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Nationalratswahl in Österreich

Ein Drittel wählt rechtsextrem

Nationalratswahl in Österreich: Ein Drittel wählt rechtsextrem
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Österreich steht nicht vor der Zeitenwende, Österreich ist mittendrin. Die ehedem ehrwürdige ÖVP verhandelt nun doch mit einer FPÖ, die getrost extremistisch genannt werden darf. Zieht Herbert Kickl tatsächlich ins Kanzleramt ein, ist der Staatsumbau besiegelt und Europas Ultrarechte hätte einen neuen Star.

Die Ausgangslage ist noch einigermaßen übersichtlich: Die Österreichische Volkspartei (ÖVP) musste bei den Nationalratswahlen im vergangenen Herbst der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) knapp, aber doch Platz eins überlassen mit gut 26 gegenüber fast 29 Prozent. Aus und vorbei war es deshalb mit der Regierung aus ÖVP und Grünen (acht Prozent), die sich ohnehin gegen Ende ihrer Amtszeit immer mehr voneinander entfernt hatten. Also mussten die Karten neu gemischt werden. Die ÖVP käme mit der SPÖ auf eine knappe Mehrheit von nur einem einzigen Mandat, was Regieren im ständigen Alarmzustand bedeutet hätte. Stießen also entweder die Grünen oder die liberale Neugründung hinzu, hätte eine solche Dreierkoalition eine hinreichende Mehrheit im Nationalrat.

Eine Zusammenarbeit mit dem Wahlsieger FPÖ hatten alle Parteien im Wahlkampf kategorisch ausgeschlossen. Bundespräsident Alexander van der Bellen (Grüne) fragte deshalb nach dem Urnengang in persönlichen Gesprächen mit den Parteivorsitzenden von ÖVP, SPÖ, Neos und Grünen ab, ob es dabei bleiben soll. Sie trafen sich noch einmal mit Kickl. Nach viermaligem Ja erteilte er dem bisherigen Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) den Auftrag zur Regierungsbildung. Die verbreitete Entrüstung darüber, dass er nicht den Erstplatzierten, eben FPÖ-Parteichef Kickl, vorzog, wird dem Sachverhalt nicht gerecht. Erstens steht darüber nichts in der Verfassung, und zweitens hat die FPÖ selbst anno 2000 an der Seite der ÖVP den Wahlsieger SPÖ ausgebootet.

Auf dem Weg zur "Festung Österreich"

Die Bemühungen von ÖVP, SPÖ und Neos um eine Dreierkoalition scheiterten, kurz darauf auch ein letzter Anlauf von ÖVP und SPÖ. Jetzt greift aber die FPÖ selbst nach dem Kanzleramt. Die Aussichten auf eine Einigung zwischen Blau und Schwarz gelten als gut. Die Konstellation wäre neu in Mittel- und Westeuropa. Wie neu, wird im Programm ersichtlich, mit dem die vom Alleinherrscher Kickl geführte Partei in den Nationalratswahlkampf gezogen ist unter dem Titel "Festung Österreich – Festung der Freiheit". Eine an- und aufregende Lektüre mit den Leitideen: weniger Staat, weniger Sozialstaat, weniger Fremde, weniger wokes Zeug, weniger Europa, weniger Klimaschutz, weniger Belehrungen durch mediale Besserwisserei speziell durch den öffentlich-rechtlichen ORF.

Die sogenannten "Freiheitlichen" vertreten einen rabiaten Neoliberalismus. Begriffe wie Etat oder Haushalt kommen im Programm nicht vor, dafür aber die absurde Idee, in der Verfassung "analog zum jüngsten Urteil des italienischen Verfassungsgerichts" festzuschreiben, dass es nur zwei Geschlechter gibt, "weil auf der Zweigeschlechtlichkeit das gesamte Rechts- und Gesellschaftssystem aufgebaut ist". Sämtliche internationalen Verträge sollen zur Disposition stehen, verlangt wird die Einrichtung eines "Fremden-Schnellgerichtshofs" sowie der Ausstieg aus dem Europäischen Asylsystem, aus der CO2-Bepreisung und dem "ideologischen Klimaschutz". Und so weiter und so fort.

Noch viel länger ist die Latte erstaunlicher Fehlleistungen von Kickl selbst, von denen nahezu jede einzelne in der Bundesrepublik eine politische Karriere beendet hätte. In Österreich hat sie den Aufstieg des Orban-Bewunderers und Putin-Komplizen eher befördert als behindert. Kickl, sein Studium der Fächer Geschichte und Philosophie hat er abgebrochen, scheut die Nähe zur rechtsextremistischen "Identitären Bewegung" nicht, hält sie sogar für ein "unterstützenswertes Projekt". ÖVP, SPÖ Grüne und Neos hingegen sind für ihn eine einzige "Lügenbrut". Im Wahlkampf empfahl er diesen "Einheitsparteien" gemeinsames Antreten auf einer "Liste Volksverrat". Schon vor mehr als zehn Jahren leistete sich der passionierte Bergsteiger und Vater eines Sohnes einen antisemitischen Frontalangriff auf den damaligen Präsidenten der Israelitischen Kultusgemeinde Ariel Muzicant: "Wie kann einer, der Ariel heißt, so viel Dreck am Stecken haben?" Muzicant revanchierte sich: Wenn er Kickl höre, "erinnert mich dieses Gehetze und die Sprache an Joseph Goebbels".

Die Öffentlichkeit ist abgestumpft

Tatsächlich greift der frühere FPÖ-Generalsekretär gern zu Formulierungen nahe an jenen von Adolf Hitler, etwa wenn er von "Peinigern und Unterdrückern" spricht, die "nichts in den Regierungsämtern verloren haben". Kickl verspricht "Erlösung", wirbt für sich als "Volkskanzler", das grüne Staatsoberhaupt Van der Bellen nennt er verächtlich "Mumie in der Hofburg", die sogenannten kleinen Leuten ködert er mit dem Wahlslogan "Euer Wille geschehe".

Wie so vieles, was ihm zum Nachteil ausgelegt werden könnte, spielt in einer schon ziemlich abgestumpften österreichischen Öffentlichkeit derzeit keine Rolle, dass der Nationalrat erst kürzlich seine Immunität aufhob: wegen des begründeten Verdachts einer gravierenden Falschaussage vor einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss. Für die FPÖ ist so etwas aber nur ein Anlass mehr, im Stile des Donald Trump von einer "Verfolgungsjustiz" zu schwadronieren. Von "Brandmauer" war ohnehin noch nie die Rede. Kickls Partei regiert in fünf der neun Bundesländer schon heute als Juniorpartner einigermaßen geräuschlos mit.

Im Bund hätte es mit den Grünen eine Alternative in Gestalt einer Dreierkoalition mit den Sozialdemokrat:innen (21 Prozent) gegeben. Wie Markus Söder (CSU) versuchen aber auch ÖVP-Granden – mit Erfolg –, die Grünen aus dem Spektrum prinzipiell akzeptabler Gesprächspartner zu streichen. Wenn sich bürgerliche Parteien aber die Wege zu Mehrheiten jenseits des rechten Rands verstellen, bleibt nur der Rechtsruck – in unterschiedlichen Varianten. In Schweden beispielsweise hätte es andere Möglichkeiten für Ministerpräsident Ulf Kristersson gegeben, als sich von den radikalen Schwedendemokraten tolerieren zu lassen. Spanische Regionalregierungen, angeführt von der Partido Popular, hätten nicht mit der extremen Vox gebildet werden müssen. Auch in Frankreich wird rechts geblinkt, weil Premier François Bayrou keine Mehrheit in der Nationalversammlung hat.

Außerdem sehen sich österreichische Industrielle und der Wirtschaftsflügel der ÖVP in einer neuen, sehr speziellen Rolle. Moderateste sozialdemokratische Forderungen werden vehement abgelehnt. Allen voran: eine zusätzliche Besteuerung der Übergewinne von Banken und eine maßvolle Wiedereinführung der 1994 abgeschafften Vermögenssteuerreform – "In Österreich besitzen die reichsten fünf Prozent mehr als die Hälfte des Vermögens", hieß es im SPÖ-Wahlprogramm 2024. Schon eine solche Zustandsbeschreibung ist marxismusverdächtig. Ebenso die Vision "einer Republik, in der alle ihren fairen Beitrag leisten". Dabei sollte die Steuer überhaupt erst ab 2,5 Millionen Euro greifen, selbstbewohntes Villeneigentum eingerechnet. Die Einnahmen wollte die SPÖ übrigens in die Stärkung der örtlichen Gesundheitsversorgung stecken und in Erleichterungen für 98 Prozent der Steuerzahler:innen.

Die Industrie macht fleißig mit

Mit der Axt wollen Interessenvertreter wie der Präsident der mächtigen Industriellenvereinigung Georg Knill an die Grundfesten der Zweiten Republik, wie sie nach 1945 entstand. An die Sozialpartnerschaft, an den Einfluss von Kammern und an Gewerkschaften. Einer künftigen Bundesregierung ist als unentbehrliches Dogma mit auf den Weg gegeben, dass das angeblich so gewaltige Haushaltsloch von 18 Milliarden Euro "nur ausgabenseitig" gestopft werden darf. Steuererhöhungen für Unternehmen und Unternehmer:innen sind tabu, dringend muss aber dieser vermeintlich überbordende Sozialstaat zurückgefahren werden. Und bei solchen Kommandos schlagen die Vertreter:innen des ÖVP-Wirtschaftsflügels traditionell die Hacken zusammen.

Knill ist geschäftsführender Gesellschafter der in 17 Ländern der Welt aktiven Knill-Gruppe, in der Anwandlungen aus dem Geiste des Manchesterkapitalismus nicht unbekannt sind. In einem steirischen Unternehmen drohte die Geschäftsleitung Warnstreikenden die Abmeldung bei der Krankenkasse an. "Die Zeiten der Bequemlichkeit sind vorbei", gibt Knill den Koalitionsverhandler:innen – übrigens nur zwei Frauen, bei einem guten Dutzend Männer – mit auf den Weg und behauptet, dass Österreichs Wirtschaft vom Export lebe: Das blendet die überproportionale Bedeutung des Tourismus für wichtige Regionen völlig aus. Auch unter früheren schwarz-blauen Regierungen – die erste war anno 2000 von der EU noch mit Sanktionen bedacht worden – blieben Gäste aus dem Ausland aus.

Der Wirtschaftsflügel der ÖVP, Teile der Neos, Industrielle oder Unternehmer:innen könnten aber nicht erfolgreich sein beim Versuch des Umbaus Österreichs ohne Unterstützung durch große Teile der Bevölkerung. Fremdenfeindliche, demokratieskeptische, medienverächtliche Stehsätze gehören längst zum ideologischen Repertoire in allen Gesellschaftsschichten. Die Rufe nach Disruption, elementarem Umbruch also, werden lauter und häufiger in gelehrten Abhandlungen des politischen Feuilletons. Jake Tapper, legendärer CNN-Anchorman, hatte noch in der Nacht von Donald Trumps abermaligem Wahlsieg diese Erklärung parat: Offenbar wollten viel zu viele Amerikaner:innen ihr Amerika zurück, eines allerdings, das es nie gab.

Fakten für Österreich sind der nach Corona wieder boomende Tourismus; die Zahl der KfZ-Neuzulassungen liegt ebenfalls deutlich über Vor-Pandemie-Niveau; das Pro-Kopf-Einkommen steigt Jahr für Jahr, die Inflation sinkt. In der Demoskopie jedoch legt in diesen ersten Tagen des Jahres 2025 – an Wochenenden sind die Parkplätze in den Skiregionen schon vormittags überfüllt – die FPÖ eine steile Aufwärtskurve hin, seit der Wahl um satte zehn auf jetzt fast vierzig Prozent. Nicht trotz, sondern wegen der diffusen Alles-wird-wieder-gut-Versprechen samt der Kickl-Verheißung gleich zum Start in die Koalitionsverhandlungen, zurückzukehren "zur Normalität in allen Lebensbereichen". Die Noch-Kanzlerpartei ÖVP ist abgestürzt auf unter zwanzig. Auch deshalb können Neuwahlen der Ausweg nicht sein: Solchen Wähler:innen ist kaum noch zu trauen. Und das gilt nicht nur in der Alpenrepublik.

AfD: Rechtsradikal als das neue Normal

Bei ihrem Parteitag am Wochenende im sächsischen Riesa hat die AfD ein neues Kapitel in ihrer inzwischen knapp zwölfjährigen Parteigeschichte aufgeschlagen: Der Wunsch nach Anschlussfähigkeit, um mitregieren zu können, hat sich überlebt. Redner (und wenige Rednerinnen), die in der Familienpolitik oder zum Abtreibungsparagraf 218 Widersprüche im Bundestagswahlprogramm aufzeigen wollen oder mangelnde Realitätstauglichkeit beanstanden, bleiben in der Minderheit. Beschlossen wird, ausländische Straftäter in Gefängnissen im Ausland zu inhaftieren – "nach dänischem Modell", obwohl es dieses Modell gar nicht gibt. Intensiv diskutiert wird auch, wie Druck auf werdende Mütter in der Konfliktberatung ausgeübt werden kann, einschließlich des Zeigens von Ultraschallbildern des Fötus. Die Idee, Regierungen per Volksentscheid abzusetzen, ist ebenfalls Thema – es käme dem Todesstoß für eine parlamentarische Demokratie gleich. Allerdings: Absurdes ist hier längst normal, wie die Beschlüsse gegen eine Impfpflicht oder das Wettern der Spitzenkandidatin Alice Weidel gegen Windräder ("Wir reißen alle nieder!") zeigen. Zu ihren Stehsätzen zählt die Formel "Wenn wir am Ruder sind".

Marktplätze, Sportheime und Festsäle werden bis zum 23. Februar außerdem geflutet mit der Umdeutung des Begriffs Evidenz. Evident für die blaue Blase ist, dass es sich um Zensur handelt, wenn Behörden gegen Hassrede im Netz vorgehen. Oder gegen die durch keine Statistik belegte Behauptung, mRNA-Impfungen hätten Millionen Menschen geschädigt. Und nicht zuletzt, dass "das ganze Klimagedöns unsere Gesellschaft kaputt macht". Tatsächlich ist etwas völlig anderes evident: Die Partei und ihre Führungsriege sind nicht willens oder offenkundig gar nicht mehr in der Lage, die Konsequenzen der eigenen Forderungen einzuschätzen. In der Windradfrage will die Kanzlerkandidatin falsch verstanden worden sein – was gar nicht möglich ist, weil sie die Formulierung in Varianten mehrfach wiederholt hat. Und die AfD-Klientel interessiert sich überhaupt nicht dafür, wer eigentlich die Leidtragenden des programmatischen Irrsinns, der Leugnung des menschengemachten Klimawandels, der Kürzungen und des Abbaus von Standards sein werden. Arbeitslose sollen nur Arbeitslosengeld bekommen, wenn sie drei Jahre in die (übrigens zu privatisierende) Versicherung eingezahlt haben. Strompreise würden explodieren, wären der "Märchenwald der Gebrüder Grimm" (Weidel) wieder windräderfrei und die Rückkehr zur Atomkraft besiegelt.

Der "Dexit" findet sich implizit im Wahlprogramm: "Die Vehemenz, mit welcher die Europäische Union die Transformation zum planwirtschaftlichen Superstaat in den letzten Jahren vorangetrieben hat, hat uns zu der Erkenntnis gebracht, dass sich unsere grundlegenden Reformansätze in dieser EU nicht verwirklichen lassen." Ein EU-Ausstieg würde Hunderttausende den Arbeitsplatz kosten, ebenso die von der AfD ersehnte Rückkehr zur D-Mark. Angesichts der Tatsache, dass Menschen unter wirtschaftlichem Druck oder in Abstiegsängsten überproportional rechtsaußen wählen, drängt sich also diese Schlussfolgerung auf: Käme sie an die Macht, produzierte die AfD sich ihre Wählerschaft selbst.  (jhw)

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8 Kommentare verfügbar

  • BLetta
    am 18.01.2025
    Antworten
    Ist Stefan Ernst etwa ein heimlicher (oder unheimlicher?) Verehrer von Stephan Ernst, der einfach das tat, zu was Unterstützer der hier von Stefan Ernst verteidigten Partei im Internet aufriefen?
    https://de.m.wikipedia.org/wiki/Mordfall_Walter_L%C3%BCbcke

    Es gilt die Unschuldsvermutung:…
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