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Von der Hand ins Hirn

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Am heutigen Mittwoch lädt die amerikanische Künstlerin Morgan O’Hara ins Kulturhaus Schwanen nach Waiblingen ein. Wer möchte, kann mit ihr zusammen das Grundgesetz abschreiben. Mit Stift auf Papier. Denn was man handschriftlich anfertigt, wird Teil von einem selbst. Okay, aber was hat das mit Donald Trump zu tun?

"We, the people." So beginnt der Text der amerikanischen Verfassung und macht damit von den ersten drei Worten an klar: Es handelt sich nicht um ein von der Politik (Legislative) aufgesetztes Gesetzeswerk, das für die Bürger nur eine Verpflichtung darstellt. Vielmehr sind es die Bürger selbst, die sich ihre Verfassung gegeben haben. "We, the people" – das ist nicht dasselbe wie der deutsche Slogan "Wir sind das Volk". People heißt zunächst Leute, Menschen. Es beginnt also: Wir, die Menschen der Vereinigten Staaten, geben uns diese Verfassung. Das war 1787.

230 Jahre später, im Januar 2017, fühlte sich die New Yorker Künstlerin Morgan O’Hara durch die anstehende Amtseinführung Donald Trumps in Unruhe versetzt. Sie verspürte das Bedürfnis, zu protestieren. Doch die üblichen Protestformen – Demonstrationen, Slogans, Transparente – schienen ihr seltsam unangemessen. Wenn es darum ging, am lautesten zu schreien, hatte Trump schon gewonnen. Sie wollte anders reagieren, auf einer tieferen, grundlegenderen Ebene. Eines Morgens wachte sie auf und hatte die Idee: Grundlage der amerikanischen Demokratie ist die Verfassung.

Sie reservierte einen ruhigen Platz in der New York Public Library, der öffentlichen Bibliothek, und informierte einige Freunde. Eine Künstlerkollegin fragte, ob sie die Aktion auf Facebook ankündigen dürfe. O’Hara zögerte, stimmte jedoch zu. Eine Stunde lang blieb sie in der Bibliothek allein, dann kamen zwei Bekannte. Schließlich stießen noch sieben weitere, ihr fremde Teilnehmer hinzu. Im Leseraum der Bibliothek herrscht Stille. Es beruhige, sagt sie, einfach dazusitzen und von Hand den Verfassungstext zu kopieren. Es schaffe Gemeinschaft.

Die Aktion verbreitet sich weltweit

Sie beschloss, die Aktion jeden Monat zu wiederholen. Von der New York Times wurde sie eingeladen, am 4. Juli, dem amerikanischen Unabhängigkeitstag, einen ganzseitigen Artikel zu veröffentlichen. Seitdem läuft das Projekt, ohne dass sie dabei sein muss. 119 Termine hat es bisher gegeben: in anderen Teilen der USA, in Deutschland, Italien, Portugal, Hongkong, Macao und Taiwan. Es muss nicht immer die amerikanische Verfassung sein. In Taiwan wäre ihr das ziemlich widersinnig erschienen, sie entschied sich für die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte.

Gisela Sprenger-Schoch ist auf Morgan O’Hara bei Recherchen für die Ausstellung "Tanz Bewegung Geste Bild" Anfang des Jahres in der Kunsthalle Göppingen gestoßen; nun hat sie New Yorkerin nach Waiblingen eingeladen. Die frühere Leiterin der Waiblinger Kunstschule hat vor zehn Jahren in der Galerie Stihl eine wegweisende Ausstellung zum bildkünstlerischen Werk des Komponisten John Cage kuratiert und interessiert sich für den Zusammenhang von körperlicher Bewegung und Kunstwerken. In Göppingen setzte O’Hara live die Bewegungen von TänzerInnen der John-Cranko-Schule in Zeichnungen um – mit Direktübertragung nach Los Angeles.

O’Hara weilt derzeit, als zweite Künstlerin überhaupt, als "Visiting Artist" an der Universität Tübingen. Ihr Thema dort ist die Psychologie der Kreativität: Welches sind die Bedingungen, unter denen Menschen produktiv werden? Was hindert sie daran? Darum geht es auch in ihrem Tübinger Seminar, drei Stunden pro Woche, einen Monat lang. Ziel ist, die Studierenden dafür zu sensibilisieren, wo ihre Kreativität gebremst ist. Um diese Schwelle zu überwinden.

Der Kugelschreiber ist dem Laptop überlegen

Wenn es um "problematische Regierungen" gehe, "mit denen wir uns auseinandersetzen müssen", sagt O’Hara – den Namen Trump möchte sie gar nicht aussprechen –, tendieren wir dazu, die Probleme, die sich auf der Regierungsebene abspielen, zu internalisieren. Mit anderen Worten: uns Denkverbote aufzuerlegen. Regierungsvertreter sprechen bestimmte Dinge nicht mehr aus, in der Befürchtung, der Präsident sagt: "You’re fired." Über die Medien verbreitet sich diese Selbstzensur in die Gesellschaft. Die Verfassung, das Grundgesetz oder die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte abzuschreiben, kann helfen, darüber hinwegzukommen.

Wichtig, so die Künstlerin, sei, die Texte handschriftlich zu kopieren. In den Vereinigten Staaten seien erwachsene Menschen oftmals kaum mehr in der Lage, einen Satz von Hand zu schreiben. Aber genau dabei, sagt sie, passiert etwas mit uns. Es entsteht nicht nur eine Kopie des Texts, sondern sein Inhalt wird Teil der eigenen körperlichen Wahrnehmung. Studenten, die in den Vorlesungen von Hand mitschreiben, haben bessere Noten als diejenigen, die ein Laptop benutzen, zitiert sie eine neuere Untersuchung.

Es geht ihr nicht um Besonderheiten nationaler Verfassungstexte. Sondern darum, zu wissen, wie die fundamentalen Menschenrechte darin verankert sind. Das deutsche Grundgesetz ist nun 70 Jahre alt – ein weiterer Anlass für die Aktion in Waiblingen. Es gibt einem Sicherheit, wenn man weiß, welche Rechte man hat. In der Ruhe liegt die Kraft, so die Künstlerin: Innerlich ausgeglichen, nicht in Alarmstimmung, treffen wir die besseren Entscheidungen.


Info:

Die Aktion findet am Mittwoch, 24. Juli auf der Terrasse hinter dem Kulturhaus Schwanen in Waiblingen statt, von 16 Uhr bis zur Abenddämmerung. Mitmachen kann, wer möchte.


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4 Kommentare verfügbar

  • Kolodaktylon
    am 25.07.2019
    Antworten
    Die Künstlerin meint also ernsthaft, selbstauferlegte Denkverbote und das Problem der "Selbstzensur" seien die Folgen problematischer "populistischer" Regierungen, wie jener besonders schlimmen Trumps in den VSA?
    Verzeihung, dann hat sie leider all die Jahrzehnte zuvor selbstgefällig geschlafen!
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