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PFAS und TFA

Verseucht in alle Ewigkeit

PFAS und TFA: Verseucht in alle Ewigkeit
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Sie sind in Fleisch, Böden oder Muttermilch nachweisbar: PFAS. Industriechemikalien, die, einmal in der Umwelt, nicht mehr rausgefiltert werden können. Die Firma Solvay in Bad Wimpfen leitet jeden Tag 24 Kilo eines PFAS-Stoffs in den Neckar, der schon in Tröpfchenmengen hochgiftig ist. Genehmigt bis 2044.

Es ist die Chronik eines Skandals: 1.500 Orte in Deutschland sind vom "Ewigkeitsgift" PFAS kontaminiert. Gift im Boden, Gift im Wasser, Gift in der Luft. Und weltweit sieht es nicht besser aus – eher im Gegenteil. Was war das doch für eine gewaltige Aufregung, als vor anderthalb Jahren diese Meldung von der PFAS-Verseuchung aufgeploppt ist, Medien berichteten 2023 reihenweise! Praktisch über Nacht fühlten wir uns von hochtoxischen, krebserzeugenden Stoffen überfallen, gegen die nicht das geringste Kraut gewachsen ist.

PFAS, das ist (grob gesagt) der Oberbegriff für synthetische Fluorverbindungen, von denen es weltweit nach Schätzungen mindestens 5.000 verschiedene chemische Verbindungen gibt. Verwendet werden sie sowohl bei der Oberflächenveredlung von Bratpfannen als auch bei wasserfesten Textilien, Imprägniermitteln, Farben, Medikamenten, Pflanzenschutzmitteln, in Klimaanlagen, Computerchips und und und. Mit anderen Worten: PFAS sind überall – und wir werden sie auch nicht mehr los, denn es handelt sich um sogenannte Ewigkeitschemikalien. Sie bauen sich nicht mehr ab, wenn sie erst einmal in die Umwelt gelangt sind.

Im September 2024 scheint das keine Menschenseele mehr zu jucken. Genauso rasch, wie der Schrecken über uns gekommen ist, haben wir die Sache wieder vergessen. Nun gut, da gab es jetzt diese klitzekleine Meldung (die es noch nicht einmal in alle Medien geschafft hat), dass die Niederlande Deutschland vorwerfen, zu große Mengen dieser Chemikalien, die im Verdacht stehen krebserregend zu sein, in den Rhein zu leiten. Aus dem Rhein gewinnt Holland zum Teil Trinkwasser. Die (grüne) Bundesumweltministerin Steffi Lemke sei aufgefordert, endlich konkrete Grenzwerte für die Einleitung von PFAS-Verbindungen festzulegen. Wie bitte?! Da gibt es eine offenbar hochgefährliche chemische Stoffgruppe im Wasser, aber keinen verbindlichen Grenzwert dafür? Und dennoch regt sich niemand (bis auf die paar Holländer) darüber auf? Das kann doch nicht wahr sein.

Ein Doktorand fand das Gift im Trinkwasser

Des Rätsels Lösung findet sich in der verzwickten Chemie dieser Sache. Denn wie erwähnt, gibt es tausende PFAS-Verbindungen, aber nicht alle sind toxisch. Und je nachdem, mit welchen anderen Stoffen sie in Kontakt kommen, ändert sich die Chose ein weiteres Mal. Wie soll man da durchsteigen, wenn man nicht Chemie studiert hat? Und vor allem: Wie sind die seitenlangen Abwiegelungs-Pressemitteilungen einzuschätzen, die von den einschlägigen Herstellern und ihren Lobbyverbänden über die Presselandschaft gestreut werden? Sich das alles zu erschließen, ist ziemlich mühsam und zeitaufwendig und – gewaltig schockierend.

Wir schreiben das Jahr 2016, als ein Doktorand im Karlsruher Technologiezentrum Wasser (TZW) interessehalber das Wasser des Neckars in seiner Heimatgemeinde Edingen-Neckarhausen im Rhein-Neckarkreis untersuchte. Denn aus dem Uferfiltrat des Neckars gewinnt die Gemeinde ihr Trinkwasser. Das Resultat schlug ein wie eine Bombe. Zunächst hielt man es für einen Messfehler, doch sämtliche Nachmessungen bestätigten das schockierende Ergebnis: über 20 Mikrogramm pro Liter der PFAS-Chemikalie Trifluoracetat (TFA) im Trinkwasser – und das bei einem Grenzwert von drei Mikrogramm pro Liter.

TFA gilt laut Sicherheitsdatenblatt als "gewässergefährdend (chronische aquatische Toxizität), verursacht schwere Verätzungen der Haut (...), ist gesundheitsschädlich beim Einatmen, schädlich für Wasserorganismen, mit langfristiger Wirkung". Und weiter: "Beschmutzte, getränkte Kleidung sofort ausziehen. Selbstschutz des Ersthelfers (…) Ätzwirkung, Bewusstlosigkeit, Kopfschmerzen, Kreislaufkollaps, Lungenödem, Gefahr der Erblindung...". Abschließend die Hinweise zur Entsorgung: "Nicht in die Kanalisation gelangen lassen (...) Es handelt sich um einen gefährlichen Abfall." Darauf startete Edingen-Neckarhausen eine hektische Sofortmaßnahme: Der Brunnen, aus dem die 14.000 Einwohner ihr Trinkwasser bezogen haben, wurde vom Netz genommen. Der Wasserpreis stieg dadurch um 35 Cent pro Kubikmeter.

Nach dem ersten Schock begannen die Untersuchungen, in denen sich die Landesanstalt für Umwelt (LUB) allmählich den Neckar hochanalysiert hat: überall überhöhte Konzentrationen von TFAS, bis zu 100 Mikrogramm pro Liter. Bis auf die Höhe von Bad Wimpfen. Dahinter war plötzlich Schluss. Also musste etwas in Bad Wimpfen der Verursacher sein.

"Da fliegt dir der Hut weg!"

Und siehe da, in Bad Wimpfen gibt es die Firma Solvay Chemie. Seit vielen Jahrzehnten produziert Solvay hier Fluorprodukte: für Kühlanlagen, Medikamente, Pflanzenschutz. Eines der dabei entstehenden Nebenprodukte ist TFA. Und von diesem TFA, das für nichts mehr zu verwenden ist, hat Solvay jahrelang bis zu zwölf Kilo pro Stunde in den Neckar geleitet. Ohne dass irgendeine der (zahlreichen) Überwachungsbehörden es irgendwie verhindert hätte. Kiloweise unkontrolliert eingeleitet. Einfach so. Kommentar eines fassungslosen Umweltwissenschaftlers: "Da fliegt dir der Hut weg!" Mit Namen genannt werden möchte er nicht, sowieso ist das Thema so brenzlig, dass niemand zitiert oder mit Namen genannt werden möchte.

TFA ist ein Stoff mit unbestritten toxischen Eigenschaften, eine jener Chemikalien, von der die europäischen Wasserversorger seit Langem fordern, dass Konzentrationen in der Größenordnung von maximal fünf Tropfen in einem olympischen Schwimmbecken keinesfalls überschritten werden sollten. Das ist die Gefahrenschwelle. Manche legen den Schwellenwert noch niedriger: ein Tropfen im ganzen Becken.

Und jetzt? Wie immer, wenn die Experten ratlos sind, ob und wie sie das Zeug wieder loswerden können, wurde zunächst einmal der Grenzwert hochgesetzt. Von drei auf 30 Mikrogramm pro Liter. Und weil es selbst dann noch einen gewissen Unsicherheitsfaktor gab, hat man sich beim Umweltbundesamt (UBA) dankbar auf ein Laborexperiment mit Ratten gestützt, das von der verursachenden Firma Solvay selbst in Auftrag gegeben worden war und das ergeben hat, dass man als neuen "toxikologischen Trinkwasser-Leitwert" durchaus auch 60 Mirkogramm pro Liter vertreten könne. Also das 20-Fache der ursprünglich als tolerabel angesehenen Menge. Der Grenzwert für Mineralwasser liegt übrigens bei 0,05 Mirkogramm pro Liter.

Dem Umweltbundesamt ist das alles nicht geheuer

Aber was hätte man denn anders machen können? Etwa die gesamten Trinkwasserbrunnen entlang des Neckars von Bad Wimpfen bis Mannheim stilllegen? Die Produktion bei Solvay einstellen? Da blieb dann offenbar nur ein Ausweg, um ein gesellschaftliches Erdbeben zu verhüten – und das hieß abwiegeln und den Grenzwert hochsetzen, bis es passt. Immerhin hatte sich Solvay mittlerweile mit dem Regierungspräsidium Stuttgart, das bisher konsequent weggeguckt hatte, darauf verständigt, künftig weniger TFA einzuleiten.

Dem UBA aber war die Chose (und ist sie noch immer) offenbar nicht ganz geheuer, denn seitdem heißt es in Publikationen der Behörde zum Thema: Man warne vor höheren Konzentrationen als drei Mirkogramm pro Liter, denn die "Risiken werden wahrscheinlicher, je langsamer der Stoff abbaut. Für TFA ist dieser Zeitraum praktisch unendlich lang, das Risiko wächst entsprechend und wird auch den kommenden Generationen überlassen". Und weiter: "Da TFA sehr gut wasserlöslich ist, gelangt es früher oder später auch in Trinkwasserressourcen (…) Es gibt keine praktikable und wirtschaftliche Methode, um TFA aus dem Wasser zu entfernen." Das bedeutet, dieses Problem wird uns bis in alle Ewigkeit erhalten bleiben und die Konzentration von TFA in Trinkwasser wird sich weiter steigern – es sei denn, man zieht jetzt schnell die Notbremse und leitet gar nichts mehr ein. Das fordert beispielsweise die europäische Trinkwasserrichtlinie im Sinne des "Vorsorgeprinzips für künftige Generationen".

Doch so rasch mochte Solvay nicht klein beigeben und warf beim letzten Aufploppen des PFAS/TFA Skandals im vergangenen Februar höchst erfolgreich mit Nebelkerzen, indem die Firma behauptete (wie auch jetzt gegenüber Kontext), TFA könne sich nicht im Körper anreichern. Eine Mär, die viele Medien einfach so geschluckt haben. Dabei ist diese Behauptung nach Recherchen der Umweltschutzorganisation Global 2000 mittlerweile eindeutig widerlegt: Amerikanische epidemiologische Studien beweisen eine 76-fach höhere Konzentration im menschlichen Blutserum als die entsprechende Konzentration im Trinkwasser. Eindeutiger kann ein Gegenbeweis nicht ausfallen. Kein Wunder, dass inzwischen auch die europäische Chemikalienagentur hellhörig geworden ist und TFA als toxischen Verdachtsfall untersucht, was in letzter Konsequenz zu einem TFA-Verbot führen müsste. Kein Wunder, dass auch die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen inzwischen klar und deutlich fordert: "Einleitungen von TFA, die direkt oder indirekt in den Rhein gehen, müssen beendet werden."

Der Bürgermeister hat Verschwiegenheit zugesichert

Doch so konsequent und logisch sich das auch anhören mag, die baden-württembergische Behördenwirklichkeit sieht anders aus. So hat das Regierungspräsidium Stuttgart nach Kontext vorliegenden Informationen am 30. April 2021 der Firma Solvay genehmigt, künftig ein Kilogramm pro Stunde TFA in den Neckar zu leiten, das sind 24 Kilo pro Tag und rund acht Tonnen pro Jahr. Diese Genehmigung läuft bis zum 31. Dezember 2044. Alles andere, schreibt das RP Stuttgart auf Anfrage von Kontext, sei nicht seine Sache, sondern "auf politischer Ebene zu entscheiden". Also weiter TFA einfach in den Neckar kippen, anstatt es aufzufangen und zu lagern, bis es irgendwann eine Möglichkeit gibt, die Chemikalie unschädlich zu machen. Trinkwasserschutz und Gesundheitsvorsorge hin oder her.

Was sagt man eigentlich in Edingen-Neckarhausen dazu? Alles im grünen Bereich, denn der Trinkwasserpreis ist deutlich gesunken, nachdem der örtliche Wasserversorgungsverband nun auch wieder die Stadt Heidelberg mit seinem Wasser beliefern darf, die nach Bekanntwerden der TFA-Verseuchung ausgestiegen war. Aber inzwischen ist die Sache mit dem Grenzwert zur Zufriedenheit aller geregelt worden: Das Wasser gilt wieder als unbedenklich.

Und was ist mit einem eventuellen Schadenersatz, den die Gemeinde von Solvay als Verursacher gefordert hatte? Dazu möchte der Bürgermeister keine Antwort geben. Man habe sich vertraglich zur Verschwiegenheit verpflichtet. So eine Antwort ist ja auch eine Antwort.

TFA im Trinkwasser kann man nicht riechen, nicht schmecken. Es reichert sich unbemerkt im Körper an. Und je länger es in die Umwelt gelangt – übrigens auch mit dem Regen – , desto mehr steigt die Konzentration im Körper. Oder genauer: in den Körpern von uns allen. Vor diesem Hintergrund könnte eine Regierungsbehörde ja ihrer Pflicht nachkommen und im Sinn des deutschen Wasserhaushaltsgesetzes (§ 48,1) nach dem Vorsorgeprinzip handeln, indem sie beispielsweise die Politik in Form des baden-württembergischen Umweltministeriums einschaltet. Man kann aber auch das genaue Gegenteil davon tun, indem man weiter Augen und Ohren vor der Realität verschließt, wie es das RP Stuttgart tut.

Fünf Tropfen TFA in einem Schwimmbecken gelten als hochproblematisch – und im Fall Solvay wird mit behördlichem Segen ein Kilo pro Stunde verklappt, acht Tonnen pro Jahr. Für die nächsten 20 Jahre. Bis zum 31. Dezember 2044. Dann ist das Kind endgültig in den Brunnen gefallen. Kann man halt nix machen, sagen die einen. Behördlich genehmigte, schleichende Vergiftung, sagen die anderen. Man kann aber auch Skandal dazu sagen. Oder es einfach runterschlucken. Am besten mit einem Schluck Leitungswasser aus Edingen-Neckarhausen.

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4 Kommentare verfügbar

  • Ludwig G.
    vor 3 Wochen
    Antworten
    Sehr geehrter Herr Bernhart,

    insbesondere wie Sie es schreiben >kapitalistischen Gesellschaft ALLES seinen Preis hat< hat im Kapitalismus alles seinen Preis, auch ein Schaden. Schauen sie doch nur die Schadenssummen in so manchen kapitalistischen Ländern wie den USA an, da überlegt man es sich…
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