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Leerstand und Zweckentfremdung

Diskussion ohne Durchblick

Leerstand und Zweckentfremdung: Diskussion ohne Durchblick
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In der vergangenen Ausgabe haben wir über Wohnungen und Häuser berichtet, die seit Jahren leer stehen und vergammeln. Im Stuttgarter Rathaus stand diese Woche Zweckentfremdung auf der Tagesordnung. Die große Frage: Wie kann dem Leerstand entgegengewirkt werden? Spoiler: so nicht.

Der linke Stadtrat Luigi Pantisano meldet sich mit einem Rechenbeispiel zu Wort: Sollten nur 5.600 der laut Zensus 2022 über 11.000 unbewohnten Wohnungen in Stuttgart rechtswidrig leer stehen, bräuchte es bei der derzeitigen Geschwindigkeit im Rathaus noch 110 Jahre, um sie wieder dem Wohnungsmarkt zuzuführen. Das sei ein "immenses Versagen der Verwaltung."

Ausgabe 709, 30.10.2024

Vergessene Orte

Von Korbinian Strohhuber

Die Mieten steigen, gleichzeitig stehen in der Landeshauptstadt Baden-Württembergs tausende Wohnungen leer. Wenn doch mal frisch sanierte Wohnungen auf den Markt kommen, sind sie kaum bezahlbar – und mehr Eigentümer:innen als von der Stadt gedacht lassen ihre Häuser lieber verfallen.

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Dann kommt er auf die Wilhelm-Raabe-Straße 4 zu sprechen, ein seit 2018 größtenteils unbewohntes Haus, das zwischenzeitlich aus Protest gegen den Leerstand besetzt wurde. Weil er mit zwei weiteren Stadträten den Besetzer:innen einen Besuch abstattete, musste er Strafe zahlen. Als er das schildert, lacht die CDU und klopft auf den Tisch. "Ich finde es irritierend, dass sich die CDU darüber freut, dass Rechtsbruch möglich ist", kommentiert Pantisano. CDU-Fraktionschef Alexander Kotz ruft ihm zu: "Sie haben Rechtsbruch begangen." Er werde berichten, wenn die ersten da wieder eingezogen sind, sagt Rainer Grund, stellvertretender Leiter des Baurechtsamts, und wendet sich an Pantisano: "Ich b­in da so glücklich wie Sie, wenn ich von der Wilhelm-Raabe-Straße 4 nie wieder hören muss."

Gut eineinhalb Stunden lang sollte sich der Ausschuss für Stadtentwicklung am Dienstag mit dem Wohnungsleerstand in der Landeshauptstadt beschäftigen. Grund präsentiert zunächst knapp den Stand der Dinge: Inzwischen seien alle fünf vorgesehenen Stellen, die Leerstand aufspüren und bei Bedarf ahnden sollen, in der Stadt besetzt, seit Inkrafttreten der Zweckentfremdungssatzung 2016 konnten 389 Wohnungen für ihren eigentlichen Zweck zurückgewonnen werden. Über 1.500 Verfahren wegen Zweckentfremdung seien abgeschlossen worden, 720 noch offen. Außerdem stärken Urteile des Verwaltungsgerichts Stuttgart und des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg der Stadt den Rücken: Die Satzung greife nicht in das grundgesetzlich verbriefte Eigentumsrecht ein und Wohnungen, die bereits vor Inkrafttreten der Satzung und ein halbes Jahr danach immer noch unbewohnt waren, stünden ebenfalls rechtswidrig leer. Die Satzung läuft Ende 2025 aus, der Wunsch der Verwaltung ist, sie bis 2030 zu verlängern.

EU gegen das "Airbnb-Problem"

Im Mai brachte die EU eine Verordnung auf den Weg, mit der das "Airbnb-Problem", also profitable Kurzzeitvermietung von Wohnungen, angegangen werden soll – schließlich würden die großen Player europaweit agieren. Die Mitgliedsstaaten sollen dazu eine digitale Zugangsstelle schaffen, mit der Behörden erstmals Zugriff auf die Buchungsdaten solcher Online-Plattformen hätten. Bisher weiß eine Stadt wie Stuttgart nämlich nicht, welche Wohnungen länger als die erlaubten zehn Wochen pro Jahr an Tourist:innen vermietet und somit dem Wohnungsmarkt entzogen werden. Zwar würde das Amt in konkreten Verdachtsfällen bei den Online-Anbietern anfragen, diese sind jedoch nicht zur Auskunft verpflichtet. Bis Ende Mai 2026 muss Deutschland die digitale Zugangsstelle eingerichtet haben.

Fraktionsübergreifend gab es zwar Lob für die Arbeit von Grunds Behörde – sogar AfD-Stadtrat Michael H. Mayer bezeichnet sie als notwendig in einer sozialen Marktwirtschaft – wenn auch immer gekoppelt an Kritik. Mayer nennt die geplante digitale Zugangsstelle ein "Bürokratiemonster". CDU-Mann Carl-Christian Vetter hakt nach, wieso es noch so viele offene Verfahren gebe, und bringt seine Zweifel an der Effizienz der Satzung zum Ausdruck: 389 zurückgewonnene Wohnungen in neun Jahren, das entspreche nur acht Wohnungen pro städtischem Mitarbeiter im Jahr. In seiner Rechnung berücksichtigt er allerdings nicht, dass nach Inkrafttreten der Satzung zunächst nur zwei Angestellte der Stadt mit Zweckentfremdung von Wohnungen betraut waren.

AfD-Stadtrat Thomas Rosspacher bezweifelt, dass es überhaupt Leerstand gebe, im Gegenteil: Ihn würden nur Mails von Menschen erreichen, die keine Wohnung finden. Sollten wirklich 11.000 Wohnungen leer stehen, würde das der Leerstandsquote von drei Prozent entsprechen, die Stuttgart benötige. Er erinnert an sein Wahlplakat zur Kommunalwahl, damals warb er mit dem Spruch "Schnelle Remigration schafft Wohnraum". Der Tenor: Illegale Ausländer:innen nehmen unberechtigt Wohnraum weg. Pantisano hatte damals Rosspacher aufgrund des Wahlplakats wegen Volksverhetzung angezeigt.

CDU-Idee: Entmietung gegen Leerstand

Wenn es nach dem Linken geht, sollte die Stadt mehr Bußgelder erteilen, immerhin müsste die Satzung "ein scharfes Schwert" sein. "Ich stecke die Kapazität meiner Leute lieber in die Zurückgewinnung von Wohnungen als in das Verordnen von Bußgeldern", entgegnet Grund. Er setze lieber auf konstruktive Gespräche mit den Eigentümer:innen, das habe schon oft funktioniert. Die Zweckentfremdungssatzung vergleicht er mit dem Blitzer am Straßenrand: Beides seien Instrumente, um das Recht durchzusetzen, nicht um Bußgelder einzusammeln. Einen Vergleich, den Pantisano so nicht stehen lassen will: Wer im Auto geblitzt werde, ohne ein Bußgeld fürchten zu müssen, hielte sich irgendwann nicht mehr an Geschwindigkeitsbegrenzungen. "Repressionsfetisch" nennt das FDP-Stadtrat Cornelius Hummel und lobt den Kooperationsgedanken seitens der Verwaltung.

Kotz und Michael Schrade (Freie Wähler) würden gerne das Mietrecht ändern, damit sich Vermieter ihrer Mieter:innen leichter entledigen können. Wie das den Leerstand beseitigen soll? Beispielsweise wenn eine Erbengemeinschaft eines Hauses sich nicht einigen kann, was mit der Immobilie geschehen soll. So könnte das Haus immerhin ein Jahr lang bewohnt werden statt leer zu stehen, bis die Erbengemeinschaft eine Entscheidung getroffen hat. Nur: Die Mieter:innen müssten mit staatlicher Gewalt des Hauses verwiesen werden, sollten sie sich weigern auszuziehen, beispielsweise weil sie keine neue bezahlbare Wohnung gefunden haben. Ein Gedanke, der auf Widerstand bei progressiven Stadträt:innen stößt.

Ein grundsätzliches Problem in der Debatte ist, dass sie keine gesicherte faktische Grundlage hat. Die Hochrechnungen des Zensus, die für Stuttgart 11.000 leere Wohnungen ergaben, gelten als sehr präzise. Doch dabei handele es sich um eine Momentaufnahme, schränkt Grund vom Baurechtsamt ein. Heißt: Ein Teil der Wohnungen könnte inzwischen wieder bewohnt sein. Darüber hinaus gilt nicht jede leerstehende Wohnung als zweckentfremdet: Zweitwohnsitze und Wohnungen, die fortlaufend saniert werden oder deren Instandsetzung als unwirtschaftlich gilt, gelten laut Satzung nicht als zweckentfremdet und die Behörde hat darüber keine Handhabe. Wie viele Häuser also tatsächlich rechtswidrig leer stehen, ist nicht bekannt. Ob das Personal im Baurechtsamt aufgestockt werden sollte, fragt SPD-Stadtrat Stefan Conzelmann. Sicher, das wäre sinnvoll, sagt Grund, er sei sich aber sicher, dass er keine weiteren Mitarbeiter kriege. "Ich bin schon gottfroh, dass ich die fünf Leute jetzt habe." Denn auch in Stuttgart fehlt es an Verwaltungspersonal. Man munkelt, das liege unter anderem an zu teurem und fehlendem Wohnraum.

Langes Warten auf Wohngeld

Vergangenes Jahr hat die Ampelkoalition eine Novelle des Wohngeldgesetztes verabschiedet, das sogenannte Wohngeld-Plus. Damit haben mehr Menschen in Deutschland Anspruch auf mehr Geld. Vielerorts kam es in den Behörden zu einem Antragsstau. In Stuttgart wurde bereits 2022 eine "Taskforce Wohngeld" eingerichtet und 58 neue Stellen geschaffen, die 2023 "weitestgehend besetzt" wurden, heißt es auf Anfrage aus dem Rathaus. Die Zahl der Wohngeldanträge sei 2023 um rund 30 Prozent gestiegen, allein im ersten Quartal um 60 Prozent. Trotz der zusätzlichen Stellen sei bis heute die Bearbeitungszeit beeinflusst.

Um Verzögerungen zu überbrücken, hatte der Gesetzgeber eigentlich vorgesorgt: Die kommunalen Behörden dürfen nach eigenem Ermessen vorläufiges Wohngeld auszahlen. Sollte der Wohngeldanspruch geringer ausfallen als vorläufig geschätzt, kann die Stadt den zu viel ausgezahlten Betrag zurückfordern. Ergeht nach einem Jahr keine endgültige Entscheidung, gilt eine vorläufig bewilligte Zahlung als festgesetzt.

Die Stuttgarter Wohngeldbehörde hat von dieser Möglichkeit bislang aber keinen Gebrauch gemacht. Die Wohngeldbehörde ziehe eine endgültige Entscheidung vor, "sobald alle Berechnungsgrundlagen vorliegen, um Rückforderungen oder Erstattungen zu vermeiden", lautet die offizielle Begründung. So kommt es, dass manche teils Monate oder sogar über ein Jahr auf ihr Wohngeld warten, wie Filippo Capezzone vom Mietnotruf der Linkspartei berichtet.  (ks)


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1 Kommentar verfügbar

  • Andrea K.
    vor 3 Wochen
    Antworten
    So richtig schlau werde ich aus dem Artikel nicht.

    Worum geht es denn jetzt?
    Leerstand bei Wohnbaugesellschaften und Investoren hat sicher andere Gründe als bei einer Einliegerwohhnung. Natürlich kann man das ganz allgemein anprangern - aber mit welchem Ziel?

    Und Zweckentfremdung hat…
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