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Öko-Augenwischerei

Öko-Augenwischerei
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Die Bahn muss bei Stuttgart 21 den Verlust von Natur- und Lebensräumen ausgleichen. Wo der Flughafen an das Milliardenprojekt angebunden wird, gelingt dies nur schwer. Aus Mangel an Ausgleichsflächen werden selbst verkehrsumtoste Autobahnabfahrten zu wertvollen Biotopen erklärt.

Noch graben sich die Mineure mit Suse durch unverfängliches Terrain. Denn was der Schild der riesigen Vortriebsmaschine auf dem Weg von der Filderebene hinunter in den Stuttgarter Talkessel zermalmt, gilt in ökologischer Hinsicht als relativ wertlos. Die Millionen Tonnen Gesteinsaushub des Fildertunnels, mit knapp neun Kilometer Länge der größte Tunnelabschnitt von Stuttgart 21, dienen weder Tieren noch Pflanzen als Lebensgrundlage. Auch schädigt der Abbau keine "Schutzgüter" wie Boden, Wasser, Luft oder Klima. Suses Vortrieb geht auch ohne langfristige Folgen für die menschliche Gesundheit. "Viele im Tunnel geführte Streckenteile lösen keine Eingriffe in Naturräume aus", stellte Bahn-Advokat Josef-Walter Kirchberg während der fünften Fachschlichtung zum Stuttgarter Bahnprojekt fest, die sich im November 2010 dem Themenkomplex Ökologie widmete.

Ganz anders sieht es mit den Eingriffen aus, wenn sich Bagger und Bauarbeiter auf den Fildern in die andere Richtung vorarbeiten. Beim Weiterbau der Schienentrasse nach Wendlingen, wo das Projekt Stuttgart 21 an die Schnellbahntrasse nach Ulm andockt, sind große Flächen an Naturräumen in einer bereits dicht besiedelten Region betroffen. Allein im Planfeststellungsabschnitt 1.3 (PFA), Filderbereich mit Flughafenanbindung, gehen über 77 Hektar ökologisch wertvolle Biotope und Tierlebensräume dauerhaft oder zeitweise verloren. Knapp 27 Hektar fruchtbarer Filderboden werden dauerhaft versiegelt oder überbaut. Daneben sind über sechs Hektar Wald für die neuen Schienenwege zu roden. Zahlen, die von der Deutschen Bahn während des PFA-Erörterungsverfahrens Ende September genannt wurden. Im Laufe des Verfahrens präsentierte die Bauherrin ihr Maßnahmenkonzept, um die Eingriffe in Natur und Umwelt zu kompensieren. Sie sind detailliert dargestellt im Landschaftspflegerischen Begleitplan, der Teil der Antragsunterlagen zur Baugenehmigung der Trasse ist. Die Dokumente werden derzeit vom Regierungspräsidium Stuttgart im Auftrag des Eisenbahn-Bundesamts (EBA) geprüft.

Bahn errechnet Überkompensation in Ökopunkten    

Nach dem Bundesnaturschutzgesetz sind bei Stuttgart 21, wie bei jedem anderen Bauvorhaben auch, Eingriffe in Naturräume durch Schutz-, Ausgleichs-, Ersatz- oder Gestaltungsmaßnahmen mindestens gleichwertig zu kompensieren. In einem aufwendigen Verfahren werden dazu Eingriffe und Ausgleiche in sogenannten Ökopunkten rechnerisch gegenübergestellt. Im PFA 1.3 geht die Rechnung laut Bahn auf: Es wird "eine vollständige artenschutz- und naturschutzrechtliche Kompensation der Eingriffe mit den vorgesehenen Maßnahmen erreicht". Nach Darstellung des Konzerns gibt es sogar eine Überkompensation: Einem Bedarf von 3 297 473 Ökopunkten begegnet die Bahn mit Maßnahmen, die sich auf 3 484 674 Ökopunkte summieren.

Macht die umstrittene Anbindung des Flughafens an das Milliardenprojekt Stuttgart 21 die Fildern naturnaher und lebenswerter als zuvor? Mitnichten, wie beim genauen Studium von Maßnahmenkatalog und Kartenwerken deutlich wird. Demnach gelingt es der Bahn nur ansatzweise, den Flächenverlust zu kompensieren. In Ökopunkten ausgedrückt lediglich zu einem Drittel. Zwar soll ein Teilstück der Landstraße L 1204 zwischen dem Stuttgarter Stadtteil Plieningen und Ostfildern rückgebaut werden und als Ausgleichsfläche zur Verfügung stehen. Doch das ist nur ein Bruchteil der benötigten Flächen, sodass die Planer auf weitab der S-21-Baustellen gelegene Orte ausweichen müssen. Etwa auf die Entsiegelung eines überbreiten Wirtschaftswegs in Bodelshausen im Landkreis Tübingen. Nass- und Magerwiesen sollen dort fernab der Hochgeschwindigkeitstrasse gedeihen. "Boden ist nicht vermehrbar", kommentiert Annette Schade-Michl vom Landesnaturschutzverband nüchtern das Ergebnis. Erst recht nicht der spezielle Filderboden, fügt sie hinzu: "Hier handelt sich um fruchtbare Lößböden, die in Jahrtausenden geschaffen wurden."

Fleißig beim Schutz von Tieren und Pflanzen

Andererseits "ökopunktet" die Bahn fleißig bei den landschaftspflegerischen Maßnahmen, die Tiere, Pflanzen und ökologische Vielfalt auf den Fildern schützen sollen. Knapp drei Millionen Ökopunkte belohnen die Kompensationsmaßnahmen. Ihnen steht ein Bedarf von weniger als einer Million Punkte gegenüber.

Doch auch hier entpuppt sich manches bei genauem Hinsehen als ökologische Augenwischerei. So betont die Bahn stets, dass durch "planerische Vermeidungsmaßnahmen bereits im Zuge der Planungsoptimierung Beeinträchtigungen des Naturhaushaltes vermieden werden konnten". Darunter ist die Bündelung der Neubaustrecke mit der bestehenden Autobahn zu verstehen. Aber auch die "Schonung hochwertiger Biotope bzw. Lebensräume durch reduzierte Flächeninanspruchnahme". Oder die "landschaftsgerechte und ökologisch orientierte Gestaltung des Trassennahbereichs". Alles eigentlich Selbstverständlichkeiten – und oft genug Notwendigkeit. "Ein Bahn- oder Straßendamm wird doch grundsätzlich begrünt, damit Niederschläge ihn nicht abschwemmen", kritisiert Schade-Michl, dass es selbst für verkehrsumtoste, jedoch bepflanzte Autobahnabfahrten jede Menge Ökopunkte gibt.

Auch ein Bauzaun ist gut fürs Punktekonto

Ökopunkte sammelt die Bahn auch locker während der Bauphase. Beispielsweise durch die Errichtung von Bauzäunen, damit der Baustellenverkehr nicht aus Versehen an erhaltenswerten Bäumen vorbeischrammt oder in versteckte Biotope plumpst. "Als Ausgleichsmaßnahme gilt auch schon mal ein Brückengeländer, damit die Tiere nicht runterfallen", erinnert sich Schade-Michl an ein besonders abstruses Beispiel aus einem anderen Genehmigungsverfahren.

Auf den Fildern wird die Bahn auch belohnt für die Einrichtung von "Trittsteinen", unter denen verwilderte Parzellen inmitten der landwirtschaftlich intensiv genutzten Filder zu verstehen sind. So sollen östlich von Plieningen Brachestreifen angelegt werden, auf denen das streng geschützte Rebhuhn zwischenlanden kann. Die betroffenen Bauern jedoch können sich mit dieser Art der Landschaftspflege nicht anfreunden. Geht ihnen doch nicht nur durch die Bahntrasse selbst, sondern auch durch die Ausgleichsmaßnahmen immer knapper werdender Ackerboden verloren. "Wir haben seit Jahren keine Rebhühner hier gesehen", brachte ein Bauer während der jüngsten Feldrundfahrt die Absurdität der Bahnpläne auf den Punkt.

Unterstützt werden die Landwirte in ihrem Widerstand gegen die Bahnpläne vom Landesnaturschutzverband. "Fruchtbare Ackerböden zu Streuobstwiesen umzufunktionieren ist kontraproduktiv", nennt Annette Schade-Michl eine weitere fragwürdige Ausgleichsmaßnahme. Es gelte die regionale Versorgung zu stärken, statt sie durch Flächenverbrauch immer unmöglicher zu machen. "Obstbäume werden traditionell auf den ertragsschwächsten Böden gesetzt", moniert sie im konkreten Fall.

Ersatz für den Ersatz verlangt Quadratur des Kreises

Auch müssen den Bauern wiederum für die Trittsteine Ersatz angeboten werden. Doch das dürfte im dicht besiedelten Filderraum der Quadratur des Kreises gleichkommen. Im Rahmen des Anhörungsverfahrens laufen hierzu derzeit noch Gespräche zwischen Vorhabenträger und Landwirtschaft, heißt es aus dem Regierungspräsidium Stuttgart. Gegebenenfalls könnte es dabei Änderungen des landschaftspflegerischen Begleitplans unter Beteiligung der Naturschutzbehörden, Naturschutzverbände und etwaiger Betroffener geben. "Als Ausgleich für die Inanspruchnahme einer landwirtschaftlichen Fläche wird primär angestrebt, Ersatzflächen zu finden", betont der Sprecher des Regierungspräsidiums Stuttgart. Und fügt hinzu: "Wenn das nicht möglich sein sollte, bleibt nur eine Entschädigung des Landwirts in Geld."

Naturschützerin Annette Schade-Michl richtet derweil den Blick in die fernere Zukunft. "Für die Umsetzung der Ausgleichsmaßnahmen ist der Vorhabenträger stets selbst verantwortlich", bemerkt sie. Während der Genehmigungsphase würden die Behörden streng prüfen, welche Folgen Eingriffe in Naturräume durch Bauprojekte haben und wie sie zu kompensieren sind. Nach Abzug der Bauarbeiter gebe es aber keine unabhängigen Kontrollen, ob alle Maßnahmen tatsächlich durchgeführt werden. "Im Falle von Stuttgart 21 kontrolliert sich die Bahn bei den Ausgleichsmaßnahmen selbst", so Schade-Michl. Sollte das Unternehmen seinen Verpflichtungen nicht nachkommen, braucht es wohl keine juristischen Konsequenzen zu fürchten. Privatpersonen oder Umweltverbände dürfen dann die Bahn nicht vor den Kadi ziehen. "Und die Natur kann nicht klagen", sagt Schade-Michl.


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11 Kommentare verfügbar

  • Filderkraut statt Filderbahnhof
    am 15.11.2014
    Antworten
    Gab´s da nicht mal so einen "Filderdialog"? Lange nichts mehr von der Frau BürgerStaatsrätin dazu gehört.
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