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Ausstellung "Gescheite(rte) Familienplanung"

Verschlungene Fäden

Ausstellung "Gescheite(rte) Familienplanung": Verschlungene Fäden
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Fadenvorhänge, Alaunkristalle und leuchtende Glasobjekte werden bei Anna Gohmert zu Sinnbildern für die Familienplanung – die Ausstellung im Haus der Katholischen Kirche in Stuttgart wirft Fragen auf. Beantworten muss sie jede:r selbst.

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Eine rund zwei Meter breite, vier Meter hohe Patchwork-Decke hängt im Haus der Katholischen Kirche am Treppenaufgang am Ende des Foyers: als Hinweis, dass es oben auf der Empore eine Ausstellung gibt. Unter dem Titel "Gescheite(rte) Familienplanung" verarbeitet die Künstlerin Anna Gohmert Fragen wie: Ist eine Patchwork-Familie das Resultat einer gescheiterten Planung? Ist das traditionelle Familienbild, die Kleinfamilie mit lebenslänglicher Ehe die einzig wahre Form?

Die Antworten dachte sie sich nicht selbst aus. Ein Fragebogen "Deine Familie: Wer gehört dazu? … Eine Familie: Wer gehört dazu? … Welche Art/en von Familienkonstellation/en ist/sind in deinem Leben aufgetaucht und besteht/en gerade?" lieferte ihr die Anregung für die Kunstwerke, die derzeit im Haus der Katholischen Kirche zu sehen sind – ein Zusammenspiel aus Visuellem, Hörbarem und viel Eigeninterpretation.

Das Thema hingegen hat sie selbst festgelegt, als sie vom Katholischen Bildungswerk zu einer Ausstellung der Reihe "Insight" eingeladen wurde. Als Mutter einer vierzehnjährigen Tochter, die von deren Vater getrennt lebt, ist sie mit dem Thema selbst konfrontiert. Den Begriff alleinerziehend findet sie nicht ganz richtig, der Vater kümmere sich schließlich auch um die Tochter. Die Doppelrolle Künstler:in und Mutter thematisiert sie in einem anderen Projekt mit Renate Liebel und Marie Lienhard: "Mothers*, Warriors and Poets" wird am 21. Mai in der Stadtbibliothek vorgestellt.

Wer von der Ausstellung direkte Antworten zum Thema Familienplanung erwartet, muss sich ein wenig gedulden. Ein brauner Fadenvorhang hängt an der Wand. Die Fäden laufen am Boden weiter, überwinden eine Schwelle und geraten ein wenig durcheinander: ein Bild der Unübersichtlichkeit menschlicher Beziehungen? Weitere "blonde" Fäden hat Gohmert, die einmal Friseurin gelernt hat, wie Haarknoten gebunden. Jede und jeder ist eingeladen, sich dazu eigene Gedanken zu machen.

Familie ist eines der großen Themen der katholischen Kirche. So lautet das Motto des aktuellen Programms des Bildungswerks "Alles Familie!". Wie aber steht die katholische Kirche zu homosexuellen Paaren mit Kindern, die Gohmert in ihrer Ankündigung auch anspricht? Der Papst hat noch vor einigen Jahren verkündet, gegen Homosexualität helfe Beten oder der Besuch beim Psychiater. Die Synodalversammlung – die Gesprächsrunde aus Vertretern der Bischofskonferenz und des Zentralkomitees der Kirche – hat hingegen kürzlich beschlossen, auch homosexuellen Paaren den Segen zu geben.

Roland Weeger, der das Haus der Katholischen Kirche in Stuttgart leitet, sieht das gelassen. Einmal hatten sie eine Regenbogenfahne draußen hängen, erzählt er. Da habe einer protestiert und nun komme er nicht mehr zum Gottesdienst in die benachbarte Eberhardkirche. Das muss die Kirche Weegers Meinung nach aushalten. Er weist darauf hin, dass sein Haus ab Mitte Juni das Projekt "100% Mensch" zu einer Ausstellung eingeladen hat. Dieses setzt sich für volle Anerkennung, Bildung, Aufklärung und Sichtbarkeit für Menschen jedweder sexuellen Orientierung und Identität ein.

Stimmen, Stoffe, Salzkristalle

Auf den Fadenvorhang folgen drei graue, von der Decke herabhängende Stoffbahnen. Allerdings fällt der Stoff nicht locker, sondern ist merkwürdig steif, verkrustet, hart, mit vielen Falten. Die Künstlerin hat die Tücher in eine Alaunlösung getunkt. Beim Herausziehen sind die Salze auskristallisiert. Die glitzernden Kristalle wirken kostbar, der graue Stoff dagegen trist und alltäglich, die Verhärtungen könnten für die Probleme in langjährigen Beziehungen stehen.

In der zentralen Arbeit der Ausstellung wird das Thema greifbarer. Die Besucher:innen sind eingeladen, sich in einem durch schwarze Vorhänge abgetrennten Quadrat auf einem Sofa niederzulassen. Stimmen ertönen – einzeln, dann auch durcheinander: "Zu meiner Familie gehören die seit meiner Kindheit getrennten, aber noch in Kontakt stehenden Eltern …". Es sind die Antworten, die Anna Gohmert auf ihren Fragebogen erhalten hat, manche eingesprochen von den Antwortenden selbst, andere von Bekannten der Künstlerin und mit Maria Wildeis zu einer Klanginstallation verarbeitet.

Dazu liegen auf einem schwarzen Tisch Glasobjekte, von LED-Lämpchen in wechselnd buntes Licht getaucht. Ihre Herstellung ist kompliziert: zunächst geknetet aus Ton, von dem die Künstlerin dann einen Gipsabdruck nimmt, ehe sie in der Werkstatt der Kunstakademie flüssiges Glas hineingießt. Das Glas hat sie aus zertrümmertem Altglas geschmolzen, daher die gelbgrüne Färbung. Je nach Größe der Splitter sei die Konsistenz etwas anders, erklärt sie.

Diese Glasobjekte bilden nichts ab. Sie erzeugen eine besondere Atmosphäre. Unregelmäßig geformt, leuchten sie von innen heraus. Sie sind auch das Motiv des etwas rätselhaften Ausstellungsplakats: eine goldglänzende unregelmäßige Raute mit einem gegenläufigen Rahmen. Das ist das Erkennungszeichen der Ausstellungen, inspiriert von den hochformatigen Fenstern des Hauses der Katholischen Kirche, erläutert Maria Dis. Sie hat die Reihe "Insight" 2014 ins Leben gerufen. Die Kunsthistorikerin war drei Jahre zuvor von der Staatsgalerie zum Katholischen Bildungswerk gekommen, wo sie in der Erwachsenenbildung arbeitet.

"Insight" – Kunst, Kritisches und Kirche

Maria Dis' Idee mit "Insight": zwei Mal im Jahr Kunstausstellungen im Haus der Katholischen Kirche. Zeitgenössische junge Kunst zu gesellschaftlichen und politischen Themen. Für sie war von vornherein klar: "Wenn wir direkt an der Königstraße im Zentrum der Stadt Kunst zeigen, müssen wir den Anspruch hoch hängen." Nur die ersten Ausstellungen hatten einen unmittelbaren Bezug zur Kirche, weil sie sich an die Situation herantasten wollte.

"Land ohne Eltern" von der Fotografin Andrea Diefenbach zeigte Kinder in Moldawien, deren Mütter vielleicht auch in Stuttgart als Prostituierte den Lebensunterhalt der Familie verdienen; "Comics – das Leben in Kästchen" thematisierte Identität und Ausgrenzung aus der Sicht von drei jungen Muslimas. Mit derartigen Projekten aus dem Jahr 2018 spricht "Insight" gesellschaftliche Themen an. Für die Ausstellungen lässt sich Maria Dis neuerdings von einem Kuratorium beraten. Ansonsten sei sie aber völlig frei, betont sie. Noch nie habe ihr von der Kirche jemand hereingeredet.

Nicht nur gesellschaftlich relevant, auch inklusiv soll die Ausstellung sein: Eine Dolmetscherin übersetzte das Eröffnungsgespräch von Alina Grehl, Volontärin im Kunstmuseum, und Anna Gohmert in Gebärdensprache. Für Menschen mit Sehbehinderung gibt es eine Audiodeskription, von den Glasobjekten auch zwei Gipsmodelle zum Anfassen, eines davon nach dem Handabdruck der Künstlerin. Außerdem findet man im Ausstellungskatalog einen lesenswerten Beitrag von Alina Grehl zu den vielfältigen Bedeutungen von Patchwork und Quilt insbesondere für die schwarzamerikanische Community.

Von tickenden Uhren und tüchtigen Tauben

Eine Videoarbeit nimmt – wiederum über die Tonspur – noch einmal unmittelbar auf das Thema Familienplanung Bezug. Dafür hat Gohmert Frauen vor und nach den Wechseljahren sowie Expertinnen zur Menopause befragt. Frauen, die Karriere machen wollen, besonders im akademischen Bereich, haben oftmals keine Kinder. Eine Professur bedeutet lange und harte Arbeit, und am Ende bekommt man trotzdem nicht gleich eine feste Stelle, sondern häufig nur eine Vertretungsprofessur: Das lässt sich mit der Gründung einer Familie nur schwer vereinbaren.

Gohmert spricht von einer "tickenden Uhr": Schneller als man denkt, sei die Zeit abgelaufen. Die Wechseljahre seien ein Thema, das viel zu wenig reflektiert werde, findet sie. Im Video sind Tauben zu sehen. Und Taubeneier. Als Sinnbild für maximale Gebärfreudigkeit. Aber: "Will die Taube sich eigentlich sechs Mal im Jahr fortpflanzen?", fragt die Künstlerin.


Die Ausstellung Insight: #17 – "Gescheite(rte) Familienplanung" im Haus der Katholischen Kirche, Königstraße 7 in Stuttgart-Mitte, läuft noch bis 20. Mai. Zu besichtigen täglich außer sonn- und feiertags von 9 bis 19 Uhr.


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