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Streit um Stuttgart-21-Flächen

Investitionen in eine Fata Morgana

Streit um Stuttgart-21-Flächen: Investitionen in eine Fata Morgana
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Die Verheißung ist so alt wie das Projekt selbst: Durch S 21 entstehe jede Menge neuer Wohnraum in Stuttgart und dadurch würden alle Wohnprobleme gelöst. Auch Rolf Gaßmann, Vorsitzender des Stuttgarter Mietervereins, befürwortet die Bebauung der Gleisflächen – und sitzt dabei einem Zahlendreher auf.

Wenn es um bezahlbaren Wohnraum, die Rechte von Mieter:innen oder den Kampf gegen Wohnungsleerstand geht, ist Rolf Gaßmann, Vorsitzender des Stuttgarter Mietervereins, immer vorne dabei. Und mit ihm oft der SÖS-Stadtrat Hannes Rockenbauch. Doch in einer Sache zeigten sich kürzlich schwer überbrückbare Gräben.

Streitpunkt ist die Frage der Bebauung eines Teils des Gleisvorfelds, das wegen Stuttgart 21 frei werden soll. Konkret: das Areal A2, auf dem das Europaquartier entstehen soll. Gegen die Bebauung läuft gerade das Bürgerbegehren "Bahnhof mit Zukunft" (Kontext berichtete). Zu dessen Initiatoren gehören auch Rockenbauch und seine Fraktionsgemeinschaft Linke-SÖS-Plus im Stuttgarter Gemeinderat.

Luftbild: Stadtmessungsamt Stuttgart, Grafik: Kontext

Bebauen oder nicht? S-21-Teilflächen

Bei der Benennung der Flächen, die durch S 21 frei und bebaut werden sollen, herrscht Verwirrungspotenzial: Alle Teilflächen (A2, B, C1 und C2) fasst die Stadt Stuttgart mittlerweile als Projekt "Stuttgart Rosenstein" zusammen, das geplante Rosensteinquartier ist aber nur eines davon: die Teilfläche B. Auf der Teilfläche A2, dem unmittelbaren Gleisvorfeld, soll das Europaquartier entstehen – nur gegen deren Bebauung richtet sich das Bürgerbegehren des Bündnisses "Bahnhof mit Zukunft". Auf Teilfläche C1 soll die Maker City entstehen, für C2 ist bislang kein eigener Name bekannt. Das Areal A1 gehört nicht zu den S-21-Flächen, es wurde seit Mitte der 1980er-Jahre sukzessive auf dem Gelände des ehemaligen Güterbahnhofs gebaut.  (os)

Gaßmann kritisierte vergangenen Monat gegenüber der "Stuttgarter Zeitung" (StZ) scharf das Bürgerbegehren. Wer die Wohnungsnot in Stuttgart ernst nehme, dürfe den Wohnungsbau hier nicht verhindern, wird Gaßmann zitiert. Um den Fehlbestand von "Zehntausenden Wohnungen" zu decken, brauche es alle verfügbaren Flächen. Dass auf den Gleisflächen wegen der hohen Erschließungskosten kein bezahlbarer Wohnraum entstehen könne, glaubt Gaßmann nicht. Die Stadt als Besitzerin der Grundstücke habe es in der Hand, dort bezahlbare Wohnungen zu schaffen. Und das Argument, die Gleisflächen sollten wegen der Kaltluftzufuhr unbebaut bleiben, kritisiert er mit dem Verweis auf die Luftverschmutzung durch Pendler:innen, deren Zahl zuletzt stark zugenommen habe. Mehr Wohnungen in der Stadt führten zu weniger Pendler:innen, so Gaßmanns Logik.

Flugs kam Widerspruch vom Bündnis "Bahnhof mit Zukunft" und den Mieterinitiativen Stuttgart. Der ehemalige Backnanger Baubürgermeister Frank Distel verfasste sogar einen offenen Brief an Gaßmann.

Uralte Debatte

Dass Gaßmann Stuttgart 21 schon immer positiv sah, ist kein Geheimnis. Im Grunde geht es hier um die x-te Auflage einer seit der S-21-Projektvorstellung 1994 geführten Debatte. Von Anfang an wurde von den Projektfans die große Zahl neuer Wohnungen als ein zentrales Argument für Stuttgart 21 angeführt. Argumentiert wurde damals oft mit dem vermeintlich zu erwartenden Bevölkerungswachstum – wenn auch empirisch dürftig unterfüttert. Vielmehr steigt und fällt die Bevölkerungszahl in der Landeshauptstadt.

Diese oft bemühte Wohnraumverheißung wurde seitens der S-21-Gegner:innen schon in den 1990ern kritisiert: Statt auf einen Zustand zu warten, der in ungewisser Zeit da sein wird, wäre es doch sinnvoller, sofort verfügbare Gebiete zu bebauen. Das 1997 präsentierte Modell der Stiftung Architekturforum zeigte: Auch wenn die Gleise vorm Kopfbahnhof blieben, gäbe es große Flächen nicht mehr gebrauchter Eisenbahninfrastruktur, die sofort bebaubar wären.

Als um 2010 der Protest gegen den Tiefbahnhof seine heißeste Phase erlebte, verwies unter anderem die Gruppe "ArchitektInnen für K21" auf solche Überlegungen. Der heutige Baubürgermeister Peter Pätzold (Grüne) gehörte zu dieser Gruppe, auch wenn man ihm das mittlerweile nicht mehr anmerkt. Aber 2011 schrieb er in einem Artikel, die "wahre städtebauliche Chance" liege "eindeutig" bei einem modernisierten Kopfbahnhofkonzept (Kontext berichtete). Dann stünde zwar "etwas weniger Fläche" für die Stadtentwicklung zur Verfügung, da oberirdische Gleise im Bereich des geplanten Rosensteinviertels blieben, aber andere Flächen hätten einen "deutlich geringeren Kostendruck und sind ab sofort bebaubar – nicht in einer ungewissen Zukunft".

Viele Flächen könnten schon jetzt entwickelt werden

In diese Richtung gingen auch einige Reaktionen, die Gaßmanns Bürgerbegehrens-Kritik nach sich zog. So unterstützt das Bündnis "Bahnhof mit Zukunft" zwar ausdrücklich die Forderung nach mehr Wohnraum. Aber eben nicht auf dem Teilgebiet A 2. "Denn auf dieser Fläche", sagt Gero Treuner vom Verkehrsclub Deutschland (VCD), "würden frühestens Mitte der 2030er-Jahre Wohnungen entstehen." Was noch optimistisch ist (Kontext berichtete). Ähnlich äußern sich Ursel Beck von den Mieterinitiativen Stuttgart – "der riesige Mangel an bezahlbaren Wohnungen ist akut und darf nicht 20 Jahre weitergehen" – und Frank Distel in seinem offenen Brief: "Braucht die Stadt ab den 2040er-Jahren überhaupt noch solche Wohnquartiere?"

Alternative Flächen gäbe es: die brachliegenden Areale der EnBW am Stöckach, wo 800 Wohnungen entstehen könnten, die riesigen Gebäudekomplexe, die die Württembergische Versicherung im Stuttgarter Westen hinterlassen hat, oder das Eiermann-Areal in Stuttgart-Vaihingen. Allein im letzteren könnten mit 1.400 Wohnungen schon so viele entstehen, wie auf dem Gleisvorfeld-Gelände A2 geplant sind (laut Stadt zwischen 1.380 und 1.670 Wohnungen).

Lieber die Taube auf dem Dach

Angesichts dieser Ausgangslage hat Hannes Rockenbauch den Eindruck, die Stadt verfahre nach dem Motto: lieber die Taube auf dem Dach als der Spatz in der Hand. "Es ist, als würde man auf eine Fata Morgana warten", kritisiert er gegenüber Kontext, "und die Stadt investiert richtig viel in diese Fata Morgana". Schon jetzt seien die Aufwendungen für die Öffentlichkeitsarbeit rund um das Rosensteinquartier sehr hoch, "das sind Ressourcen, die bei anderen Projekten fehlen, die man sofort entwickeln könnte." So passiere etwa beim Stöckach-Areal momentan nichts, bei anderen Baugebieten sei es ähnlich.

Überhaupt die Ressourcen: Allein für Entwicklung und Erschließung des Rosensteinquartiers werde selbst bei konservativer Kalkulation ein dreistelliger Millionenbetrag fällig werden, warnt Rockenbauch – die Mieterinitiativen sprechen sogar von einer Milliarde Euro. Und da sei die Beseitigung der Altlasten aus über einem Jahrhundert Eisenbahnbetrieb noch gar nicht eingerechnet, führt der Stadtrat aus. Die ist die große Unbekannte bei den Bebauungsplänen, "ein ganz riesiges Thema". Nachdem die Stadt 2001 die Gleisflächen von der Bahn gekauft hatte, verpflichtete sich die DB zwar, 15 Millionen Euro der Altlastensanierung zu übernehmen. Was aber womöglich nur ein Bruchteil sein könnte: Die Bahn hat für das Gesamtprojekt bis 2009 600 Millionen Euro dafür zurückgelegt. Seit 2010 trägt dieses Kostenrisiko die Stadt.

Bezahlbarer Wohnraum? Wenig wahrscheinlich

Ohnehin sind es extrem teure Grundstücke; 459 Millionen Euro kosteten sie die Stadt bei ihrem Kauf 2001, im Jahr 2012 sollen sie laut Rockenbauch schon eine Milliarde Euro wert gewesen sein. "Da wird kein bezahlbarer Wohnraum entstehen", ist der SÖS-Stadtrat sicher.

Auch dann nicht, wenn die Stadt, wie Gaßmann argumentiert, als Eigentümerin Einfluss nimmt, etwa durch Preis- und Belegungsbindungen? "Selbst mit jedweder denkbaren Subvention wird das für die am dringendsten nach geeignetem Wohnraum suchenden Familien mit Kindern nicht bezahlbar", glaubt Frank Distel. Auch Rockenbauch bezweifelt, dass die Stadt viel Einfluss nehmen kann. Dagegen spreche die aktuell enorme finanzielle Schieflage der Stadt – das Regierungspräsidium hat Stuttgart daher schon aufgefordert, Großinvestitionen zu unterlassen.

Selbst wenn es gelänge, auf den Rosenstein-Flächen zu 50 Prozent geförderten, also bezahlbaren Wohnraum zu schaffen – ein Ziel, das Baubürgermeister Pätzold 2022 formuliert hatte –, bleibt laut Rockenbauch das Problem: "Was ist mit den anderen 50 Prozent?" Die dürften dann eher im Hochpreissegment sein, "und allein diese 50 Prozent sorgen für eine Dynamisierung des Mietspiegels." Sprich: Die Mieten steigen.

Aber könnte es nicht der Markt richten? Die beliebte Losung "Bauen, bauen, bauen" zur Behebung von Wohnungsnot und explodierenden Mieten greift auch der Sozialdemokrat Gaßmann gegenüber der StZ indirekt auf: Die Knappheit an Wohnungen in Stuttgart treibe die Mieten nach oben, argumentiert er. Dass es sich hierbei um einen Mythos handelt, war schon mehrmals in Kontext zu lesen (unter anderem hier). Rockenbauch, von Beruf Architekt, betont: "Diese Vorstellung widerspricht jeglicher Empirie. Wohnungsbau per se löst nicht das Wohnungsproblem. Sonst würden zum Beispiel nicht in Frankfurt am Main, wo sehr viel gebaut wird, trotzdem die Mieten steigen."

Aus rund 2.000 neuen Haushalten werden 38.000

Den Wohnungsmangel macht Gaßmann an zwei Zahlen fest: Von 2020 bis 2024 sei die Zahl der Haushalte in Stuttgart um über 38.000 gestiegen, der Wohnungsbestand aber nur um 5.000, zitiert ihn die StZ. Hier ist Gaßmann einem Fehler aufgesessen: Die Stadt Stuttgart zählte 323.860 Haushalte im Jahr 2020 und 326.001 im Jahr 2024 – also nur eine Steigerung um 2.141. Woher kommen die 38.000 mehr bei Gaßmann? "Die Stadtverwaltung hatte in ihrem letzten Bericht einen Zahlendreher und zunächst 362.000 statt 326.000 Haushalte angegeben", erklärt Rockenbauch.

Die richtige Zahl entlarve laut Rockenbauch auch die allzu schlichte "Bauen, bauen, bauen"-Logik: Wenn in den letzten vier Jahren 5.000 Wohnungen gebaut wurden, bei tatsächlich nur rund 2.100 neuen Haushalten, "dann beweist das, dass Wohnraum schaffen allein keine niedrigeren Mieten schafft", sagt Rockenbauch.

Klimafolgen: Studien der Stadt widerlegen Gaßmann

Auch die Schlüssigkeit der Klima-Argumente zweifelt Rockenbauch an. Wenn Gaßmann nahelege, Wohnbau im A2-Areal würde die Pendlerzahlen und damit die Umweltverschmutzung reduzieren, so sei das empirisch nicht haltbar: "Es gibt keine Stadtentwicklung, die Verkehr reduziert", sagt der SÖS-Stadtrat. Im Gegenteil: "Es entsteht dort ein Verkehrsbedürfnis."

In Sachen Klima legte Gaßmann Ende August noch einmal nach: "Ein durchgrüntes Rosensteinviertel mit Parks und bepflanzten Dächern ist für das Stadtklima sicherlich besser geeignet als eine Schotterfläche, welche sich und die umliegenden Stadtviertel bei Sonne aufheizt", sagte er der StZ.

Dieser Aussage widersprechen indes offizielle Studien der Stadt. Der frühere Stuttgarter Stadtklimatologe Jürgen Baumüller untersuchte die Auswirkungen schon seit Mitte der 1990er-Jahre. Sein Befund lautete bereits 2010 zu Zeiten der Geißlerschen Schlichtung: Die geschotterten Gleisflächen seien mitnichten nutzlos für die Stadt, denn "sie kühlen in der Nacht sehr ab" – weit stärker als bebaute Flächen. Daher bewirke ihre Bebauung eine Verschlechterung des Stadtklimas. "Begrünte Dächer oder Grünflächen innerhalb der neuen Viertel könnten diesen Effekt vielleicht etwas abmildern, aber nie ganz kompensieren", bekräftigte Baumüller später noch auf Anfrage.

In einer Anlage zum Bebauungsplan für das A2-Gelände räumt die Stadt selbst ein: "Künftige Baukörper wirken thermisch belastend". Das Plangebiet sowie seine angrenzenden Bereiche fungieren "als Kaltluftproduktionsgebiete", weswegen mit Bebauung "ein Verlust von Kaltluft produzierenden Flächen einhergehe." Und je höher gebaut werde, umso schlechter seien die Auswirkungen auf das Stadtklima.

Es gibt allerdings auch einen Punkt, in dem das "Bahnhof mit Zukunft"-Bündnis, die Mieterinitiativen und Frank Distel mit Gaßmann ausdrücklich übereinstimmen: die Kritik am hohen Wohnungsleerstand in Stuttgart. 11.150 Wohnungen stehen laut aktuellen Zensuszahlen in Stuttgart leer (Kontext berichtete). Würde die Stadt strikter dagegen vorgehen, könnte das den Wohnungsmarkt entlasten. Für die Leerstandsbekämpfung hat die Stadt Stuttgart aber nur 4,5 Stellen geschaffen.

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