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Kulturprogramm Ornamenta

Vom Schmuck zur Kunst

Kulturprogramm Ornamenta: Vom Schmuck zur Kunst
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 Fotos: Jens Volle 

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Drei Monate Kunst und Design im gesamten Nordschwarzwald: Das hat es in der Region noch nicht gegeben. Die Ornamenta, von Pforzheim ausgehend, bringt Unternehmen und soziale Einrichtungen mit internationalen Künstler:innen zusammen.

Eine Skulptur am Pforzheimer Enzufer stößt unter lautem Fauchen Nebelwolken aus und produziert dabei Regenbögen. Ein riesiger schwarzer Ball aus Filz rollt von Ort zu Ort: Er ist Botschafter der Ornamenta. Juwelier Georg Leicht bietet flüssige Schwarzwälder Kirschtorte an. "Seit 2017 war eigentlich klar, dass wir wieder eine Ornamenta machen wollten", sagt er. Damals feierte Pforzheim sein 250. Jubiläum als Goldstadt.

"Klar war aber auch", fährt er fort, "dass es nicht nur um Schmuck gehen sollte. Das wäre zu sehr auf Schmalspur gedacht." Leicht gehört zum Präsidium des Ornamentabunds, der bei dem kulturellen Großereignis die Fäden zieht. Der Zweimetermann fasst in fünf Minuten druckreif den Werdegang des dreimonatigen Programms zusammen, das sich über den gesamten Nordschwarzwald erstreckt. Die Ornamenta 2024 – neben dem Namen erinnert auch der geplante fünfjährige Turnus an die Documenta – bringt zeitgenössische Kunst in eine Region, die damit bisher noch wenig Berührung hatte. Fünf mysteriöse "Themengemeinden" mit den Namen "Bad Databrunn", "Inhalatorium", "Schmutzige Ecke", "Solartal" und "Zum Eros" sollen Neugier wecken, für die Region wichtige Fragen ansprechen und neue Gemeinschaften stiften – über alle erdenklichen Gegensätze hinweg.

Dabei erweist sich die Bezeichnung "Gemeinde" als unzutreffende Übersetzung des englischen "neighbourhood". Nachbarschaften also. "Ornamenta lässt die Grenzen der Region buchstäblich verschwimmen", heißt es nebulös in der Ankündigung. Die Landkreise würden "um fünf thematische Nachbarschaften erweitert." Gemeint ist – und so steht es auch im englischen Text –, dass sich die Kommunen des Nordschwarzwalds bislang eher gegeneinander abgrenzen, nun aber die Grenzen verwischt und Gemeinsamkeiten entdeckt werden sollen. Das ist in der Übersetzung verloren gegangen.

Lokales und Internationales zusammenbringen

Jules van den Langenberg und Willem Schenk aus den Niederlanden und die Deutsche Katharina Wahl bilden das Kuratorenteam der Ausstellungen und künstlerischen Arbeiten in Pforzheim, Bad Wildbad, Nagold, Mühlacker und weiteren Ortschaften. Sie haben sich zusammen beworben, weil es sie interessierte, für ein anderes Publikum als abgebrühte Großstadtmenschen zu arbeiten, die schon alles kennen und wissen. Ihr Vorschlag war, mit dem Kennenlernen zu beginnen: Zwei Jahre lang haben sie sich, oft privat, manchmal auf Heuböden oder auch im Hotel, in den Orten der Region einquartiert und mit zahlreichen Unternehmen und sozialen Einrichtungen Kontakt aufgenommen.

Das Lokale und das Internationale zusammenbringen – eine Idee, von der alle profitieren können: Die Menschen vor Ort freuen sich über die Aufmerksamkeit, die ihnen sonst nicht zuteilwird. Gleichzeitig haben sie etwas Besonderes zu bieten, das es anderswo so nicht gibt. Allerdings gibt es Kritik. Einer klagt, bei einem Pressetermin habe ein Lokaljournalist moniert, dass nur Englisch gesprochen wurde. Dabei sei er selbst kaum zu verstehen gewesen mit seinem Dialekt. Muss also das Publikum Englisch lernen? Sollten nicht eher die Ausstellenden auf die Menschen zugehen, die sie erreichen wollen?

Steine statt Smartphones

Was schlussendlich zählt, sind die Ergebnisse. Etwa die Ausstellung "Bad Databrunn" in Bad Wildbad: In den 1970er-Jahren hatte der Kurbetrieb hier seinen Höhepunkt erreicht. Dann kam die Gesundheitsreform, und die Kurgäste blieben weg. Seitdem befindet sich der Ort in einem Strukturwandel. Hin zum Digitalen? Die Ausstellung im früheren König-Karls-Bad beginnt damit, dass die Besucher:innen ihr Smartphone gegen eine Replik aus edlem Stein eintauschen können, angefertigt von einer Pforzheimer Manufaktur. So kommen sie zur Ruhe.

Zwei riesige Tische voller Trinkgläser laden dazu ein, verschiedene Schwarzwald-Sprudelmarken zu kosten. Auf dem vorderen stecken 70 silberne Löffel in ebenso vielen Gläsern, angefertigt von Schüler:innen der Goldschmiedeschule Pforzheim. Die Menge Wasser, die auf diese Löffel passt, so lautet die Erklärung, löst einen Harndrang aus. In großen Getränkespendern liegen Steine, die angeblich die Wasserqualität beeinflussen.

Die Installation ist ein Projekt der Rotterdamer "Water School", gestaltet von einer thailändischen Künstlerin. Die Water School ist eigentlich keine Schule, sondern ein Projekt einer Architektin und eines Designers, das sich eben mit dem Thema Wasser beschäftigt. Die Gläser auf einem zweiten Tisch weiter hinten enthalten zusammen so viel Wasser wie der menschliche Körper.

Neben der Goldschmiedeschule ist auch das Berufsförderungswerk (BFW) aus Bad Wildbad beteiligt, ursprünglich eine Einrichtung, um Kriegsversehrte wieder in den Beruf zu bringen, erklärt die Bibliothekarin Johanna Kirsch. Heute bildet das BFW psychisch labile Menschen, zum Beispiel bipolare oder Autisten, zu Fachangestellten für Medien und Informationsdienste aus. Kirschs Schüler:innen haben Bücher zum Thema Wasser herausgesucht, die nun in der Ausstellung zur Lektüre ausliegen.

Ein Stück Architekturbiennale in Pforzheim

Ähnlich strukturiert sind auch viele andere Ausstellungen und künstlerische Arbeiten: Künstler:innen oder Designer:innen arbeiten mit Unternehmen und sozialen Einrichtungen zusammen. Die drei Sonnenuhren der Typografin Charlotte Rohde in Nagold, Pforzheim und Mühlacker hat die Turmuhren-Manufaktur Perrot aus Calw hergestellt. Am "Aphrodisierenden Garten" in Nagold war die soziale Gärtnerei Q-Prints & Service beteiligt, die Langzeitarbeitslose wieder ins Beschäftigungsleben zurückführt.

In Pforzheim sind die wichtigsten Ausstellungsorte das Schmuckmuseum im Reuchlinhaus und die Matthäuskirche: ein Bau der Nachkriegszeit, erbaut vom Architekten Egon Eiermann aus Trümmern und bunten Gläsern der zerstörten Stadt. Die Wiederverwertung von Baumaterialien ist heute ein großes Thema. Im vergangenen Jahr etwa hat der Deutsche Pavillon der Architekturbiennale von Venedig Abbruchmaterialien gesammelt und ausgestellt, die Besucher:innen konnten sich bedienen. In der Matthäuskirche steht nun ein Hocker, hergestellt aus der aufgerollten Plane des Eingangspavillons der Biennale.

Silber hingegen wird schon lange immer wieder recycelt. So nun auch im Eingangsbereich der Kirche, der mit einer doppelten Spiegelwand bespielt wird. Der Künstler Thorben Gröbel hat zwei Schalensitze von Unfallautos zu Kirchenstühlen verarbeitet. In Mühlacker hat er aus Material eines ehemaligen Freibads ein Freizeitareal aufgebaut. Das Bad bestand aus Edelstahl, der sonst im Müll gelandet wäre.

Heiraten in einem Kunstwerk

Die Beteiligten sind ungefähr zu 60 Prozent Designer:innen, zu 40 Prozent Künstler:innen, erklärt Willem Schenk, einer der drei Kurator:innen, auf Nachfrage. Freilich lassen sich die Bereiche kaum trennen. Auch die Designer:innen haben eigenständige Projekte entwickelt: keine Auftragsarbeiten, eher Kunstwerke.

Dreh- und Angelpunkt der Ornamenta ist das Pforzheimer Reuchlinhaus. Unter einem über den Hof gespannten Sonnensegel aus Biokunststoff bieten zwei Mitarbeiterinnen der Kosmetikmarke La Biosthétique Erfrischungstücher und Kopfmassagen an. Eine Gruppe migrantischer Frauen aus dem Nähcafé hat einen Vorhang bestickt, der in der Sonne ausbleichen darf: Die Stickereien treten dann noch deutlicher hervor. Eine Umweltbiologin und zwei Spaziergangsforscher aus London haben mit der Pforzheimer Geomantiegruppe den Stadtraum erkundet. Ein "geomantischer Garten" im Hof des Reuchlinhauses wartet nun auf Signale aus einer anderen Welt.

Die von den Kurator:innen verantworteten Ausstellungen und Arbeiten sind aber bei weitem nicht alles. "Ornamenta Lust" nennt sich ein Zusatzprogramm, zu dem alle, die Lust haben, eingeladen waren. 150 zusätzliche Programmpunkte sind so zusammengekommen, auch über den Nordschwarzwald hinaus bis nach Karlsruhe, Baden-Baden oder Maulbronn. Wer im Reuchlinhaus ist, sollte zum Beispiel die Ausstellung des Kunstvereins nicht versäumen.

Und wer sich in den Wildpark Pforzheim verirrt, trifft dort während der Laufzeit der Ornamenta auf eine weitere Besonderheit: die "Binding Chapel", ein zur Kapelle umfuktionierter hölzerner Pavillon im Eingangsbereich des Wildparks, die drei Designer:innen mit zwei Unternehmen aus Pforzheim und Nagold entworfen haben. Abweichend vom konventionellen Hochzeitsritual können sich Besucher:innen hier das Jawort geben oder andere Bindungen eingehen. Mit gutem Beispiel voran gingen die Stuttgarter Gemeinderätin und Clubbetreiberin Laura Halding-Hoppenheit (Stuttgarter Liste) und der Modedesigner Harald Glööckler.


Ausführliche Infos und Programm der Ornamenta hier.

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