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Wohnungsleerstand im Stuttgarter Süden

Der Stadt reicht's

Wohnungsleerstand im Stuttgarter Süden: Der Stadt reicht's
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Nach einer Hausbesetzung kam die Wilhelm-Raabe-Straße 4 in Stuttgart-Heslach in die Schlagzeilen. Sieben Jahre nach der Räumung stehen die Wohnungen immer noch leer – angeblich, weil die ganze Zeit saniert wird, wie die Eigentümerfamilie aus London sagt. Die Stadtverwaltung hat lange zugesehen und macht jetzt ernst.

Eigentlich wirkt das Wohnhaus in Stuttgart-Heslach von außen ganz unscheinbar, eines wie es sie viele Tausende Male in Stuttgart gibt. Fünf Stockwerke, weiß gestrichene Fassade und ein Zaun mit Gitterstäben zur Straßenseite, dahinter stehen braune Bio- und grüne Papiermülltonnen. Hinter den Fenstern im Erdgeschoss sind bis auf eines die Rollos vollständig heruntergelassen. Erst bei genauerem Hinsehen fallen Details auf, die stutzig machen: Nur an einem der fünf Postkästen klebt ein Name, der Rest ist unbeschriftet, analog bei den Klingelschildern. Gleich zwei Sticker auf der Haustür weisen die Besuchenden auf die Überwachungskamera direkt über ihren Köpfen hin.

Tatsächlich ist das Haus mit Adresse Wilhelm-Raabe-Straße 4 eines der bekanntesten der Landeshauptstadt, nachdem es vor mehr als sieben Jahren zum Politikum wurde. Damals wurde es von einer Erbengemeinschaft an eine britische Investorenfamilie verkauft, zwei Wohnungen standen zu dem Zeitpunkt bereits leer. Zwei junge Familien, die händeringend nach einer bezahlbaren Wohnung suchten, wollten das schlicht nicht hinnehmen. Nach einer Demo des Aktionsbündnisses "Recht auf Wohnen" besetzten sie Ende April 2018 die leeren Wohnungen, ohne dafür ein Schloss knacken oder eine Tür aufbrechen zu müssen – die Türen standen einfach offen.

Die Besetzer:innen erfuhren eine Welle an Solidarität, nicht nur in der Nachbarschaft. Beim Möbelschleppen halfen auch die Stadträte Thomas Adler (Linke), Hannes Rockenbauch (SÖS) und Luigi Pantisano (Linke), letzterer inzwischen im Bundestag. Weil sie eine Dreiviertelstunde im besetzten Haus waren, mussten sie insgesamt 2.400 Euro wegen Hausfriedensbruch zahlen. Deutlich teurer wurde es für die Besetzer:innen. Die wären eigentlich bereit gewesen, Miete zu zahlen, auch die Eigentümerfamilie signalisierte Gesprächsbereitschaft. Und beantragte dann doch die Zwangsräumung. "Wehret den Anfängen", kommentierte diese der Landesinnenminister Thomas Strobl (CDU) damals – rechtsfreie Räume, damit meinte er die Hausbesetzungen, dürfe es in Baden-Württemberg nicht geben.

Sieben Jahre Sanierung

Seit die ungebetenen Bewohner:innen im Mai 2018 mittels Polizei entfernt und auch regulären Mieter:innen gekündigt wurden, steht das Haus bis auf eine Wohnung im zweiten Stock leer. Deshalb sind wohl die Rollläden im Erdgeschoss heruntergelassen: Das Innenleben soll vor neugierigen Blicken von außen geschützt werden. Hinter dem einzigen Fenster, bei dem das Rollo nur halb heruntergelassen wurde, ist es dunkel. Auf dem Fenstersims steht eine Dose, die ausweislich der Farbkleckse am Rand und eines an der Seite heruntergelaufenen Tropfens weiße Wandfarbe beinhaltet.

Offenbar wurde also drinnen gestrichen. Das würde passen, denn laut den Eigentümer:innen stehen die Wohnungen leer, weil saniert wird. Seit sieben Jahren. Dabei wies der Laminatboden, auf dem die Besetzer:innen ihre Matratzen legten, damals schon keinen einzigen Kratzer auf. Auch sonst präsentierte sich die Wohnung in einem eigentlich bewohnbaren Zustand. Der Verdacht liegt nahe, dass es den Eigentümer:innen nicht darum ging, die Wohnungen so bald wie möglich auf dem Mietmarkt anzubieten.

Vor dem Verkauf wurde das Haus im Netz beworben mit der Möglichkeit, "von dem Ausbau- und Mietsteigerungspotenzial" profitieren zu können. "Miete wie auch die Rentabilität" ließen sich "durch geringe Modernisierungen" stark anheben. Damals konnten noch elf Prozent der Modernisierungskosten jährlich auf die Miete aufgeschlagen werden, seit 2019 nur noch acht Prozent.

Nun steht im Grundgesetz, dass Eigentum verpflichtet. Wohnungen aus Spekulationsgründen nicht auf dem Mietmarkt anzubieten, geht damit nicht konform. Seit 2016 gilt in Stuttgart die "Satzung über das Verbot der Zweckentfremdung von Wohnraum", nach der es untersagt ist, Wohnungen ohne triftigen Grund länger als ein halbes Jahr leer stehen zu lassen. Ein Verstoß kann die Stadt mit einem Bußgeld von bis zu 50.000 Euro ahnden. Nur Wohnungen, die "nachweislich zügig umgebaut, instandgesetzt oder modernisiert" werden oder "alsbald veräußert" werden sollen, sind von dieser Satzung ausgenommen.

Leerstand in Stuttgart

Der Zensus 2022 ergab, dass von fast 315.000 Wohnungen in Stuttgart knapp 68 Prozent vermietet, 29 Prozent von Eigentümer:innen bewohnt und dreieinhalb Prozent, also rund 11.150 Wohnungen, unbewohnt waren. Fast 4.200 Wohnungen standen am Stichtag der Erhebung bereits ein Jahr oder länger leer. Das statistische Amt Stuttgart geht davon aus, dass 1.600 bis 4.700 Wohnungen marktbedingt oder bewusst unbewohnt sind und mutmaßlich dem Wohnungsmarkt zugeführt werden könnten.

Der Stuttgarter Gemeinderat beschloss 2016 die Satzung "über das Verbot der Zweckentfremdung von Wohnraum". Wohnungen dürfen unbegründet nicht länger als sechs Monate leer stehen, ohne Genehmigung außerdem nicht länger als zehn Wochen im Jahr kurzzeitig vermietet werden, beispielsweise über Plattformen wie Airbnb. Damals hatte die Stadt nur zwei städtische Angestellte, um diese Satzung durchzusetzen, inzwischen sind es fünf. Seitdem wurden etwa 460 Wohnungen auf Grundlage dieser Satzung wieder dem Wohnungsmarkt zugeführt.  (ks)

Stadtverwaltung macht Druck

Was dabei als "zügig" gilt, ist allerdings nicht so genau definiert. Ein Nachbar meint, ab und zu seien Handwerker da, wie oft genau könne er nicht sagen. Ein anderer schätzt, dass etwa zwei Mal im Monat im Haus gearbeitet werde. Unmittelbar gegenüber wohnt auch Filippo Capezzone, Vorstandsmitglied der Stuttgarter Linken und aktiv im Mietnotruf der Partei. Bereits im vergangenen Herbst verlieh er im Gespräch mit Kontext dem Fortschritt der Sanierung das Prädikat "schleppend und langsam". Und daran habe sich nicht wirklich was geändert, ergibt ein erneuter Anruf.

Im Februar 2024 antwortete die Stadt auf eine Anfrage der Linken, das Baurechtsamt habe sich "immer wieder die Belege über Beauftragungen und Rechnungen von Handwerkern vorlegen lassen und den jeweiligen Bauzustand dokumentiert". Die Bauleitung habe bei Nachfragen der Stadt auch auf "generelle Probleme bei der Beauftragung von Handwerkern" verwiesen.

Inzwischen bewertet die Stadt den Fall ganz anders, wie eine Kontext-Anfrage ergibt: "Da nach Feststellung des Baurechtsamtes die Arbeiten vor Ort soweit abgeschlossen waren, dass eine Wohnnutzung möglich wäre, ist das Amt mit dieser Maßgabe auf die Eigentümer zugegangen. Da keine diesbezüglichen Anstrengungen erkennbar waren und nach unserem Eindruck wir nur hingehalten werden sollten, hat das Amt die Wiederzuführung zum Wohnungsmarkt am 12.3.2025 angeordnet." Die Eigentümer:innen legten Widerspruch ein, der aber wurde Ende Juni abgelehnt. Nach der Anordnung hätten innerhalb von zwei Monaten die Wohnungen "wieder einem Wohnnutzen zugeführt werden müssen". Das ist nicht geschehen, weshalb die Stadt ein Zwangsgeld in Höhe von 2.000 Euro festgesetzt hat. Erneut sollten die Wohnungen innerhalb von zwei Monaten auf den Markt oder bezogen werden – erneut ließen die Eigentümer:innen diese Frist verstreichen. Deshalb werde derzeit ein zweites, höheres Zwangsgeld vorbereitet, heißt es aus dem Rathaus.

Ob die britische Familie sich dann einsichtig zeigt, ist offen. Sollten die Wohnungen nach über einem halben Jahrzehnt Leerstand bezogen werden, wäre das ein Erfolg im Rathaus. Dort sind sie nämlich sehr froh, wenn die Wilhelm-Raabe-Straße 4 kein prominentes Beispiel für die Stuttgarter Wohnungsnot bleibt, ließ der stellvertretende Baurechtsamtsleiter Rainer Grund im vergangenen Herbst durchblicken. Und die fünf städtischen Angestellten, die für Zweckentfremdung zuständig sind, könnten sich den tausenden anderen leeren Wohnungen widmen.

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