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Foto-Ausstellung in der Raumgalerie Stuttgart

Ein Dorf wird ausradiert

Foto-Ausstellung in der Raumgalerie Stuttgart: Ein Dorf wird ausradiert
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Wenn Menschen und Häuser der Braunkohle weichen müssen, bleibt ein Loch zurück. Ein riesiges. Der Fotograf Yannick Rouault hat das Verschwinden des Dorfs Manheim am Rand des Hambacher Forsts über Jahre begleitet.

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Michael Schumacher hat dort gelebt. Doch Formel-1-Rennen interessieren Yannick Rouault nicht. Was ihn interessiert, ist ein Dorf, das vom Erdboden verschwindet. Von Manheim, seit 1975 zu Kerpen bei Köln gehörig, ist inzwischen fast nichts mehr übrig. Rouault hat den Abriss von Anfang an fotografisch begleitet.

Manheim liegt am Rand des mittlerweile berühmten Hambacher Forsts. 41 Quadratkilometer maß das Waldgebiet vor Beginn des Braunkohletagebaus, heute ist davon zwischen Manheim und Morschenich noch ein Zehntel übrig. Der Rest, nach Norden hin anschließend, ist die größte Braunkohlegrube Europas. Sie ist annähernd so groß wie das Kölner Stadtgebiet und gleicht einer Mondlandschaft – wenn man davon absieht, dass sie nicht aus Kratern, sondern von gigantischen Schaufelradbaggern stufenweise in den Boden gefrästen Terrassen besteht.

Rouault zeigt seine Bilder nun in der privaten Raumgalerie im Stuttgarter Westen. Er ist in Ottobrunn geboren und aufgewachsen, am Südostrand Münchens, wo er immer noch lebt, wenn er auch demnächst nach Ludwigsburg umzieht. Sein Vater ist Bretone, daher der französische Name. Mit dem Braunkohletagebau verband ihn nichts, bis er vor etwas mehr als zehn Jahren, damals Praktikant bei einer Fernsehproduktionsfirma, eine Freundin in Büsdorf besuchte, einem Ort zwischen Manheim und Köln. Er war damals achtzehn Jahre alt und es war seine erste weitere Fahrt mit dem eigenen Auto.

Als Jugendlicher erschrocken

Aus dem Fenster fiel sein Blick auf das Kraftwerk Niederaußem: das zweitgrößte Braunkohlekraftwerk Deutschlands und das drittgrößte Europas. 25 Millionen Tonnen CO2 bläst es jedes Jahr in die Atmosphäre und verschiedene weitere Schadstoffe, von Stickoxiden bis zu hochgiftigem Quecksilber. Der letzte, größte Block mit einem 200 Meter hohen Kühlturm ist erst 2003 in Betrieb gegangen. "Der Vater meiner Freundin hat mir alles erklärt", erzählt Rouault. "Am selben Abend sind wir zum Tagebau Garzweiler gefahren." Also in die Gegend von Lützerath.

"Die ersten Fahrten durch das Revier ließen mich sprachlos zurück", schreibt Rouault in der Ankündigung zu seiner Ausstellung: "Über Jahrhunderte historisch gewachsene Dörfer mussten und müssen weichen, weil unter ihnen Braunkohle liegt. Die Tagebaue hinterlassen bei ihren Wanderungen durch die Landschaft immense Spuren. Autobahnen werden abgerissen, ganze Flussläufe verlegt und über 40.000 Menschen mussten allein im Rheinischen Revier ihre Heimat verlassen."

Im Hauptberuf arbeitet Rouault als Kameramann und Tongestalter fürs Fernsehen. Eigentlich wollte er zum Spielfilm, kam dann jedoch nach seinem Studium an der Hochschule der Medien in Stuttgart zu Wissenssendungen wie "Terra Xplore" (ZDF) oder "Galileo" (ProSieben). Mit dem Fotografieren hat er im Alter von neun Jahren angefangen, zuerst angeleitet von seinem Vater, dann als Ministrant im Fotokurs des Pastoralreferenten, dessen begeistertster Teilnehmer er war.

Seit 2016 war Rouault alle drei, vier Monate in Manheim und hat über 1.000 Fotos angefertigt. Analog. Zwei Kleinbildfilme hatte er beim ersten Mal dabei gehabt. Für jedes Bild hat er sich Zeit gelassen, genau hingesehen. Die Häuser haben für ihn eine Seele. Dass keine Menschen mehr dort lebten, hat er nicht daran gemerkt, dass niemand auf der Straße war – das kommt auch in anderen Dörfern vor. Sondern daran, dass keine Autos am Straßenrand standen.

Kohle ist stärker als Heimat und Erinnerung

"Ich könnte den ganzen Tag erzählen", erklärt Rouault, der sich mit dem Braunkohletagebau intensiv beschäftigt hat: Im 18. Jahrhundert begannen Bauern bei Brühl, südlich von Köln, abgegrabenen Boden zu so genannten Klütten zu pressen, als sie feststellten, dass das Material ähnlich wie Torf brennbar war. Im späteren 19. Jahrhundert kamen industriell gefertigte Briketts auf, nach dem Ersten Weltkrieg wurde der Tagebau immer weiter ausgedehnt. Doch der großflächige Abbau mit den 200 Meter langen, fast 100 Meter hohen Schaufelradbaggern begann erst nach dem Zweiten Weltkrieg.

Der Tagebau Hambach startete 1978. Seit dieser Zeit war bereits klar, dass Manheim verschwinden werde – das Dorf hatte damals etwa 1.800 Einwohner:innen. "Es ist schon krass, wie früh so ein Dorf ein Todesurteil bekommt", wundert sich Rouault. Noch 1995 wurden dort Häuser gebaut. Bis zuletzt hofften manche, der Ort könnte verschont bleiben. Die konkreten Planungen für den Abbau begannen erst 2006.

Ein Bürgerbeirat wurde gebildet, der 15 Jahre lang mit der Stadt Kerpen und RWE über die Umsiedlung des Dorfes verhandelte. Das Rheinische Revier ist RWE-Land. Der Konzern betreibt den Tagebau in Garzweiler, Hambach und Inden, die Kraftwerke Neurath und Niederaußem und erzeugt bis heute ein Viertel seines Stroms aus Braunkohle. Nur sehr langsam hat in den letzten Jahren ein Umdenken eingesetzt, bedingt auch durch den Widerstand im Hambacher Forst und den Erfolg der Tagebau-Gegner:innen vor Gericht.

2012 begann in Manheim die Umsiedlung. Die zu dem Zeitpunkt 1.400 Bewohner:innen konnten sich zwischen verschiedenen Standorten entscheiden, an der Planung von Manheim-neu waren sie beteiligt und sind zu 77 Prozent dorthin umgezogen. "Wer umsiedelt, unterschreibt, dass er niemand erzählen darf, wie viel Geld er bekommen hat", hat Rouault erfahren. Ein Bauer ist heute noch da. Für Landwirte gibt es keine Ausgleichsflächen.

Als Rouault 2016 anfing zu fotografieren, war die Einwohnerzahl zwar auf schon 588 geschrumpft, doch es standen noch alle Häuser. Es gab eine Schule mit Schwimmbad, einen Kindergarten, Gaststätten, eine Bücherei, einen Metzger. Manheim-neu, fünf Kilometer weg, ist eine reine Schlafstadt. Nur wenige Reste des alten Dorfs, 898 erstmals urkundlich erwähnt, wurden in die Neubausiedlung übertragen: ein Wegkreuz, eine Kapelle, ein Kriegerdenkmal, Gräber vom Friedhof.

Wo der Schaufelradbagger anrückt, verschwindet alles. Der Wald, die Landschaft und damit auch die Geschichte: Kirchen, Baudenkmäler, archäologische Überreste im Boden.

Traumatisiert nach dem Verlust

In Morken-Harff, einem der etwa 60 Dörfer, die der Braunkohle im Rheinischen Revier geopfert wurden, wurde 1972 ein ganzes Wasserschloss aus dem 14. Jahrhundert gesprengt. Das Ägyptologenpaar Jan und Aleida Assmann bezeichnet Bau- und Kunstdenkmäler ebenso wie archäologische Funde als kulturelles Gedächtnis. Der Braunkohletagebau ist demnach eine vollständige Amnesie, bis 300 Meter unter dem Meeresspiegel.

Auf der anderen Seite, am Nordrand des Abbaugebiets, erhebt sich bis zu 200 Meter hoch die Sophienhöhe: vielleicht die größte Abraumhalde der Welt. Ein "Römerturm" auf der Spitze, preußische Meilensteine an einer Straße, ein "keltisches Baumhoroskop" und ein christlicher Kreuzweg versuchen, die alte Geschichte der Region heraufzubeschwören. Doch die ist zerstört.

Sowohl in Köln-Lindenthal als auch seinem Heimatort Ottobrunn, wo Rouault seine Bilder im Herbst bereits ausgestellt hat, haben sich ehemalige Manheimer:innen bei ihm gemeldet. Und wieder hat er etwas gelernt. "Die Menschen, die umgesiedelt wurden, sind traumatisiert." Sie haben ihre Heimat verloren. Doch viele reagieren wie der Vater seiner Freundin, als er ihm die Geschichte des Reviers erzählte. "Was soll man machen?", fragte der, "wir brauchen den Strom."

Dörfer ohne Menschen

Manheim ist inzwischen fast ganz verschwunden. Das benachbarte Morschenich, von den Bewohnern ebenfalls verlassen, bleibt dagegen erhalten. Doch was heißt das, wenn die Menschen weg, die Geschäfte aufgegeben sind? "Ein Dorf stirbt schon früher", sagt Rouault. Dem Argument der Regierungs-Grünen, dass Lützerath geopfert werden musste, um fünf andere Dörfer zu retten, folgt er nicht. Die Dörfer sind schon kaputt, die Menschen größtenteils weg.

Die Raumgalerie in Stuttgart kannte Rouault vom Vorbeigehen. Er hat selbst vorgeschlagen, seine Fotos dort auszustellen und Thomas Geuder war sofort dabei. Er betreibt seit 2015 die Galerie, neben seiner Arbeit als Architektur-Fachjournalist, die Räume sind zugleich sein Büro. Architekten, die ihre Arbeit vorstellen wollen, zahlen für ihre Ausstellungen und finanzieren damit andere mit, wie jetzt die Fotoausstellung von Yannick Rouault.

"Die ist hoch aktuell", findet Geuder. "Da sind viele Themen angesprochen: der Umgang mit Energie, der Verlust von Heimat …" Er erinnert an den sizilianischen Ort Gibellina, der 1968 von einem Erdbeben zerstört wurde. Die Bewohner mussten in eine Neubausiedlung umziehen. Den alten Ort hat der Bildhauer Alberto Burri in ein Mahnmal verwandelt, indem er den Stadtgrundriss eins zu eins in Beton nachgebildet hat. Auch Rouault will dem Vergessen entgegenwirken. Er möchte sich für einen zentralen Erinnerungsort einsetzen, ähnlich dem Archiv verschwundener Orte in der Lausitz.


Die Ausstellung in der Raumgalerie, Ludwigstraße 73, Stuttgart-West, läuft bis 14. April. Öffnungszeiten: Montag bis Freitag von 11 bis 19 Uhr, Samstag 13 bis 18 Uhr.


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