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Ambulante Hilfe e.V.

Würde wohnt auch auf der Straße

Ambulante Hilfe e.V.: Würde wohnt auch auf der Straße
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Seit fast 50 Jahren kämpft die Ambulante Hilfe in Stuttgart für Menschen in Wohnungsnot. Der gemeinnützige Verein ist selbstverwaltet und basisdemokratisch. Eine Fotoausstellung im Stuttgarter Rathaus dokumentiert Jahrzehnte Sozialer Arbeit an der Seite derer, die sonst kaum jemand sieht.

Wenn Roger sich morgens eine Zeitung holt und in Bad Cannstatt im Café 72 einen Kaffee für 30 Cent trinkt, dann ist das mehr als ein kurzer Moment der Wärme. Es ist auch ein stiller Akt der Selbstbestimmung. "Ich habe 45 Jahre gearbeitet und bekomme Rente, aber bei den Mietpreisen würde davon fast nichts übrigbleiben", erzählt Roger. "Betteln will ich nicht, auch nicht beim Amt. Deswegen lebe ich auf der Straße." In der Waiblinger Straße 30 habe Roger zumindest einen Ort gefunden, der ihm die Teilnahme an sozialem Miteinander erleichtert. Nach dem Prinzip "Hilfe zur Selbsthilfe" bietet das Café 72 ihm und anderen Wohnungslosen Möglichkeiten, um die eigene Situation zumindest marginal zu verbessern. Beispielsweise bietet es täglich den rund 60 bis 80 Besucher:innen ein Mittagessen für einen Euro, eine warme Dusche, Schließfächer, eine Waschmaschine oder mit der benachbarten Beratungsstelle eine offizielle Postadresse.

Hinter dem Café 72 steht die Ambulante Hilfe. Die Geschichte des seit 1977 aktiven Vereins ist auch eine Geschichte sozialer Infrastruktur, die von unten aufgebaut wurde. Anfangs ging es primär darum, irgendwie die Lebensverhältnisse von Wohnungslosen zu verbessern, heute ermöglicht der Verein mit 152 eigenen Sozialwohnungen rund 200 Menschen ein bezahlbares Zuhause. Dafür wurden in der Vergangenheit 13 Bau- und Kernsanierungsprojekte umgesetzt, zuletzt 2022 acht Wohnungen in Zuffenhausen. Außerdem ist die Ambulante Hilfe am Wohnvermittlungsprojekt "Housing First" beteiligt und betreibt mit dem Hotel Weimar sowie dem Hotel Rössle zwei Sozialhotels, die wohnungslose Menschen vorrübergehend aufnehmen. Eine weitere Wohneinrichtung in der Tunnelstraße bietet 26 Einzelzimmer mit sozialpädagogischer Betreuung.

Nicht nur Wohnungen stellt der Verein den Klient:innen zur Verfügung, er berät auch: Die Ambulante Hilfe betreibt eine der drei Regionalen Fachberatungsstellen für Wohnungslosigkeit und bietet in Kooperation mit der Evangelischen Gesellschaft Stuttgart und dem lokalen Caritasverband die Zentrale Frauenberatung an. Ebenfalls mit dem Caritasverband Stuttgart organisiert der Verein die Straßensozialarbeit in Bad Cannstatt sowie an der Stuttgarter Paulinenbrücke. Außerdem gibt es das "MedMobil", welches als rollende Mini-Arztpraxis medizinische Hilfe an wechselnden Standorten anbietet.

Mit der Kamera nah dran

Roger ist eine von vielen Stimmen, die selten gehört werden. Daher versteht sich die Ambulante Hilfe auch als anwaltschaftliches Sprachrohr ihrer Klient:innen. "Die aufklärerische Arbeit ist neben unseren Hilfsangeboten immens wichtig, um strukturelle Verbesserungen für unsere Klient:innen zu erkämpfen", erklärt Manfred Neumann. "Wir trauen uns, Missstände offen anzuprangern, unbequem zu sein und wenn nötig auch zu skandalisieren." 1987 hat Neumann als Sozialarbeiter bei der Ambulanten Hilfe angefangen – als jemand, der hingesehen hat, wo andere wegschauten. Seine Leidenschaft für Fotografie wurde zum Teil seiner Arbeit: Bereits in seinem ersten Jahr organisierte er eine Fotoausstellung über Wohnungslosigkeit und veröffentlichte in den Folgejahren mehrere Bildbände im Quell-Verlag. "Meine Fotografien entstanden alle im Einverständnis mit den Abgebildeten. Ich bin mit der Kamera immer nah rangegangen, was viel gegenseitiges Vertrauen erforderte", sagt Neumann, dessen eindrückliche Bilder vier Jahrzehnte Sozialer Arbeit an der Basis abbilden. Sie zeigen Menschen ohne Wohnung, aber mit Würde. Keine Elendsästhetik, kein Voyeurismus, sondern eine respektvolle Dokumentation vom Leben jener, die gänzlich aus der Gesellschaft zu fallen drohen.

Ende Juni dieses Jahres verabschiedete sich Neumann in den Ruhestand. Rund 12.000 Bilder hinterlässt er der Ambulanten Hilfe. Was 1987 mit einer Fotoausstellung begann, soll auch 2025 so enden: Am 11. September, dem bundesweiten Tag der Wohnungslosen, eröffnet die Ambulante Hilfe die Ausstellung "Menschen in Armut und Wohnungsnot. 30 Fotografien aus 40 Jahren" mit Neumanns Bildern im Stuttgarter Rathaus. Sie portraitiert das Leben auf Stuttgarts Straßen und beweist, wie ernst dem Verein seine selbstgegebene Aufgabe als Wachrüttler der Gesellschaft im Dienst ihrer Klient:innen nimmt.

Keine Leitung, keine Distanz

Die Ambulante Hilfe ist weit mehr als ein Träger der Wohnnotfallhilfe. Sie ist ein gesellschaftliches Gegenmodell. Entstanden aus studentischer, gar revolutionärer Initiative im Geiste der 68er, verweigert sich der Verein bis heute der üblichen Logik Sozialer Arbeit: Veränderung durch Teilhabe steht im Mittelpunkt, kollektives Denken und Handeln auf dem Arbeitsplan. Es gibt keinen Chef, keine Trennung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, alle Entscheidungen trifft der Verein kollektiv. Ein Modell, das in Zeiten von Effizienzsteigerung und Hierarchieoptimierung fast radikal wirkt.

"Natürlich dauert in unserer basisdemokratischen Selbstverwaltung einiges auch einmal länger. Aber unsere Gesprächskultur schafft Transparenz und vor allem Identifikation. Ich bin hier nicht nur Sozialarbeiterin, sondern ein Teil des Vereins", sagt Schirin Ziesing. "Es gibt kein Oben und Unten. Dadurch versickert nichts in irgendeiner Organisationsstruktur und es gibt keine Entscheider:innen, die mit der Arbeit an der Basis nur wenig Berührungspunkte haben." Die Trennung zwischen Sozialer Arbeit und Verwaltung wird aufgehoben, die Sozialarbeiter:innen übernehmen außer Buchhaltung und Immobilienverwaltung fast alle anfallenden Aufgaben selbst, unter anderem die Personalplanung. Ziesing ist nicht nur in der Straßensozialarbeit tätig, sondern kümmert sich auch um die Öffentlichkeitsarbeit. Der Anspruch an Selbstverwaltung verhindert die Entfremdung von der eigenen Arbeit, von Menschen wie Roger, die wohnungslos, psychisch belastet und/oder suchtkrank sind.

Soziale Arbeit ist nicht neutral

Die Vereinsmitglieder sind überzeugt, dass Soziale Arbeit nicht neutral sein kann. Sie ist immer parteiisch, immer auch anwaltschaftlich. "Wir haben von Anfang an nie die Hände in den Schoß gelegt. Wir haben angeeckt, mit frechen Plakaten, offenen Briefen, Protestaktionen. Heute sind wir verlässlicher Teil des Hilfesystems, aber widerspenstig bleiben wir trotzdem", erzählt Neumann. Auch wenn die Tonlage ruhiger geworden sei, kommuniziert die Ambulante Hilfe weiterhin: Wohnen ist ein Menschenrecht und wer Hilfe braucht, hat darauf Anspruch. Diese Haltung ist unbequem und soll das auch sein. Denn der Trend geht eher in Richtung Bezahlkarte statt Bargeld, Sanktionen statt Vertrauen. "Immer öfter wird Armut nicht bekämpft, sondern verwaltet", sagt Neumann. "Aber Armut ist mehr als nur Geldmangel. Oft bedeutet sie auch Ausschluss aus dem sozialen, kulturellen und politischen Leben." Und Armut tötet: Wohnungslose Menschen leben im Schnitt 20 bis 30 Jahre kürzer als die restliche Bevölkerung.

"Das Hilfesystem in Stuttgart hat sich entwickelt – auch dank uns", sagt Neumann. Doch der Bedarf sei gestiegen, vor allem psychische Notlagen hätten zugenommen. "Es geht nicht mehr nur um fehlende Wohnungen, sondern um das Versagen eines Systems, das für bürgerliche Lebensläufe gemacht ist und alle anderen fallenlässt." Die Angebote der Ambulanten Hilfe haben sich in über 40 Jahren zwar diversifiziert, sind aber unterfinanziert. Neben ihren Pflichtleistungen fördert die Stadt Stuttgart viele Projekte nur anteilig, meist muss der Verein ein Viertel der Kosten selbst tragen. Jährlich muss der Verein daher circa 250.000 Euro aufbringen, durch Spenden und Erbschaften oder durch gerichtlich verordnete Bußgelder. "Die wegen der angespannten Wirtschaftslage für die kommenden Jahre angekündigten Einsparungen der Stadt Stuttgart könnten uns Projekte kosten", befürchtet Ziesing. "Gerade langfristige Planungen sind aktuell sehr schwer." Die Sorge ist groß, dass zentrale Angebote wie das Café 72 nicht gesichert sind. Mit Blick auf erwartete Kürzungen bei der Ambulanten Hilfe soll die Ausstellung des Vereins jedoch auch auf die Gefährdung der Rechte Betroffener aufmerksam machen, die ihnen zunehmend streitig gemacht werden.

Weiter Kaffee für 30 Cent?

Eine Einschränkung des Angebots der Ambulanten Hilfe würde die Lebensqualität vieler Klient:innen verschlechtern. So auch die von Roger, dem Rentner ohne Wohnung, der nicht stigmatisiert werden will. Der seine Post zur Beratungsstelle schicken lässt, regelmäßig im Café duscht, dort Zeitung liest und seine Pizza mit Freunden teilt. "Ich habe trotz Wohnungslosigkeit ein stabiles soziales Umfeld und die Angebote im Café 72 helfen mir, wie jeder andere Mensch auch am sozialen Leben teilzuhaben", betont Roger. Sein Alltag im Café 72 zeigt, was in all der Bürokratie oft untergeht: Würde. Und Hilfe zu erhalten, wenn sie benötigt wird.

Trotz Ruhestands kommt Manfred Neumann manchmal noch ins Café 72, um alte Kontakte zu pflegen. Dabei wurde ihm schon angeboten, die besten Plätze zum Pfandflaschensammeln zu zeigen, falls seine Rente nicht reichen sollte – man ist im Zweifel gegenseitig für sich da. Der langjährige Mitarbeiter Neumann geht zwar, aber es bleibt der konsequente Wille der Ambulanten Hilfe, weiterzumachen. Weiter unbequem zu sein. Weiter zu dokumentieren, aufzuklären, zu beraten, zu helfen. Im besten Fall bei einem Kaffee für 30 Cent.


Vernissage der Ausstellung "Menschen in Armut und Wohnungsnot" im Stuttgarter Rathaus ist am 11. September um 16.15 Uhr. Danach kann die Ausstellung bis zum 3. Oktober während der Öffnungszeiten des Rathauses von Montag bis Freitag zwischen 8 und 18 Uhr kostenfrei besichtigt werden.

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