Stuttgarter Gemeinderat, Stadtrat Matthias Gottfried (Tierschutzpartei), Renate Polinski, der Bezirksvorsteherin für den Stadtteil Stuttgart-Münster, und Ulrich Tammler vom NABU. VertreterInnen der anderen Fraktionen sollen auch eingeladen werden. Trotz der drohenden Verdrängung wächst zwischen den Pächtern keine Feindschaft gegenüber den Kriechtieren. "Wir freuen uns über die Eidechsen, die bereits hier sind", betont Mike Saile.


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1 Kommentar verfügbar

  • Jo
    am 11.03.2022
    Antworten
    Es gibt also wieder mal keine wichtigeren Themen als die Eidechsen. Sind die ÖKOs eigentlich völlig bescheuert ? Offensichtlich haben manche Leute zu viel Freizeit, aber so etwas sehen wir ja dauernd.
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