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Mehr Geld für (Sub-)Kultur

Im Underground

Mehr Geld für (Sub-)Kultur: Im Underground
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 Fotos: Joachim E. Röttgers 

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Kunst kann bei der Stadtentwicklung eine wichtige Rolle spielen, wenn sie gewohnte Abläufe in Frage stellt. Aber sie braucht Förderung. Der Gemeinderat der Stadt Stuttgart scheint dies erkannt zu haben.

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Generationen von Dillmännern kennen den Diakonissenplatz – ohne notwendigerweise zu wissen, dass es einen solchen gibt. Denn was bis vor kurzem von den Rückfenstern des Dillmann-Gymnasiums im Stuttgarter Westen aus zu sehen war, war nicht mehr der um 1900 angelegte Vorplatz des Diakonissen-Krankenhauses, sondern der älteste Verkehrsübungsplatz der Welt: 1953 eingerichtet, noch bevor der Neubau des Schulgebäudes entstand. Dass Kinder vom Auto angefahren wurden, war in der Stadt mit dem dichtesten Autoverkehr der Republik damals an der Tagesordnung. Also wollte man sie erziehen, besser aufzupassen – und zugleich auf ihre künftige Rolle als Autofahrer vorbereiten.

Dies ist aber nur die Geschichte der sichtbaren Oberfläche des Platzes. Im Untergrund schlummert ein ganzes Reservoir weiterer Geschichten und Anekdoten. Keiner kennt sie besser als Klaus-Peter Graßnick. In der frühen Nachkriegszeit im Viertel aufgewachsen, besuchte er die Falkertschule, gleich hinter dem Dillmann, und unterrichtete später eine Ecke weiter Friseure, an der Gewerblichen Schule im Hoppenlau. Im Untergrund des Platzes befindet sich seit 1941 ein Bunker. Und der hat eine wechselvolle Geschichte.

Ein Atombunker für Manfred Rommel

Der Bunker war in der Nachkriegszeit Notunterkunft für Heimatvertriebene, kurzfristig Hotel, später Versteck für Diebesgut, Refugium für Obdachlose und Liebespaare, in neuerer Zeit auch einmal heimliche Party-Location. Graßnick hat dort in den 1970er-Jahren mit der Rockband "Müll" geprobt: benannt nach dem Unrat, den die drei Musiker zuerst einmal beseitigen mussten, aber auch aus Protest gegen die Umweltverschmutzung.

Im "Deutschen Herbst" 1978 zog die Stadt einen Zaun um das Gelände: aus Angst, die RAF könnte sich dort einnisten. Zwei Jahre später kam das Aus für den Übungskeller: Der Bunker wurde zum Atombunker für Stadtoberhaupt Manfred Rommel ausgebaut. "I gang da net nunder", habe der Oberbürgermeister gesagt, erinnert sich Graßnick.

Graßnick möchte den Bunker wieder zugänglich machen und hat zu diesem Zweck 2016 einen Verein gegründet. Er bearbeitete Bezirksbeiräte, Liegenschaftsamt und Gemeinderäte und erhielt schließlich vom Bezirksbeirat West einen Zuschuss von 70.000 Euro zur Renovierung des Nordflügels, des ehemaligen Lazaretts, wo Veranstaltungen stattfinden sollen. Der Verein hat sich in die Arbeit gestürzt und schon mehr als 3000 Stunden ehrenamtlich geleistet. Im Moment streichen zwei Männer Decken und Wände.

Geplant sind ein Raum mit Bühne für maximal 132 Besucher und zwei kleine Ausstellungsräume. Denn auch die wechselvolle Geschichte des Bunkers soll sichtbar werden, für die sich Alexander Brueggeboes sehr interessiert, der zweite Vereinsvorsitzende, einige Jahrzehnte jünger als Graßnick. Mit seiner Southern-Rock-Band "Belphi" probt er bisher im Eiernestbunker im Stuttgarter Süden – wie Graßnick, der mit dem "Müll"-Gitarristen Eckardt Dietel als "Not Named Brothers" immer noch auftritt.

Aber nun wird noch mehr möglich. Der Gemeinderat hat in seinem Doppelhaushalt 800.000 Euro bereitgestellt, um auch die beiden anderen Flügel des Bunkers instandzusetzen. Die Zahl beruht auf einer Schätzung des Liegenschaftsamts, das bereits Übungsräume in sechs weiteren Bunkern vermietet, die aber alle belegt sind. Der Diakonissenbunker ist der größte in Stuttgart. In den zumeist sechs Quadratmeter großen Räumen, die ursprünglich für je eine Familie vorgesehen waren, sind bis zu 42 Übungsräume möglich.

Der Verkehrsübungsplatz ist Geschichte. Der Diakonissenplatz sieht derzeit recht unordentlich aus. Er soll wieder zu einer öffentlichen Grünanlage werden. Ein Wettbewerb hat stattgefunden, im Entwurf des Gewinners ist der Bunker allerdings nicht vorgesehen. Der Bebauungsplan muss nun geändert werden, da die fünf Ausgänge als Fluchtwege erhalten bleiben müssen.

Sind Proberäume so wichtig? Stuttgart wäre gern hipper als Berlin. Aber dazu braucht es eine lokale Szene. Viele Musiker sind schon nach Berlin abgewandert. Wenn sich hier etwas Eigenes entwickeln soll, sind die Keller, in denen geprobt wird, das Labor, in dem es entsteht. Die etablierten Kulturinstitutionen zeigen nur, was es schon gibt. Neues entsteht sprichwörtlich im Underground, an den undefinierten Randzonen, wo sich die Stadt weiter entwickelt.

Fast eine Million für Waggons und Stadtacker

Herz des Inneren Nordbahnhofs beispielsweise, vier Kilometer nordöstlich des Bunkers, soll eine "Maker City" werden: ein beispielhaftes Quartier, das Wohnen und kreatives Arbeiten verbindet. So will es das Büro ASP, das den städtebaulichen Wettbewerb für das Gebiet gewonnen hat. Ausgangspunkt seines Konzepts sind die KünstlerInnen der Wagenhalle, des Bauzugs 3YG, der davon abgespaltene Verein Contain’t und das Urban-Gardening-Projekt Stadtacker.

Vor einem Jahr standen Waggons und Stadtacker beinahe vor dem Aus (Kontext berichtete). Denn die Bahn muss laut dem Stuttgart-21-Vertrag die Fläche räumen, wo der Bauzug steht. Und ein Haus, aus dem die KünstlerInnen Wasser und Strom bezogen, soll abgerissen werden. Nun ist das Haus geräumt und der Wasseranschluss ist weg. Die KünstlerInnen, die dort ihre Ateliers hatten, sind in Container gezogen.

Die Lösung für die nächsten fünf Jahre lautet: Dort, wo das Haus derzeit noch steht, sollen die Waggons hin. Dazu müssen Schienen neu verlegt werden, während sie am aktuellen Standort entfernt werden. Für den Umzug, der im Mai beginnen soll, hat der Gemeinderat 970.000 Euro, dazu 77.400 Euro für Personalkosten bewilligt. "Wenn die KünstlerInnen nicht aktiv geworden wären und wir uns nicht dahinter geklemmt hätten, gäb’s das vielleicht bald nicht mehr", sagt der Grünen-Stadtrat Marcel Roth. Wie es danach weiter geht, steht noch in den Sternen.

Für Contain’t wird es schwierig

Auch Contain’t weiß wieder einmal nicht wohin. Das Containerdorf, wo die Gruppe Contain’t derzeit untergekommen ist, soll verschwinden. Denn das Quartier soll zugleich auch ein Projekt der Internationalen Bauausstellung (IBA) werden und muss daher 2027 fertig sein. Die Fläche wird zur Baustelleneinrichtung benötigt. Und dann soll auch noch das Interim der zu sanierenden Oper an den Inneren Nordbahnhof. Da werden die Flächen knapp. Die Künstler und Stadtgärtner im Zentrum des ASP-Konzepts hatte die Stadt dabei aus dem Blick verloren.

Während nun für die Waggons und den Stadtacker Übergangslösungen gefunden sind, wird es für Contain’t schwierig. 604.000 Euro hat der Gemeinderat für deren Umzug bewilligt, dazu 117.400 Euro Personalkosten, verteilt auf zwei Jahre. Aber ein Ausweichquartier ist noch nicht in Sicht. Zehn Areale hat der Verein im vergangenen Jahr mit der Stadtverwaltung geprüft. Keines war geeignet.

Mit Contain’t hat auch der Stuttgarter Nachtbürgermeister Nils Runge schon Veranstaltungen organisiert. Thorsten Neumann, der vor einem Jahr sein Amt als zweiter Nachtbürgermeister dann doch nicht angetreten hat, leitet inzwischen das Werkstatthaus am Fuß der Uhlandshöhe. Unter dem Namen Palermo – so benannt nach dem Künstler, nicht nach der sizilianischen Stadt – hat er seit zehn Jahren an verschiedenen Orten der Stadt immer wieder temporäre Kunst- und Projekträume eröffnet.

Nun will er mit der Kostümbildnerin Heide Fischer und der KünstlerInnen-Gruppe CIS + die Schwabenbräu-Passage in der Bad Cannstatter Bahnhofstraße bespielen: ein brach liegender Komplex in zentraler Lage an der belebten Fußgängerzone. Fischer will dort, auch mit weiblichen DJs, kleinere Musikveranstaltungen organisieren. Die Gruppe CIS +, derzeit im Containerdorf ansässig, braucht Ateliers. "Wir sind ein größerer Haufen", erklärt Valentin Leuschel. Auch die Initiative Commons Kitchen will mitmachen und abgelaufene Lebensmittel einkochen.

Vor zwei Jahren hat die Stadt von ihrem Vorkaufsrecht Gebrauch gemacht und will frühestens in vier Jahren das gesamte Areal zwischen Bahnhof und Wilhelmsplatz in Bad Cannstatt neu entwickeln. Bis dahin ist noch Zeit. Neumann freut sich, dass es eine Perspektive für mindestens zwei Jahre gibt. Für Renovierung und Mietkosten stellt die Stadt 200.000 Euro zur Verfügung. Alle weiteren Ausgaben müssen die Initiatoren selbst tragen. Neumann und Leuschel betonen: Das heruntergekommene Areal schicker und teurer machen, das kommt für sie nicht in Frage. Sie möchten im Gegenteil die Menschen vor Ort erreichen – überwiegend keine Operngänger.

Die Stadt hat es in der Hand. Und der Gemeinderat hat gezeigt, dass er die Bedeutung von Kunst und Kultur für die Stadtentwicklung erkannt hat: 50.000 Euro für die Suche nach Freiflächen für Open-Air-Musikveranstaltungen; Gelder für Kunst im öffentlichen Raum, unter anderem für das Current-Festival und ein Stuttgarter Streetart-Festival; eine institutionelle Förderung für das Club Kollektiv; eine Verlängerung für die Kulturinsel, jährlich 175.000 Euro für weitere vier Jahre. Künstler sollen künftig Honorare erhalten.

Die Kultur habe unter Corona sehr gelitten, sagt der Grünen-Fraktionschef Andreas Winter. Sie benötige Unterstützung. Aber sie bietet der Stadt auch einen Mehrwert. Nicht nur als Standortfaktor. Sondern als Anstoß für neue Entwicklungen, hin zu einer sozialeren, inklusiveren Stadt, jenseits der Verwertungslogik.


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1 Kommentar verfügbar

  • Peter Bähr
    am 19.01.2022
    Antworten
    "Künstler sollen künftig Honorare erhalten" - welch aberwitzige Wertschätzung!

    Siehe auch: https://youtu.be/D4UGyMSi-M4
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