Das Neueste von A-, B- und C-Prominenten, Blaulichtberichte der Polizei, ein paar politische Forderungen und zur Zeit natürlich die Präsidentschaftswahlen in den USA: Die Blätter sind voll davon. Manchmal hat Joe Bauer das Gefühl, "das ganz normale Scheißleben kommt zu selten in der Zeitung vor". Vor knapp 30 Jahren hat er daher damit angefangen, seine Umgebung und ihre Geschichte zum Sujet seiner Kolumnen zu machen. "Aber ich bin kein verhinderter Heimathistoriker, ja?", sagt er mit zusammengezogenen Augenbrauen – um dann mit allerlei Historischem zur Heimat aufzuwarten.
Den entscheidenden Unterschied zur oftmals dröge aufbereiteten Lokalkunde könnte Bauer darin sehen, dass er sich mit Gedankensprüngen gegen Monotonie in seinen Texten wehrt. Als passionierter Spaziergänger weiß er, dass Perspektivwechsel das Leben spannend machen. Entsprechend sind seine Kolumnen geprägt von einem assoziativen Stil, der weite Bögen schlägt. Und wenn er ein Bühnenprogramm gestaltet, kommen auch mal Alphorn und Ballade zusammen. Völlig abwechslungslos kommt allerdings seine Garderobe: Wobei er angeblich nur deswegen ausschließlich Schwarz trägt, weil das die Entscheidungsfindung am Kleiderschrank beschleunige.
Bauer findet es normal, über die eigene Stadt zu lästern. Er macht das in Stuttgart schon ein halbes Jahrhundert so, ärgert sich beispielsweise über das unzugängliche Neckarufer: "Den Charakter einer Stadt erkennt man an ihrem Umgang mit Wasser. Stuttgart hat aus einer Lebensader einen Industriekanal gemacht." In dem das Wasser überdies so schmutzig ist, dass ein Bad die Gesundheit gefährdet.
Allerdings ist Bauer immer noch hier, es muss sich also um eine Hassliebe handeln. Dass ihm was an der Stadt liegt, zeigt sich vor allem, wenn komplexgeplagte Konservative sie unter Wert verkaufen. "Jeder neue Club bedeutet hier 'ein bisschen Berlin', jede Bäckerei 'ein bisschen Paris', jedes Hochhaus 'ein bisschen New-York' – und mittendrin der Backnang-Frank, seit seinem jüngsten TV-Ausraster auch bekannt als Nopper Nervenblank."
Wer es noch nicht mitbekommen hat: Der Stuttgarter Oberbürgermeister Frank Nopper (CDU) zeigte sich kürzlich extrem verärgert, als ihn ein Fernseh-Team des SWR befragte, warum die Digitalisierung der Verwaltung nicht so recht vorankommt. Daneben verkörpert Nopper allerdings auch fast alles, gegen das Joe Bauer, kolumnierende Antithese zum Leuchtturmgeschwätz, seit Jahrzehnten anstänkert: Die in Stuttgart weit verbreitete Kombination aus provinzieller Jovialität und angeschwollenem Geltungsdrang, die für Marketingzwecke jeden Stuss abfeiert, aber blind ist für die eigentlichen Qualitäten der Stadt.
Ein Beispiel von vielen ist laut Bauer die Vernachlässigung von Gerda Taro, die zwar 19 Jahre lang in Stuttgart gewohnt hat, aber hier kaum bekannt ist – während New Yorker Museen T-Shirts mit ihrem Gesicht verkaufen. "Das hat etwas mit unserer so viel gerühmten 'Erinnerungskultur' zu tun", schreibt er in einer seiner ersten Kolumnen für Kontext, erschienen im Juli 2020. "Was für hartnäckige Prozesse waren es, den Widerstandskämpfer Georg Elser und die antifaschistische Fotokünstlerin Gerda Taro halbwegs aus den Tiefen des Verdrängens und Vertuschens zu befreien. Und meist ist die offizielle Erinnerungskultur nur ein Blick zurück, als wolle man ablenken von der Realität des deutschen Faschismus und der Erkenntnis, dass Geschichte immer auch Gegenwart ist."
Wenn der krampfhafte Drang, unbedingt Weltstadt sein zu wollen, mal wieder dazu führt, die spannenden Personen, die in der Stadt gewirkt haben, zu übersehen, will er vernachlässigte Geschichten und vernachlässigte Geschichte erzählen. Allerdings werden die Ausflüge ins Historische meist aufgelockert durch skurrile Alltagserlebnisse, etwa wenn ein kleines Mädchen die Cowboy-Stiefel des 70-Jährigen für Stöckelschuhe hält und ihn fragt, warum er sich wie eine Frau anzieht.
Neue Plattform, neues Publikum
Angefangen hat Bauer seine journalistische Laufbahn als Sportredakteur, dann bearbeitete er 16 Jahre lang Kulturthemen für die "Stuttgarter Nachrichten" und schrieb dort anschließend von 1997 bis 2019 Kolumnen, mindestens drei pro Woche. Zum Renteneintritt hat er diese Tätigkeit eingestellt, seit April 2020 veröffentlicht er alle zwei Wochen in Kontext. Das hat den Charakter seiner Texte verändert. "Aber nicht, weil ich bei den Nachrichten zensiert worden wäre", betont er, da er diesen Unsinn immer mal wieder zirkulieren hört und kein schlechtes Wort auf seinen alten Laden kommen lässt. "Im Gegenteil. Bei manchen Sachen, die ich im Zorn über Stuttgart 21 geschrieben habe, wäre es vielleicht besser gewesen, wenn mich jemand zurückgepfiffen hätte."
Der Unterschied rühre ganz einfach daher, dass sich das Publikum der Publikationen stark unterscheide. Zudem hat sich das gesellschaftliche Klima weiter verschärft, der globale Rechtsruck stellt Menschen mit Geschichtsbewusstsein die Nackenhaare auf. Da ist es für ihn wichtig, aktiv zu werden, er sagt dazu: "Lieber zu weit gehen als gar nicht." Und dass er inzwischen nur noch alle zwei Wochen kolumniert, ermöglicht mehr Engagement auf anderen Kanälen: Schon zu seiner Zeit bei den "Nachrichten" redete Bauer hin und wieder auf Demonstrationen, etwa zu S 21 oder der extremen Wohnungsnot. Seit dem Eintritt in den angeblichen Ruhestand gibt es aber kaum noch eine Kundgebung in Stuttgart, auf der man ihm nicht begegnet, viele davon organisiert er selbst mit, zum Beispiel im Netzwerk gegen Rechts. Aber auch der Kampf gegen die Zumutungen eines enthemmten Kapitalismus gehört zum Portfolio.
Meistens gewinnt der Kapitalismus. Hin und wieder auch die Menschen. Als die Pläne bekannt wurden, das Stuttgarter Metropol-Kino mit seiner reichen Geschichte zur Investoren beglückenden Kletterhalle umzufunktionieren, schrieb Bauer: "Eine solche Schande wäre nichts Ungewöhnliches in einer Stadt, die ihre Gestaltung und Geschichtsschreibung seit langem Immobilienspekulanten überlässt." Die Kolumne schilderte dann nicht nur die Geschichte des Kino-Gebäudes, sondern des halben Viertels, inklusive Anekdoten zu den dort verkehrenden Stars, von Franz Liszt bis zu König Ludwig II. von Bayern. Am Schluss kam etwas Unerwartetes heraus: Bauer, Filmemacher Goggo Gensch und einige Gleichgesinnte machten sich für den Erhalt des Kinos stark. Und nach zwei Jahren Einsatz konnte das Kino tatsächlich wieder eröffnen.
Beharrlich wie erfolgreich war auch die Arbeit der Künstler:innensoforthilfe, die während der Corona-Pandemie Geld an Bedürftige verteilte, und deren Koordination wahrscheinlich nicht parallel zu einem Vollzeitjob möglich gewesen wäre. Insgesamt hat das kleine Team um Bauer 1,4 Millionen Euro Spenden eingesammelt und verteilt.
1 Kommentar verfügbar
nesenbacher
am 08.11.2024Immer weiter, auch wenn die ganze Welt den A.... offen hat.
Humorvolle Grüße und Danke Joe!