Wenn Roger sich morgens eine Zeitung holt und in Bad Cannstatt im Café 72 einen Kaffee für 30 Cent trinkt, dann ist das mehr als ein kurzer Moment der Wärme. Es ist auch ein stiller Akt der Selbstbestimmung. "Ich habe 45 Jahre gearbeitet und bekomme Rente, aber bei den Mietpreisen würde davon fast nichts übrigbleiben", erzählt Roger. "Betteln will ich nicht, auch nicht beim Amt. Deswegen lebe ich auf der Straße." In der Waiblinger Straße 30 habe Roger zumindest einen Ort gefunden, der ihm die Teilnahme an sozialem Miteinander erleichtert. Nach dem Prinzip "Hilfe zur Selbsthilfe" bietet das Café 72 ihm und anderen Wohnungslosen Möglichkeiten, um die eigene Situation zumindest marginal zu verbessern. Beispielsweise bietet es täglich den rund 60 bis 80 Besucher:innen ein Mittagessen für einen Euro, eine warme Dusche, Schließfächer, eine Waschmaschine oder mit der benachbarten Beratungsstelle eine offizielle Postadresse.
Hinter dem Café 72 steht die Ambulante Hilfe. Die Geschichte des seit 1977 aktiven Vereins ist auch eine Geschichte sozialer Infrastruktur, die von unten aufgebaut wurde. Anfangs ging es primär darum, irgendwie die Lebensverhältnisse von Wohnungslosen zu verbessern, heute ermöglicht der Verein mit 152 eigenen Sozialwohnungen rund 200 Menschen ein bezahlbares Zuhause. Dafür wurden in der Vergangenheit 13 Bau- und Kernsanierungsprojekte umgesetzt, zuletzt 2022 acht Wohnungen in Zuffenhausen. Außerdem ist die Ambulante Hilfe am Wohnvermittlungsprojekt "Housing First" beteiligt und betreibt mit dem Hotel Weimar sowie dem Hotel Rössle zwei Sozialhotels, die wohnungslose Menschen vorrübergehend aufnehmen. Eine weitere Wohneinrichtung in der Tunnelstraße bietet 26 Einzelzimmer mit sozialpädagogischer Betreuung.
Nicht nur Wohnungen stellt der Verein den Klient:innen zur Verfügung, er berät auch: Die Ambulante Hilfe betreibt eine der drei Regionalen Fachberatungsstellen für Wohnungslosigkeit und bietet in Kooperation mit der Evangelischen Gesellschaft Stuttgart und dem lokalen Caritasverband die Zentrale Frauenberatung an. Ebenfalls mit dem Caritasverband Stuttgart organisiert der Verein die Straßensozialarbeit in Bad Cannstatt sowie an der Stuttgarter Paulinenbrücke. Außerdem gibt es das "MedMobil", welches als rollende Mini-Arztpraxis medizinische Hilfe an wechselnden Standorten anbietet.
Mit der Kamera nah dran
Roger ist eine von vielen Stimmen, die selten gehört werden. Daher versteht sich die Ambulante Hilfe auch als anwaltschaftliches Sprachrohr ihrer Klient:innen. "Die aufklärerische Arbeit ist neben unseren Hilfsangeboten immens wichtig, um strukturelle Verbesserungen für unsere Klient:innen zu erkämpfen", erklärt Manfred Neumann. "Wir trauen uns, Missstände offen anzuprangern, unbequem zu sein und wenn nötig auch zu skandalisieren." 1987 hat Neumann als Sozialarbeiter bei der Ambulanten Hilfe angefangen – als jemand, der hingesehen hat, wo andere wegschauten. Seine Leidenschaft für Fotografie wurde zum Teil seiner Arbeit: Bereits in seinem ersten Jahr organisierte er eine Fotoausstellung über Wohnungslosigkeit und veröffentlichte in den Folgejahren mehrere Bildbände im Quell-Verlag. "Meine Fotografien entstanden alle im Einverständnis mit den Abgebildeten. Ich bin mit der Kamera immer nah rangegangen, was viel gegenseitiges Vertrauen erforderte", sagt Neumann, dessen eindrückliche Bilder vier Jahrzehnte Sozialer Arbeit an der Basis abbilden. Sie zeigen Menschen ohne Wohnung, aber mit Würde. Keine Elendsästhetik, kein Voyeurismus, sondern eine respektvolle Dokumentation vom Leben jener, die gänzlich aus der Gesellschaft zu fallen drohen.
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