Rund 80 Mauereidechsen-Populationen gibt es in Deutschland. Davon sind die meisten nicht einheimisch und dazu noch Hybride, 2008 in einer groß angelegten Stichprobenstudie beschrieben von Ulrich Schulte. Schulte war sozusagen der Vorgänger von Beninde am Trierer Institut und innerhalb der Mauereidechsen-Forschungs-Community eine große Nummer. Acht eingeschleppte Linien hat er festgestellt: aus den Südalpen beispielsweise, aus Ostfrankreich, Venetien, vom Balkan.
Mauereidechsen kamen offenbar schon mit den weinanbauenden Römer nach Deutschland. Später mit der Bahn, dann in Obstlastern. Vor allem aber mit Reisenden und Hobbyzüchtern. Aussetzen ist verboten, aber so eine Mauereidechse flutsch einem schon mal aus Versehen durch die Finger. Einmal sei es ihm untergekommen, erzählt Joscha Beninde, dass ein ehemaliger Eidechsenbesitzer behauptete, Efeu sei von außen durchs Fenster ins Terrarium gewachsen. Die Echsen seien über den Efeu getürmt und hätten dann eine eigene Population begründet.
In Baden-Württemberg ist die "ostfranzösische Linie" heimisch, die größte einheimische Population gibt es laut der AG Feldherpetologie und Artenschutz der Deutschen Gesellschaft für Herpetologie und Terrarienkunde bei Offenburg mit rund 7000 Tieren. Und noch eine Stelle ist bekannt. Untertürkheim gehört aber nicht dazu. In und um Stuttgart gibt es laut der Feldherpetologen-AG überhaupt kein natürliches Mauereidechsen-Vorkommen. Die Stuttgarter Tiere stammen allesamt von zwölf Mauereidechsen ab, die im Jahr 1874 ein gewisser Dr. Jäger in Wildberg an der Nagold ausgesetzt hat.
Und seitdem kopulieren deren Nachfahren querfeldein mit anderen ehemaligen Terrarien-Echsen, Ankömmlingen aus Güterwaggons und Echsen-Damen aus Orangenkisten. Fazit: Der Genpool der ohnehin seltenen heimischen Echsen verschwindet in all dem Chaos. "In einer Freiburger Population konnte unter 52 Individuen nur noch ein einziges Tier gefunden werden, das den heimischen mitochondrialen Haplotyp trug", schreibt Experte Schulte in einer Studie, mit der er für Artreinhaltung eintritt.
Mitochondriale Gensequenzen, das sind die DNA-Abschnitte, die am längsten unverändert bleiben. Mit ihren lässt sich eine Linie zurückverfolgen bis in die letzte Eiszeit. Aber seitdem ist eine Menge passiert, und aus Einwanderungsechsen haben sich mit der Zeit eigene geschlossene Populationen gebildet. Und genau da, sagt Joscha Beninde, fange das Problem an. Sind die nicht auch irgendwie schützenswert? "Da ist sich noch nicht mal die Wissenschaft richtig einig." Er selbst sagt zwar nichts zu seinen Studienergebnissen, plädiert aber immerhin generell für ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Schutz und Nichtschutz all dieser wild gemixten Tiere.
Sein Vorgänger Schulte war da weniger kulant. In einem Handlungsvorschlag zur Mauereidechsenfrage schreibt er glasklar: Nicht heimische Misch-Mauereidechsen – und "insbesondere an häufig besiedelten Bahnbereichen" fände die Vermischung statt – sollten keine Schutzmaßnamen erfahren. "Es sollte, im Gegenteil, sogar eine Unterlassung von Pflegemaßnahmen für diese Vorkommen in Betracht gezogen werden. Ein Abfangen von Individuen ist unserer Meinung nach aufgrund des ungewissen Erfolgs sowie des sehr hohen erforderlichen Aufwands in der Regel nicht sinnvoll." Das hieße: Tod den Untertürkheimern. Und das auch noch zum Wohle des Naturschutzes.
Tod oder Leben?
Die Schutzbemühungen in Südwestdeutschland gelten nach der Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie in erster Linie der Podarcis muralis brongniardii, der einheimische Echse, teilt das Bundesamt für Naturschutz mit. Für eingeschleppte Echsen oder Nachfahren von eingewanderten, die Sex mit heimischen hatten, greift der "Leitfaden zum strengen Schutzsystem für Tierarten von gemeinschaftlichem Interesse im Rahmen der FFH-Richtlinie 92/43/EWG". Der wiederum empfiehlt, diese Tiere nicht der FFH-Richtlinie zu unterstellen. Wie das genau gehandhabt würde sei allerdings Ländersache, sagt der Bund.
Das Ministerium für Ländlichen Raum quält sich denn ein wenig mit der Frage nach einer landeseigenen Regelung und teilt letztlich mit: "Uns sind keine Fälle von hybriden Mauereidechsen im Land bekannt außer dem Fall in Untertürkheim, für den nach geltendem Bundesrecht alleine das Eisenbahn-Bundesamt zuständig ist."
Die Pressestelle des Eisenbahn-Bundesamts (EBA), zuständig für Genehmigungsverfahren rund um Stuttgart 21, gibt glücklicherweise Entwarnung: "Nach den hier vorliegenden Erkenntnissen unterfallen alle Mauereidechsen in Untertürkheim dem strengen Schutzregime des Artenschutzes nach dem Bundesnaturschutzgesetz (BNatSchG)." Außerdem habe das EBA die Studie über die Genanalyse der Untertürkheim-Echsen nicht angefordert. Die habe die Bahn einfach so beigelegt.
Die Misch-Echsen in Untertürkheim haben demnach nichts zu befürchten. So oder so aber hat es sich für die Tiere in Untertürkheim ausgebumst. Denn wer im Weg aber geschützt ist, bekommt ein Ersatzhabitat. Bleibt also nur zu hoffen, dass der Bahn nicht auch noch diese potenten Kerlchen wegsterben.
1 Kommentar verfügbar
Wolfgang Claar
am 19.08.2015