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Grafik-Prof und Künstlerin Katrin Ströbel

Mit anderen Augen

Grafik-Prof und Künstlerin Katrin Ströbel: Mit anderen Augen
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Der globale Süden, die Kolonialgeschichte, die postkoloniale Welt: Als Professorin für Freie Grafik bringt Katrin Ströbel Themen an die Stuttgarter Kunstakademie, die dort bisher kaum vorkamen.

Ein kleines Boot, würfelförmig aus recycelten Materialien, treibt auf dem Bodensee: wie eine Notunterkunft oder eine Hütte aus einer Favela. Das Bild einer prekären Existenz auf schwankendem Grund. Im Sommer 2015 schien es das perfekte Sinnbild der damals aktuellen Flüchtlingskrise, als die Künstler:innen Katrin Ströbel und Mohammed Laouli ihr Projekt "frontières fluides" – flüssige Grenzen – in Friedrichshafen und Bregenz vorstellten. Dabei hatten sie schon zwei Jahre vorher damit angefangen.

In Marokko hatten sie mit einem Bootsbesitzer gesprochen, der Migrant:innen nach Europa bringt. Am Bodensee besuchten sie Migrantinnen in Frauencafés in Bregenz und Feldkirch. Die Gespräche gingen in ihre Ausstellungen ein, die damals viel Aufsehen erregten. Sie waren näher dran am Thema der Flüchtlingsbewegungen als andere. Gleichwohl war Ströbel im Südwesten Deutschlands nur gelegentlich präsent. Sie lebt in Marseille und Marokko, unterrichtete in Nizza.

Dank eines neu eingerichteten Papierkunst-Stipendiums hatte Ströbel nun in diesem Jahr in der Galerie Stihl in Waiblingen ihre bisher größte Einzelausstellung. Und sie ist seit dem vergangenen Sommersemester Professorin für Freie Grafik an der Stuttgarter Kunstakademie. Der globale Süden, die koloniale Geschichte, die postkoloniale Gegenwart, feministische Perspektiven: Ströbel bringt aktuelle Themen an die Stuttgarter Hochschule, die dort bisher noch wenig vertreten waren.

Der Versuch, fremde Welten zu entziffern

Ihr Hauptwohnsitz ist weiterhin Marseille, sie kommt nur jede zweite Woche nach Stuttgart. Dann aber hat sie alle Hände voll zu tun: mit ihrer Zeichenklasse, die sie von ihrem Vorgänger übernommen hat, und mit der Einarbeitung in die Hochschulgremien. Ströbels Atelier an der Akademie wirkt mehr wie ein Zwischenlager: Eingewickelt in Noppenfolie stapeln sich die Zeichnungen, die in Waiblingen ausgestellt waren, bevor sie wieder auf die Reise geschickt werden, zurück nach Marseille. Wie kam sie auf die Idee, dorthin zu ziehen? Was interessiert sie am globalen Süden? Wie kam sie überhaupt zur Kunst?

In die Wiege gelegt war der 48-Jährigen die Kunst nicht. Ihre Eltern hatten dazu keinen Bezug, sagt Ströbel, die in Pforzheim geboren und nach eigenen Angaben "vorwiegend zwischen Schwarzwald und Karlsruhe" aufgewachsen ist. Doch die Eltern ermutigten sie zu tun, was sie wollte. Wichtig war ihre Kunstlehrerin am Gymnasium, die ihr Talent erkannte, sie ermunterte, sich an der Akademie zu bewerben und ihr half, eine Mappe zusammenzustellen.

Sich nach dem Studium auf ein Stipendium für Marseille zu bewerben war eine intuitive Entscheidung. Auf der Documenta 11 im Sommer 2002 in Kassel hatte der nigerianische Kurator Okwui Enwezor erstmals viele Künstler:innen aus der Südhemisphäre vorgestellt. Und Ströbel merkte: Da passiert etwas, das sie von Deutschland her nicht kannte. Marseille ist der Hafen par excellence, der Europa mit der Südseite des Mittelmeers verbindet. Sie spürte, es könnte interessant sein, dorthin zu gehen.

Der nächste Schritt führte sie nach Rabat, Marokko, wo sie auch ihren Mann kennenlernte. Es folgten Künstlerresidenzen in verschiedenen afrikanischen Ländern und anderen Teilen der Welt: Nigeria, Senegal, Südafrika, Peru, USA, Australien.

Katrin Ströbel wollte, wie sie sagt, "die eigene Arbeit in einem Kontext reflektieren, der nicht der europäische ist". Also nicht wie ein Tourist oder ein Künstler der Kolonialzeit exotische Eindrücke sammeln, sondern feststellen:

Was macht das mit mir, mit meiner Kunst, wenn ich dort unter ganz anderen Bedingungen arbeite? Wie nehmen die Menschen dort meine Kunst wahr?

Einen neugierigen Blick auf ihre Umgebung schließt das nicht aus. Aber es ist nicht der Blick von oben herab, der taxiert, einordnet, beherrschbar macht. Wenn sie bei den ersten Aufenthalten in Marokko komplizierte Schriftornamente detailliert nachzeichnet, auch im Kontrast mit Logos international tätiger Unternehmen in lateinischer Schrift, zeugt dies eher vom Versuch, eine fremde Welt zu entziffern.

Vielsagende Blickbeziehungen

Als sie das erste Mal im Senegal war, zeichnete und beschrieb sie Postkarten. Sie reflektiert so ihre Rolle als Touristin, die sie als Reisende aus Europa ist, auch wenn sie es nicht sein will. Auf zwei großen Blättern hielt sie den Blick aus ihrem Zimmer über die Dächer von Casablanca fest. Zusammengefaltet nahm sie ihre Reiseeindrücke mit.

Dass sie die eigene Position mit reflektiert, kennzeichnet ihre Arbeit. Oft in ironischer Brechung: den Körper, die Frauenrolle. Sinnbildlich in einem kaum veränderten Dürer-Holzschnitt, auf dem ein Zeichner durch ein Quadratraster einen liegenden weiblichen Akt perspektivisch korrekt festhält. Ströbel vertauscht einfach die Köpfe. So wird daraus "Die Zeichnerin (nach Dürer)", die einen männlichen Akt darstellt.

Bei einem späteren Aufenthalt im Senegal ging sie einen Schritt weiter: 171 Computerausdrucke auf einer Wand stellen eine Zeichnung dar, die hohe Palmen an einer Meeresbucht zeigt. Zwei Ventilatoren lassen die Blätter hochflattern. Was auf den ersten Blich nach Urlaub in einem heißen Land aussieht, soll einladen, hinter die Oberfläche zu schauen: Es handelt sich um die Insel Gorée, von der aus die Sklavenschiffe in den Atlantik aufbrachen.

Dem Betrachter oder der Betrachterin hält die Künstlerin, bisweilen wortwörtlich, den Spiegel vor: Auf einem Klappspiegel der 1950er-Jahre hat sie in eine weiße Deckschicht, die aber nicht die gesamte Fläche bedeckt, das Bild einer barbusigen Frau aus der Südsee eingeritzt. Es stammt aus einem 1908/09 erschienenen Buch der deutschen Anthropologin Elisabeth Krämer-Bannow mit dem unglaublichen Titel "Die kunstsinnigen Kannibalen der Südsee. Wanderungen auf Neu-Mecklenburg". Wer den Blick auf die Bewohnerin der damaligen deutschen Kolonie richtet – eine Insel, die zu Papua-Neuguinea gehört und sich heute Neuirland nennt – sieht auch sich selbst als Betrachter:in des Bildes im Spiegel.

Auch in Australien stieß Ströbel auf Spuren von Deutschen. Die einen waren vor dem NS-Staat geflohen, die anderen kamen nach dem Krieg, um sich als Täter:innen der Verfolgung zu entziehen. Auf dicht gehängten schwarzen Blättern zitiert sie Sätze aus Zeitungen jener Zeit. "Ferencz Hartmann mit zwei alliierten Soldaten", steht auf einem Blatt: "Dieses Bild wurde zwei Tage nach der Befreiung von Bergen-Belsen aufgenommen. Er starb am Tag nach der Aufnahme." Ströbel verweigert den voyeuristischen Blick auf ausgemergelte Körper. Außer dem eigenen Spiegelbild im Glas des Bilderrahmens ist nichts zu sehen.

Außerordentlich sprechend scheinen die Blickbeziehungen in einer kleinen Collage aus einer Serie mit dem sprechenden Titel "Body Politics". Vielsagend richten sich die Blicke der Frauen auf den gezeichneten nackten Unterleib auf einem Schild vor der zentralen Figur. In der originalen Vorlage, die eine Kundgebung im Sibirien der 1950er-Jahre zeigt, befand sich hier ein Bild Lenins.

Hinter die Dinge sehen, sie von einer anderen Seite, mit anderen Augen betrachten: Das ist, was Ströbel motiviert, bei allem, was sie tut. Deshalb studierte sie auch Literaturwissenschaft: um zu vergleichen, wie sich die Dinge mit den Mitteln der Sprache anders darstellen lassen. Aus demselben Grund wollte sie auch erfahren, wie sich die Welt außerhalb der europäischen Grenzen darstellt. Die Differenzen verarbeitet sie zu gern auch in humorvollen Kommentaren. "Dieser Inhalt ist in Ihrer geographischen Zone nicht verfügbar", steht etwa auf einem Blatt – wie bei einem Video, das in manchen Ländern aus urheberrechtlichen Gründen nicht gezeigt werden kann. Der Hintergrund zeigt tropische Vegetation.

In einer neuen Serie hat sie sich mit der Corona-Zeit beschäftigt. "Les confiné:es" lautet der Titel, die Eingesperrten. Isoliert, auf schwarzem Grund, collagiert sie Gesichter und Figuren mit Bildern antiker, griechischer oder ägyptischer Skulpturen. Sie versteinern: "Becoming Sculpture". Man kann es aber auch umgekehrt lesen: "Undoing Sculpture". Sinngemäß: von einer Skulptur wieder zum lebenden Wesen werden.

Halbnackte Frauen mit Kettensäge rechnen ab

Auch mit den Waiblinger Verhältnissen hat sich Ströbel in ihrer Ausstellung auseinandergesetzt. "Ein gefundenes Fressen" war da für sie, wie sie sagt, der Stihl-Kalender. Die Galerie Stihl heißt so, weil sie ohne die Unterstützung der Eva Mayr-Stihl Stiftung nicht zustande gekommen wäre. Den Pin-up-Kalender hat wiederum Hans Peter Stihl, der Bruder der Stifterin, 1973 eingeführt, im selben Jahr, als er den Vorstand des Kettensägen-Herstellers übernahm. Der Kalender wurde erst eingestellt, als die schwedische Forstverwaltung drohte, keine Kettensägen mehr zu bestellen.

Die spärlich bekleidete weibliche Figur, mit einer Kettensäge in der Hand, die Ströbel an eine der Wände der Galerie gezeichnet hat, hat sie dem Stihl-Kalender entnommen. Davor hängt eine lange Reihe von Bilderrahmen, in denen steht: "Don't say she's not like that every girl is like that every fucking girl”. So als wolle sie den Satz – frei übersetzt: Die Mädchen wollen alle nur das Eine – den Betrachter:innen Wort für Wort einhämmern. Anders als im Stihl-Kalender trägt die Figur den Kopf eines Tyrannosaurus Rex mit weit geöffnetem Maul und spitzen Zähnen. Der Titel: "I Come in Peace". So lautet auch ein Filmtitel – in deutscher Übersetzung: "Tag der Abrechnung".

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