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Nach dem Aus der Ampel-Koalition

Im Meer der Halbwahrheiten

Nach dem Aus der Ampel-Koalition: Im Meer der Halbwahrheiten
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Fakten verabschieden sich schleichend aus der demokratischen Weltpolitik, nicht nur in den USA. Nach dem Ampel-Aus ist die Union außer Rand und Band. Und kaum einer hält dagegen.

Es ist ein Satz zum dreimal Lesen: "Alles das, was Politik in der Demokratie wertvoll macht, hat die Bundesregierung in Trümmer gelegt." Manuel Hagel hat ihn in die Welt gesetzt, der Partei- und Fraktionschef der baden-württembergischen CDU mit sehr ausgeprägten Ambitionen, Winfried Kretschmann (Grüne) als Ministerpräsidenten zu beerben. Bei öffentlichen Auftritten legt Hagel denkbar großen Wert auf Verantwortungsbewusstsein und Bodenständigkeit ("Bei mir ist alles normal"), auf "klaren Kurs" und "kühlen Kopf".

Dazu will die maßlos übertreibende Frontalattacke auf die Ampel nicht passen. "Alles das"? Parlamente, Wahlen, Regierungen – das kann er nicht gemeint haben, als er einfach mal so drauflos geredet hat, am vergangenen Mittwoch im Landtag bei der Generaldebatte zum Doppelhaushalt 2025/2026 und damit noch vor Bekanntwerden des Endes der Berliner Dreierkoalition.

Hagels rhetorischer Exzess stellt nichts Geringeres fest als den Ruin der Politik in Deutschland, angeblich herbeigeführt von SPD, Grünen und FDP. Solche verbale Enthemmung, die zumal in der Union um sich greift, zeigt, dass Selbstbeobachtung und Selbstdisziplinierung nicht mehr funktionieren. Niemand unter seinen Beratern bemerkt, wie hoffnungslos pauschal und herabsetzend solche Äußerungen für Politiker:innen insgesamt sind, und dazu Ausdruck fehlender Reife, sogar unter Älteren: Etwa wenn Oberbayerns Alexander Dobrindt, designierter Spitzenkandidat der CSU bei den bevorstehenden Neuwahlen, Olaf Scholz als "Koma-Kanzler" bezeichnet und die "politische Insolvenzverschleppung" beklagt.

Noch toller unterwegs ist die Tauberbischofsheimer Bundestagsabgeordnete Nina Warken (CDU). Hagels Generalsekretärin spricht jetzt wie selbstverständlich vom "Kanzler und seiner Truppe, der ihre Posten und Pöstchen wichtiger sind als das Land". Auch nennt sie es, offensichtlich unwidersprochen von den eigenen Berater:innen und Kolleg:innen in der Bundestagsfraktion, "eine Farce, würde einer der Ampelmänner und -frauen jemals wieder für stabile Regierungen werben". Was will Warken damit auslösen? Ein Wahlkampfverbot für Scholz, für Vizekanzler Robert Habeck (Grüne), für Christian Lindner (FDP), der wieder Finanzminister werden will? Kein kleiner Teil der bisherigen Regierung wird demnächst in Koalitionsverhandlungen mit den Unionsparteien sitzen, so oder so. Warken wird nachgesagt, für Höheres vorgesehen zu sein. Ob sie sich beim ersten Kontakt mit den betroffenen Ampelmännern und -frauen entschuldigt?

Unappetitliche Scharmützel eskalieren

Es geht aber längst um viel mehr als den anständigen Umgang unter den politischen Führungskräften. Sogar vergleichsweise einfache technische Fragen rund um die Organisation vorgezogener Neuwahlen sind Grundlage eskalierender unappetitlicher Scharmützel. Und CDU-Politiker:innen aus dem Südwesten tun sich wieder besonders hervor, etwa Thorsten Frei. Der Erste Parlamentarischer Geschäftsführer der Bundestagsfraktion und Hagels Vize im Land, geht per X zunächst auf die SPD los: Die "sollte sämtliche Versuche unterlassen, Behördenleiter für parteipolitische Spielchen zu instrumentalisieren". Die Unterstellung zielt auf die Bundeswahlleiterin Ruth Brand. Kurz darauf in "Bild" dreht er den Vorwurf bereits um und nimmt Brand selbst aufs Korn – der Chefin des Statistischen Bundesamts mit SPD-Parteibuch und nicht weniger als 2.500 Mitarbeiter:innen unter sich könne er "nur raten, sich von niemandem instrumentalisieren zu lassen". Und CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann, ohnehin ein Liebhaber der Zuspitzung, verwandelt die Steilvorlage umgehend faktenfrei in eine Botschaft, die von Hetze nicht mehr weit entfernt ist: "Die Aussagen der Bundeswahlleiterin sind skandalös und beschämend und ein Spiegelbild dessen, was in Deutschland los ist."

Ausgelöst durch mahnende Hinweise zur möglicherweise überstürzten Nennung von Neuwahlterminen ist auf diese Weise eine Grundsatzdebatte über den Zustand der Republik entbrannt. Sachinformationen dringen nicht durch, sollen es offensichtlich auch nicht. Christian Jung, der Brettener FDP-Landtagsabgeordnete, überdehnt sogar, ohne jede Angst, sich lächerlich zu machen, die Möglichkeiten des 11. Novembers und fährt zu Brands Dienstort nach Wiesbaden, um im Statistischen Bundesamt "eine Papierspende" abzugeben. Er scheitert an der Pforte.

Ernsthaft springt der Berliner Landeswahlleiter Stephan Bröchler seiner Bundeskollegin bei, nennt viele gute Gründe, es mit dem "Sofortismus" nicht zu übertreiben, weil die Briefwahl organisiert und Auslandsdeutsche erreicht werden müssen, und nicht zuletzt, weil die erhebliche Gefahr besteht, Anfechtungsgründe zu liefern. Nicht solche Fakten drängen in den Vordergrund, sondern schnell die Tatsache, dass Bröchler ebenfalls SPD-Mitglied ist. Als würde ihm dies das Recht absprechen, auf objektive Hürden hinzuweisen.

Eine Hürde liegt besonders hoch. Nicht nur in Baden-Württemberg sind noch gar nicht alle Kandidat:innen nominiert – sieben von 38, Stand Ende vergangener Woche, auch Generalsekretärin Warken gehört dazu. Warken ist dennoch sicher, dass "wir unsere Landesvertreterversammlung zur Aufstellung unserer Liste für die Bundestagswahl im Dezember abhalten". Ort und Termin kann die Landesgeschäftsstelle allerdings vorerst nicht nennen.

Die Hessen sind übrigens nicht ganz so schnell. Ministerpräsident Boris Rhein (CDU) rutscht in einem der vielen TV-Interviews, die sich überschlagen, um Olaf Scholz und die Minderheitsregierung möglichst schlecht aussehen zu lassen, ein bemerkenswerter Satz über seinen Landesverband heraus: "Wir werden noch in diesem Jahr alle Kandidaten nominieren." Selbst der gefundene Kompromiss, am 23. Februar zu wählen, ginge dann nur schwer auf, weil Vorstandsberatungen und Listenparteitage stattfinden müssen, bevor Wahlunterlagen gedruckt und mit den notwendigen Fristen verschickt werden können.

Dennoch ergehen sich viele Sender in dümmlichen Umfragen, ob früher oder später gewählt werden soll – ohne jeden Verweis auf die notwendigen rechtlichen Rahmenbedingungen und die praktische Machbarkeit. Die Teilnehmenden wollen mit riesigen Mehrheiten schnell wählen – die allermeisten sicher ohne jede Detailkenntnis zu rechtlichen Vorgaben und notwendigen Abläufen. So braucht die Republik zum Beispiel nicht weniger als rund 600.000 Wahlhelfer:innen und 60.000 Wahllokale.

Sogar die "Unternehmer Baden-Württemberg" gießen reichlich faktenfrei mächtig Öl ins Feuer und unterstellen der Bundeswahlleiterin, dass "sie sich offenbar keine Gedanken darüber macht, welches Bild sie in Europa und weltweit mit solchen Aussagen von Deutschland zeichnet". Das ist schon allein deshalb dreist, weil die Bundeswahlleiterin ausdrücklich auf die Gefahr hinweist, dass nach der Wahl massenhaft Einsprüche gegen deren Verlauf erhoben werden, die womöglich vor Gericht erfolgreich sind, Nachwahlen erzwingen und so dann erst recht Deutschlands Ansehen in der Welt beschädigen. Gewiss wären die "Unternehmer Baden-Württemberg" dann gleich wieder mit die ersten und schärfsten Kritiker hiesiger Zustände.

Bayerns Digital-Staatsminister Fabian Mehring (Freie Wähler) lässt sich auch nicht lumpen, malt das Zerrbild der "staatsorganisatorischen Bankrotterklärung" an die Wand und führt ausgerechnet den lupenreinen Demokraten Elon Musk ins Feld: Während der "seine Raketen rückwärts einparken lässt, versinkt Deutschland im Chaos, weil wir warten müssen, bis die Bundesdruckerei Wahlscheine ausgedruckt hat, das ist absurd".

Erste Konsequenzen von Hass und Hetze

Hart gegen das Sonnengeflecht der Demokratie tritt Norbert Hofer, der frühere Chef der rechtsnationalistischen österreichischen FPÖ, wenn er Deutschland in der Neuwahl-Debatte "mit nicht klebenden Kuverts aus dem Depot von 2016 aushelfen" will. Das soll lustig sein, ist es aber nicht. Hofer erinnert an die von seiner Partei erfolgreich angefochtene Bundespräsidenten-Wahlen wegen fehlerhafter Kuverts und einem fehlerhaften Umgang. Die FPÖ bekam Recht vor Gericht, der Urnengang wurde wiederholt, auch aus der zweiten Stichwahl ging Alexander van der Bellen (Grüne) als Sieger hervor. Über Wochen wurden nicht nur im Netz und nicht nur unter FPÖ-Anhänger:innen Zweifel an demokratischen Wahlen, deren Ergebnissen und am politischen System insgesamt gesät.

Dabei sind spätestens seit 2011 und Sarah Palin, der Tee-Party-Ikone aus Alaska, die der erfolglose Präsidentschaftskandidat John McCaine zu seiner Vize erkor, die konkreten Konsequenzen drastischer Rhetorik belegt, erforscht und breit diskutiert: In Tucson/Arizona sollte die demokratische Kongressabgeordnete Gabrielle Giffords in einem Einkaufszentrum aus nächster Nähe per Kopfschuss getötet werden, mutmaßlich aufgestachelt durch Palins hasserfüllte Rethorik. Giffords überlebte, sechs Menschen, darunter ein Kind, starben in dem Blutbad, 13 wurden verletzt. Als "Mekka des Hasses und der Vorurteile" wurden die USA schon damals beschrieben. Es hagelte regelrecht Analysen nicht nur zur Verrohung durch Sprache, sondern auch zur Verletzung der Demokratie, wenn die Grenzen des Sagbaren und des Machbaren überschritten werden. Palin hatte nicht nur verbal gehetzt, sondern auch Wahlkreise, die zu den Demokraten gewandert sind, mit Fadenkreuzen versehen. Die Halbwertszeit aller Bekenntnisse nach dem Attentat ist erschütternd. Denn 13 Jahre später hindern Lügen, Hass, Hetze und faktenfreie Aufwiegelei 75 Millionen Amerikaner:innen nicht daran, dem verurteilten Straftäter Donald Trump ihre Stimme zu geben.  (jhw)

Ein anderer Wortführer beim unpatriotischen Niedermachen der politischen Mitbewerber:innen ist der Heilbronner Innenexperte Alexander Throm (CDU). Er befasst sich mit der Vorladung der Bundeswahlleiterin in den Innenausschuss des Bundestags und fragt, ob ihre Mahnung "auf eigene Initiative hin verfasst wurde oder ob das Bundeskanzleramt oder das SPD-geführte Innenministerium Einfluss darauf genommen haben". Der frühere Landtagsabgeordnete hält also für möglich, dass ein Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland bei einer Behördenchefin ein Schreiben bestellt und die prompt liefert. Throm wirft sogar die Unterstellung einer "möglichen Einflussnahme auf eine faire und unabhängige Wahlleitung" in das immer weiter anschwellende Meer der Halb- und Unwahrheiten. Gitta Connemann, die berühmt-berüchtigte Chefin des CDU-Wirtschaftsflügels, geht – ohne jeden konkret begründeten Vorwurf – noch einen großen Schritt weiter und verlangt die Ablösung nach der Wahl: "Meiner Ansicht nach hat die Bundeswahlleiterin in den vergangenen Tagen bewiesen, dass sie der Aufgabe nicht gewachsen ist."

Diese und andere Fehltritte sind Ausweis dafür, dass es in der Union nicht gut bestellt ist um emotionale und politische Reife als Voraussetzung für die Übernahme der Regierungsverantwortung. Und um die Bereitschaft, Habecks mahnende Worte ernst zu nehmen, dass wieder "Konstruktivität und Hilfsbereitschaft" unter den demokratischen Parteien belohnt werden müssten, dass ein neuer Umgang vonnöten sei. Ein Hinweis im Kleinstformat auf eine neue Tonlage könnte sein, wie CDU-Chef Friedrich Merz plötzlich über den Grünen als "angenehmen Menschen" redet, nachdem er nach dessen Amtsantritt immer wieder meinte, Habeck mit der Bezeichnung "Kinderbuchautor" abwatschen zu müssen. Offenbart wurde auf diese Weise auch, welche Begriffe der vermutlich künftige Kanzler der Bundesrepublik Deutschland für schimpfwort-tauglich hält.

Eine Konsequenz der nun also vermutlich Ende Februar stattfindenden Neuwahl ist übrigens, dass – bis zur nächsten Vertrauensfrage eines anderen Kanzlers oder einer Kanzlerin und dem vorzeitigen Ende einer künftigen Legislaturperiode – in Deutschland künftig alle vier Jahre im Winter gewählt wird, nach Weihnachten, vor oder im Karneval, weil der vorgezogene Urnengang den September-Turnus ab- und einen neuen auslöst. Eine Tatsache, die gerade den Parteien mit dem C im Namen eigentlich schwer zu denken geben müsste. Vielen Wähler:innen sind rund um Weihnachten christliche Grundsätze deutlich präsenter als im Juni oder September. Und darunter ist vielleicht sogar das achte Gebot: "Du sollst nicht falsch aussagen wider deinen Nächsten."

Zu den wenigen besonnenen Stimmen aus dem Umfeld der Union zählt Andreas Püttmann, dessen Worte sich konservative Scharfmacher zu Herzen nehmen sollten: "Diese mangelnde Seriosität stinkt mir", sagt der Politologe, der lange Jahre bei der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung tätig war: "Dass vor Mitte Februar eh nix geht, war doch klar. Und jede unfundierte Empörungswelle dieser Art beschädigt, synchronisiert mit rechtsradikalen Hetzmedien, weiter die Legitimitätsressourcen unserer Demokratie."

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12 Kommentare verfügbar

  • Bernhard Straile
    vor 2 Wochen
    Antworten
    Liebe Frau Henkel-Waidhofer,
    vielen Dank für Ihren Artikel, der auf eine sehr problematische Entwicklung hinweist. Da ich seit Herbst im Ruhestand bin, kann ich mir den Luxus leisten, manches live zu verfolgen.
    Am 8.11. fand im Bundestag eine aktuelle Stunde (https://www.youtube.com/watch?v=d9Nu80…
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