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Parlamentswahl in Frankreich

Mehrheit macht mobil

Parlamentswahl in Frankreich: Mehrheit macht mobil
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Frankreich hat ganz Europa überrascht – und sich selbst. "C'est Ouf", titelte die linksliberale "Libération", was so viel heißt wie: komplett verrückt. Der Wahlausgang zeigt, dass an der Urne ein rechter Durchmarsch durchaus zu stoppen ist.

Fréjus im Frühjahr 2024. Es ist noch beschaulich im Zentrum der 57.000 Einwohner:innen zählenden Stadt an der Côte d'Azur. Es regnet mehr als in anderen Jahren, aber weniger als in Zentraleuropa. Tant mieux, umso besser für die Touristen, sagt der Kellner. Das kühle Wetter ist eines der wichtigsten Themen im Café unter den Platanen, und die Europawahl im Juni, wegen deren Ergebnis Staatspräsident Emmanuel Macron Neuwahlen ankündigt, noch in vierwöchiger Ferne. Ohnehin, findet ein anderer Einheimischer, wird viel weniger als früher über Politik gesprochen, "weil niemand immerzu streiten will".

Wer hier über Politik reden wollte, käme an Camille Vigogne Le Coats "Les Rapaces" ("Die Raubvögel") nicht vorbei, der in Buchform gegossenen Untersuchung der "mafiösen Strukturen" der Marine Le Pen im Département Var, zu dem Fréjus gehört. In der Stadt, deren Name auf die Gründung des Forum Iulii durch Julius Cäsar verweist, stellt Le Pens Rassemblement National (RN) seit mehr als zehn Jahren den Bürgermeister. Und wie in einem Brennglas, warnt Le Coat, sei mitzuerleben, was aus Frankreich werden kann, sollte der RN eines Tages doch das ganze Land regieren: Die Spanne reicht von Vorteilsnahme über gebrochene kommunalpolitische Versprechen bis zu Entscheidungen, die vorsätzlich das gesellschaftliche Klima aufheizen sollen, beispielsweise die Streichung von Geldern für die Integration von Zuwander:innen. "An der Spitze vieler Organisationen und Vereine stehen heute RN-Funktionäre", schrieb kürzlich die "Zeit" in einem Lokalaugenschein. Politik sei "brandgefährlich geworden", wird eine französische Mutter zitiert, die ihren Sohn von der Grundschule abholt.

Wahlabsprachen über alle Differenzen hinweg

Nirgends sonst in der Republik ist die Dominanz der Rechtspopulist:innen des Rassemblement (früher Front) National ähnlich groß wie entlang der Mittelmeerküste zwischen der italienischen und der spanischen Grenze. Im hohen, tatsächlich abgehängten Norden, aber auch hier "im Paradies", wie Fréjus für sich wirbt, liegen viele jener Wahlkreise, in denen Le Pens Truppen so stark sind, dass ein zweiter Wahlgang gar nicht mehr notwendig wurde. Und wo doch, wie in Aubagne/La Ciotat, reicht es dann im zweiten Wahlgang mit 58 Prozent. Trügerische Idylle am Fuße des weltberühmten Nationalparks Calanques.

Nach dem zweiten Wahlgang der Parlamentswahlen am vergangenen Sonntag sieht die Frankreich-Karte aus wie ein Puzzle, das Grundschulkindern das Vater- und Mutterland näherbringen soll. Viele ganz kleine Teile stehen für besonders bevölkerungsstarke Wahlkreise, zum Beispiel in und um Paris. Viele davon sind rot oder gelb, Ersteres steht für das linke Bündnis NFP ("Nouveau Front Populaire", auf Deutsch etwa "Neue Volksfront"), Letzteres steht für den liberalen Anhang von Staatspräsident Macron, das Bündnis "Ensemble".

Absprachen über alle Differenzen zwischen den Parteien hinweg haben solche Farbvarianten möglich gemacht. Eigene Kandidat:innen wurden vor dem zweiten Wahlgang zurückgezogen, um eine tatsächliche Stichwahl zwischen den beiden stärksten Bewerber:innen herbeizuführen und so die Chancen von Rechtsaußen zu verringern.

Noch in der Wahlnacht analysieren Kenner:innen der komplizierten Verhältnisse zwischen Calais und Nice, zwischen Straßburg und Bordeaux, wie wichtig es war, der Wählerschaft diese klare Alternative gegen den RN zu bieten. Die vielen geposteten Videos über die Sekunden vor und nach der ersten Hochrechnung, die Tränen und die in Begeisterung umschlagende Verblüffung werden zigtausendfach geklickt. Das Ergebnis, sagt der Publizist Albrecht von Lucke im deutschen TV, sei Ausdruck der Tatsache, dass wie schon in Polen "der Rechtspopulismus nicht durchmarschieren muss, wenn die Mehrheitsgesellschaft mobilmacht".

NFP ohne herausgehobene Figur – kein Nachteil

Jetzt hat Frankreich sich mit dem Überraschungssieger dieser Wahl zurechtzufinden, einer neuen Volksfront, die im Handumdrehen einem Parteienbündnis namens "Nouvelle union populaire écologique et sociale" (Nupes, auf Deutsch "Neue ökologische und soziale Volksunion") entstiegen ist. Die Vorzeichen stehen nicht wirklich gut, denn von Union kann außer beim RN-Verhindern kaum eine Rede sein. Schon bei der Parlamentswahl vor zwei Jahren konnte Nupes, geführt vom Linksaußen Jean-Luc Mélenchon, zwar gut 25 Prozent erringen, danach sich aber nicht auf eine gemeinsame Fraktion in der Nationalversammlung einigen.

Die Nouveau Front Populaire (NFP) wurde, als Macron am 9. Juni ganz unerwartet Neuwahlen ausgerufen hatte, auf die Schnelle zusammengezimmert – ohne eine herausgehobene Rolle des umstrittenen Linkspopulisten Mélenchon übrigens, was die Verhandlungen über eine linksgeführte Regierung erleichtern könnte. Schon genannt als Premierministerin wird etwa "die grüne Marine", Marine Tondelier, die Chefin der Grünen, die als entscheidende Brückenbauerin im neuen Bündnis gilt, und der nachgesagt wird, sogar "linke Alphamänner" vom Schlag Mélenchons zu bändigen. Wenn es nach dem gegenwärtig gültigen Zeitplan des keineswegs gestärkt aus den Wahlen hervorgegangenen Präsidenten Macron geht, sollen konkrete Gespräche zur Regierungsbildung aber überhaupt erst nach Ende der Olympischen Spiele in Paris Mitte August in Fahrt kommen.

Spätestens dann muss es zum Schwur kommen, ob die "Explosion der Freude" ("Le Figaro") am Wahlabend in konstruktive Politik umgewandelt werden kann. Die Umsetzung diverser Wahlversprechen ist kompliziert und teuer, aber dringend geboten. "Unsere Republik ist zu wertvoll, um von Rechtsnationalisten oder Neoliberalen regiert zu werden", so einer der ebenfalls überraschend erfolgreichen Sozialisten. Der Vertrag, den die neue Volksfront aus Sozialist:innen, Kommunist:innen, Grünen und Mélenchons "La France insoumise" ("Unbeugsames Frankreich") vor der Wahl geschlossen hatte, umfasst nicht weniger als 150 Punkte, allen voran die Rückabwicklung von Macrons Rentenreform, Investitionen der öffentlichen Hand, die Erhöhung der Mindestlöhne auf bis zu 1.600 Euro oder die Wiedereinführung von Vermögens- und neue Übergewinnsteuern.

Dritter Platz für den RN nur dank Mehrheitswahlrecht

Ohne Umsetzung, da sind sich viele Frankreich-Fachleute einig, kommt der drohende rechte Durchmarsch schnell wieder auf die politische Tagesordnung. Denn davon, dass Le Pens Partei statt auf dem erhofften ersten nur auf dem dritten Platz gelandet ist bei den Mandaten im Parlament, darf sich niemand täuschen lassen. Das französische Mehrheitswahlrecht hat diese Umkehrung der Reihenfolge bewirkt: Prozentual liegt landesweit der RN mit erheblichen Stimmenzuwächsen klar vorn, erst dahinter kommen die neue Volksfront und Macrons Liste.

Fast genauso schnell wie die Videos von Jubelfeiern kursieren in den sozialen Medien unter dem Hashtag #Frankreich Berechnungen dazu, wie viele Milliarden Euro dafür aufgebracht werden müssten. Schon das gegenwärtige, auch ohne Mehrheit in der Nationalversammlung regierende Kabinett verantwortet mit mehr als hundert Prozent des Bruttoinlandprodukts eine Staatsverschuldung deutlich über dem EU-Schnitt. Zum Vergleich: 64 Prozent sind es in der Bundesrepublik.

Funktionierende Absprachen

In Frankreich hat es Tradition, zusammenzustehen gegen einen extremen Ruck nach rechts. Schon 1997 konnte bei der Parlamentswahl der damalige Front National unter Jean-Marie Le Pen bei knapp sechs Prozent gehalten werden. Regierungschef wurde der Sozialist Lionel Jospin, der 2002, als er nur Dritter im ersten Präsidentschaftswahlgang wurde, sogleich dazu aufforderte, im zweiten gegen Le Pen und für den konservativen Jacques Chirac zu stimmen, was dem wiederum zu einem fulminanten Sieg mit mehr als 80 Prozent verhalf. Das kann auch in Deutschland funktionieren: Bei den Bundestagswahlen im September 2002 praktizierten in Stuttgart SPD und Grüne perfekt das Absprachemodell, um die CDU auszubooten. Ernst Ulrich von Weizsäcker und Ute Kumpf errangen beide Direktmandate für die SPD, die Grünen holten für damalige Verhältnisse herausragende 16 Prozent in der Landeshauptstadt. Und 2012 errang der Sozialdemokrat Frank Mentrup dank eines rot-grünen Bündnisses in Karlsruhe völlig überraschend schon im ersten Wahlgang das Amt des Oberbürgermeisters, das er bis heute innehat. Aufgrund der unterschiedlichen Wahlsysteme will Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) keine direkten Schlüsse aus den Absprachen vor dem zweiten Wahlgang in Frankreich ziehen. Eine andere Frage sei allerdings, sagt er, "was man macht, wenn Extreme wie die AfD und die Wagenknecht-Partei Mehrheiten knapp verfehlen". Denn dann müssten allen anderen eine Regierung stellen, "die aber noch viel diverser ist als die Ampel".  (jhw)

Die noch am Wahlabend ausgesprochen zufriedenen Reaktionen in Deutschland werden zu Wochenbeginn im Stundentakt zurückhaltender. Vor allem die Union ändert das, was neudeutsch Framing heißt, zügig. Noch am Sonntag freut sich Armin Laschet (CDU) als Mitglied im Auswärtigen Ausschuss des Bundestags über den verhinderten Rechtsruck, die gestärkte Mitte und wie Macron erfolgreich dafür gesorgt habe, dass Le Pens RN künftig nicht mehr erzählen könne, er sei die stärkste Kraft im Land. Anderntags will Laschet vor allem klarmachen, dass Linksextremisten nicht besser sind als Rechtsextremisten, Mélenchon ein Antisemit und Europaskeptiker ist. Nils Schmid wiederum, früher stellvertretender Ministerpräsident Baden-Württembergs, heute einer der führenden Außenpolitiker und Frankreich-Kenner der SPD-Bundestagsfraktion, vertritt die Ansicht, Macron habe "mit seiner unvorhersehbaren Parlamentsauflösung das Vertrauen in seine politische Urteilsfähigkeit gestärkt".

Lehren für Deutschland

Für Grüne und Linke lenken die Vorstandsmitglieder Ricarda Lang und Martin Schirdewan den Blick nach Deutschland, wollen von Frankreich das Zusammenstehen in der Not lernen und kopieren. Auch im Netz wird der Vorbildcharakter der überraschenden Wahl herausgestrichen. "Ein Gedankenspiel", postet ein anonymer Kommentator auf der Plattform X: Die linken Parteien könnten bei den anstehenden Landtagswahlen im Osten ebenfalls ein Bündnis oder eine Plattform gründen und mit der Union zusammenarbeiten. Als "wichtigsten Gelingensfaktor neuer Politik", verlangt ein anderer X-Nutzer, den "sich immer weiter ausbreitenden Überfremdungsängsten" entgegenzuarbeiten mit guten Schulen, guter Bildung und Gerechtigkeit, weil sonst ein Sieg gegen die Rechtsradikalen "ein Strohfeuer" bleibe.

In Regionen wie dem Département Var, wo so viele Menschen direkt und indirekt vom Tourismus leben, ist das Schüren von Überfremdungsängsten besonders abwegig. Die Ausländer:innen, die hier ihren Urlaub verbringen, sind seit Generationen hochwillkommen, für die anderen will der RN die Grenzen schließen. Motto: "Frankreich den Franzosen". Beispiel für die nationalistische Konfusion in vielen Köpfen: In öffentlichen Einrichtungen will der RN das Tragen des Kopftuchs verbieten; ein Glück, dass Edelboutiquen keine öffentlichen Einrichtungen sind. Museen allerdings sind es schon und ebenso das Amphitheater, auf das die Einheimischen in Fréjus so stolz sind.

Auch etwas weiter westlich, in Sanary-sur-Mer, sind rechtsnationale Einstellungen seit Jahren verfestigt. Und die Widersprüche geradezu absurd. Denn die Stadt wirbt offensiv mit Fluchtgeschichten und ihrer Aufnahmebereitschaft, weil sie vor und im Zweiten Weltkrieg 500 Exilant:innen aus Deutschland und Österreich vorübergehend zweite Heimat war. "Lassen Sie sich von uns ein wenig in den Ort entführen, der zu Zeiten der Nationalsozialisten als 'Hauptstadt der deutschen Literatur im Exil' bekannt war", heißt es im Tourismusbüro. Der örtliche Abgeordnete schlägt nicht erst in diesem Wahlkampf ganz andere Töne an. Er will Migrant:innen aus dem Var vertrieben sehen. Und zwar alle.

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5 Kommentare verfügbar

  • Gerald Wissler
    am 15.07.2024
    Antworten
    Würde in Frankreich das gleiche Mehrheitswahlrecht gelten wie in Großbritannien, hätte Le Pen jetzt eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament.
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