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Wohnungsleerstand in Stuttgart

Vergessene Orte

Wohnungsleerstand in Stuttgart: Vergessene Orte
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Die Mieten steigen, gleichzeitig stehen in der Landeshauptstadt Baden-Württembergs tausende Wohnungen leer. Wenn doch mal frisch sanierte Wohnungen auf den Markt kommen, sind sie kaum bezahlbar – und mehr Eigentümer:innen als von der Stadt gedacht lassen ihre Häuser lieber verfallen.

Hanglage im Hallschlag, knapp 3.000 Quadratmeter umfasst das Grundstück. Auf der Straßenseite beugt sich der Giebel der Villa, unter ihm stützt sich ein großer Balkon mit eiserner Brüstung auf vier sandfarbenen Säulen. Auf dem Dach erheben sich zwischen den Schindeln einige Gauben, die dem Hang zugewandte Rückseite bietet in erhöhter Lage einen weiten Blick gen Südosten über das Neckartal.

Was wie eine Luxusimmobilie für Gutverdienende klingt, gleicht einer Bruchbude. 1910 wurde das Gebäude mit vier Geschossen und fast 1.200 Quadratmetern Fläche als Offizierskasino für eine angrenzenden Kaserne erbaut, nach dem zweiten Weltkrieg diente es als Bürogebäude für das Militär. Inzwischen steht es leer, die Natur ist Herrin des dazugehörigen Gartens. Wo einst ein Zaun das Gelände von Gehsteig trennte, wuchern Brombeersträucher, die Fenster sind vergittert und von innen mit Holzbrettern vernagelt, Ketten verschließen die Pforten. "Dieses Grundstück ist alarmgesichert und Videoüberwacht", warnt ein Schild. Das schreckt nicht alle ab, wie Trampelpfade durch das Gestrüpp um das Haus, Graffiti auf den Wänden innen sowie außen und achtlos weggeworfene Zigarettenschachteln belegen.

Das ehemalige Bürogebäude ist Sinnbild dafür, wie potenzieller Wohnraum ungenutzt bleibt und weiter verfällt. 2016 stellte der Bund das Offizierskasino zum Verkauf. Dem damaligen Stuttgarter Finanzbürgermeister Michael Föll (CDU) war der Kaufpreis von 1,5 Millionen Euro zu teuer, so ging die als Kulturdenkmal eingetragene Immobilie an ein Unternehmen von Christoph Gröner. "Stilvoller Wohnkomfort mit tollem Ausblick" mit über 1.000 Quadratmeter Wohnfläche sollte dort geschaffen werden. Passiert ist nichts.

Dabei wird erschwingliche Wohnfläche dringend benötigt. Und dennoch: Laut dem Zensus 2022, dessen Statistiken Mitte dieses Jahres öffentlich wurden, stehen mehr als 11.000 Wohnungen in Stuttgart leer – so viele wie beim vorherigen Zensus 2011. Die Zahlen gelten als präzise und widersprechen den Schätzungen der Stadt. Die beziffert in einem 2023 herausgegebenen Bericht zum Wohnungsmarkt den Leerstand mit 1,2 Prozent, also rund 3.000 Wohnungen, davon seien etwa 1.100 "marktaktiv", heißt, "unmittelbar vermietbar oder mit­telfristig aktivierbar". Am Begriff "marktaktiv" stört sich der Mieterverein Stuttgart. Er verneble das Leerstandproblem: Jede bestehende Wohnung könnte am Wohnungsmarkt aktiv sein, außer sie werde gerade saniert oder stehe in kurzer Übergangszeit auf einen neuen Nutzer, schreibt der Verein in einer Pressemitteilung.

Die Wilhelm-Raabe-Straße 4 steht weiter leer

Überrascht von den Zensus-Zahlen ist Filippo Capezzone, er ist Mitglied der Linken und engagiert sich bei deren Mietnotruf. Er kenne schließlich die Tendenz in der Stadt, dass jedes noch bewohnbare "letzte Loch" vermietet wird, erzählt er. Aus seiner ehrenamtlichen Arbeit kennt er das Schicksal von Mieter:innen, die ihre Nebenkosten nicht mehr zahlen können oder denen der Mietvertrag wegen Eigenbedarf gekündigt wird und die sich schwertun, eine neue bezahlbare Wohnung zu finden.

Capezzone hat den Leerstand zudem täglich vor Augen. Er wohnt gegenüber dem wohl bekanntesten leerstehenden Stuttgarter Haus: die Wilhelm-Raabe-Straße 4. 2018 besetzten ein Paar mit Baby und eine Mutter mit Kind zwei von vier leer stehenden Wohnungen (Kontext berichtete). Die in London sitzenden Investor:innen ließen das Haus räumen. Sechs Jahre später steht das Haus bis auf eine Wohnung weiter leer. Eine Kamera überwacht den Hauseingang. Im zweiten Stock sind Orchideen auf dem Fenstersims vor ordentlichen Gardinen zu erkennen, vor den Fenstern der Erdgeschosswohnung stehen ein Apfel-Mango-Saftkarton, Energiegetränkedosen und leere Flaschen.

Hinterlassenschaften durstiger Handwerker? Vermutlich. Intensiv gearbeitet wird dort aber offenbar nicht. Einmal im Monat komme mal ein Handwerker vorbei, schildert Capezzone seine Beobachtung, doch die Sanierung laufe "schleppend und langsam". Die Stadt müsse hier die "Daumenschrauben anziehen", gegebenenfalls ein Bußgeld androhe. Auf Anfrage der FrAktion (SÖS, Linke und Piraten) im Gemeinderat im September 2022 zur Untätigkeit in dem Haus, antwortete die Stadtspitze im Februar 2024: "Das Baurechtsamt hat sich in der Folge immer wieder die Belege über Beauftragungen und Rechnungen von Handwerkern vorlegen lassen und den jeweiligen Bauzustand dokumentiert." Der Innenausbau sei weit vorangeschritten, aber habe sich länger als gewöhnlich hingezogen. Es sei aber nicht möglich, ein Verschulden zu unterstellen. Die Bauleitung habe bei Nachfragen der Stadt auf "generelle Probleme bei der Beauftragung von Handwerkern" hingewiesen. Der Bau sei nachweislich nicht durch die Bauherrschaft eingestellt worden.

Eine zahnlose Satzung

Die Stadt Stuttgart hatte 2016 unter Oberbürgermeister Fritz Kuhn (Grüne) eine Satzung zur Zweckentfremdung von Wohnungen reaktiviert, die Leerstand von über einem halben Jahr verbietet. Davon ausgenommen ist Wohnraum, der "nachweislich zügig umgebaut, instandgesetzt oder modernisiert wird". Offenbar gilt die Renovierung der Wohnungen in der Wilhelm-Raabe-Straße 4, die sich inzwischen über mehrere Jahre hinzieht, noch immer als "zügig", solange die Eigentümer:innen der Stadt ab und an eine Rechnung vorlegen. Vielleicht mangelt es auch an Personal in der Stadt? Fünf städtische Angestellte sind für Zweckentfremdung zuständig, in den acht Jahren seit der Satzungsreaktivierung wurden 1.426 Verfahren seitens der Stadt eingeleitet – ob wegen Leerstand oder aus anderen Gründen, erfasst die Verwaltung dabei nicht.

Seit 2013 ist Stuttgart auf der Karte des Leerstandsmelders vertreten: Auf der Webseite können Aufmerksame und Ehrenamtliche, denen dauerhaft verschlossene Rollos, zugeklebte Briefkästen und namenlose Klingelschilder auffallen, die dazugehörigen Adressen angeben und das Problem so sichtbar machen. Über 400 Einträge verzeichnet die Webseite für Stadt und Umgebung, doch mittlerweile scheint sie nicht mehr aktiv gepflegt zu werden. In diesem Jahr gab es für die Landeshauptstadt nur zwei neue Einträge.

Darunter ist ein Mehrfamilienhaus in der Landhausstraße. Das wie aus der Zeit gefallene Treppenhaus ist mit blau lackiertem Holz vertäfelt, der farblich zum Holzgeländer passende braune Gummi löst sich von manchen Stufenkanten. Ein junger Mann wohnt hier in einer WG mit vier Mitbewohner:innen, er ist Hauptmieter. Insgesamt beläuft sich ihre Miete auf über 3.000 Euro für rund 200 Quadratmeter. Seit vier Jahren wohne er hier, nächstes Jahr muss er wohl ausziehen, sagt er. Denn: Die Vermietergesellschaft "win-win GmbH" möchte die Wohnung renovieren, der Mietvertrag ist befristet. Im ganzen Haus stünden drei Wohnungen durchgehend leer, berichtet der Mieter, darunter auch eine sanierte. Die etwa 100 Quadratmeter würden für knapp 2.200 Euro Kaltmiete angeboten. "Wer soll das zahlen?", fragt er. Für einen Nachbar eine Etage über ihm stelle sich die Frage nicht: Da wohne ein US-Soldat, die Miete zahlt die Army.

Nur ein paar Meter weiter in der Landhausstraße steht ein weiteres Haus leer, zumindest größtenteils. Der dazugehörende Eintrag im Leerstandsmelder ist datiert auf 2014. An den Klingelschildern fehlen Namen, viele der Fenster sind von innen mit Jalousien verhängt. Nur in einer Etage hängen schwarz-weiße Gardinen mit Pflanzenmuster, im Treppenhaus stehen zwei Fahrräder und ein Regenschirm.

Auch Gewerbefläche bleibt ungenutzt, beispielsweise am Cannstatter Wilhelmsplatz, im Parkhaus gegenüber der Stadtbahnhaltestelle. Rot-weiße Absperrgitter verschließen die Passage durch das Gebäude zum Cannstatter Bahnhof, es riecht nach Urin, auf dem Boden liegt Müll und Schutt, der Beton zeigt sein rostiges Stahlgerippe. Aus einem gelben Gartenschlauch läuft Wasser auf die Straße, seinen Ursprung hat der Schlauch irgendwo in einem ehemaligen CBD-Shop. Grün auf weiß werben Hanfblätter an der Glasfassade für den Laden. Ein Plakat verkündet seine Neueröffnung, ein darüber geklebtes Papier dessen Ende: "vorübergehend geschlossen!!" Eine Etage darüber war ein Coffeeshop beheimatet, die Inneneinrichtung ist noch da und erweckt den Eindruck, der Laden könnte jederzeit öffnen. Doch auch hier bleibt das schwarze Tor zum Eingang zu. "Vorübergehend geschlossen", heißt es im Netz.

Mehr als 30 Euro pro Quadratmeter

Auf der anderen Neckarseite im nördlichen Cannstatt in der Brückenstraße wird ein dreistöckiges Haus, das einst die Gaststätte Traube beherbergte, zu einem lukrativen Mietobjekt umgebaut. Noch lautet der häufigste Name am Klingelschild "Max Mustermann", nur drei tragen einen echten Namen. Auf Immobilienplattformen finden sich Anzeigen zum Haus: "WG-Neugründung" heißt es dort. Ein möbliertes Zimmer mit knapp 20 Quadratmetern in einer Fünfer-WG wird für 625 Euro Kaltmiete angeboten, 12 Quadratmeter für 525 Euro. Immerhin neu saniert.

Das Haus gegenüber hätte eine Sanierung ebenso bitter nötig. Die Fassade ist fleckig, genau wie der blaue Lack auf der Haustür, auf der eine mit schwarzem Filzstift angeschriebene Notiz auf den eigentlichen Eingang an der Rückseite verweist. Dort zeigt sich das Häuschen von einer noch schlechteren Seite. In der Glastür klafft ein großes Loch, der gläserne Regenschutz darüber hat Risse. Die Briefkästen sind zugeklebt, keine Namen an den Klingelschildern.

Auch in ansonsten beschaulichen Wohnsiedlungen Stuttgarts gibt es hässliche Flecken. An den verblichenen weißen Latten des Gartenzauns einer Doppelhaushälfte in Mühlrain hängt ein Schild "Betreten der Baustelle verboten!". Die Gartentür ist verschlossen, um das Häuschen herum wachsen Bäumchen und Gestrüpp in die Höhe. Holzlatten, Maurerwannen und ein halbvoller Kanister liegen im Vorgarten. Ob hier wirklich gebaut wird? Schon vor sechs Jahren wohnte hier niemand.

Ein Stück weiter südöstlich im hochgelegenen Stuttgart-Heumaden erstreckt sich der Blick über das Neckartal. Abgeschottet vom Zentrum und Trubel der Stadt, wirkt das Örtchen wie eine Vorzeigewohnsiedlung, in der viele gerne leben würden. Auch hier verfallen seit Jahren zwei Häuser, im Lauxweg und in der Dreizlerstraße. Die Gärten der Häuser grenzen aneinander, braune Pilze sprießen in Grüppchen aus der Erde, die Haselsträucher sind akkurat beschnitten.

Der Zustand der Gebäude dagegen spricht Bände, beide sind zur Straßenseite hin durch Bauzäune abgeschottet, bei einem schält sich die mintgrüne Farbe ab. Vor 25 Jahren seien die ersten Familien ausgezogen, vor etwa 15 Jahren die letzten, berichtet eine Anwohnerin. Seitdem stünden die Häuser unbewohnt leer. Zweimal im Jahr komme jemand, um sich um den Garten zu kümmern. Ansonsten passiert auch hier: nichts.

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1 Kommentar verfügbar

  • Walter Steiger
    am 30.10.2024
    Antworten
    Um die Casino-Ruine auf dem Hallschlag könnte sich vielleicht mal Herr Gröners neuer Prokurist Pofalla kümmern. Der kennt Stuttgart noch aus Lenkkreis(s)zeiten und dürfte, dank zuverlässiger Montblanc-Utensilien, für erste Unterschriften inzwischen startklar sein.

    https://www.wiwo.de/unternehmen/…
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