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"Dorfansicht mit Nazis" von Peter Kern

Über Menschen, die sich widersetzten

"Dorfansicht mit Nazis" von Peter Kern: Über Menschen, die sich widersetzten
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Mit seinem neuen Buch gelingt Peter Kern gleich zweierlei: die dichte Beschreibung einer Kindheit und Jugend in der südwestdeutschen Provinz und eine Studie über die weithin vergessene jüdische Geschichte in dieser Region.

In Rodalben strukturierte die Kirche den Alltag der Menschen. "Einmal im Jahr fiel das Läuten der Glocken aus, das war vor Ostern, wenn Jesus für unsere Sünden am Kreuz starb", beschreibt Peter Kern das Lebensgefühl eines aufgeweckten Kindes dem kleinen Dorf im Süden von Rheinland-Pfalz. Die regelmäßige Beichte war ein Ritual, dem sich niemand entziehen konnte, der nicht zum Außenseiter gestempelt werden wollte. "Messe, Andacht war immer, und immer läuteten die Glocken von Sankt Josef dazu, Mai-Andacht, Rorate-Andacht, Totenmesse, Kindergottesdienst." Doch auch nach Rodalben dringt die Kunde von neuen Bewegungen in Kultur und Gesellschaft, die durch den gesellschaftlichen Aufbruch um 1968 ausgelöst wurde.

Es ist seine eigene Geschichte, die Peter Kern, Jahrgang 1954, hier erzählt. Der freie Autor, der lange politischer Sekretär beim Bundesvorstand der IG Metall war, beteiligt sich mit Büchern ("Die Angestellten zwischen Büroalltag und Fluchtphantasie") und Artikeln an der Debatte über gesellschaftliche Themen. Mit seinem kürzlich veröffentlichten Buch "Dorfansicht mit Nazis" gelingt ihm nun gleich zweierlei: die sehr dichte Beschreibung einer Kindheit und Jugend in den 1960er- und frühen 1970er-Jahren in der südwestdeutschen Provinz und eine Studie über die weithin vergessene jüdische Geschichte in dieser Region.

Eine "autobiografisch gerahmte Studie"

Wie aus einem gehorsamen Messdiener in dem kleinen Ort ein linker Rebell wird, der immer öfter per Anhalter in die größere Stadt fährt, das erzählt Kern im ersten Teil des Buches. Dabei beschreibt er auch die wichtige Rolle, die die Kultur und vor allem die Musik aus den USA für seine jugendliche Emanzipation spielte. "Es war diese Liebe zur Kultur aus den USA, die mich wohl vor dem dümmsten Antiamerikanismus bewahrt hat", sinniert er rückblickend. Kern kann sich noch gut an die Zeiten erinnern, als junge Linke berechtigterweise gegen den Vietnamkrieg der USA demonstrierten, aber nicht wissen wollten, was die eigenen Eltern und Verwandten eigentlich in der NS-Zeit gemacht hatten.

Hier schließt der zweite Teil des Buches an, das nun zu einer "autobiografisch gerahmten Studie wird, die in authentisch geschilderte Spuren über einen weitgehend vergessenen Personenkreis der nationalsozialistischen Gewaltpolitik informiert: das pfälzische Landjudentum", so der Sozialwissenschaftler Michael Brumlik im Klappentext. Dabei konnte Kern auf die Arbeit des Lokalhistorikers Peter Conrad zurückgreifen, der seit Jahren die Geschichte der Jüd:innen in Rodalben erforscht, sich um die Verlegung von Stolpersteinen kümmert und Spaziergänge zu Orten jüdischen Lebens organisiert. "Wir haben uns bisher noch nicht persönlich getroffen, sondern nur übers Internet kommuniziert. Doch wir waren uns über das Buch sofort einig", schildert Kern die gelungene Kooperation.

Am Anfang der Recherche stand eine Frage, die den politisch aktiven jungen Peter Kern umtrieb. War Tante Antoinette, an die er so viele schöne Kindheitserinnerungen hatte, etwa an der Verfolgung der Jüd:innen in Rodalben beteiligt? Der Verdacht entstand, weil in ihren Haus in der Nazizeit der berüchtigte Gauleiter Josef Bürckel jüdische Familien einpferchen ließ, bevor sie in die Vernichtungslager abtransportiert wurden. Im Laufe seiner Recherche stellte sich heraus, dass Tante Antoinette damit nichts zu tun hatte, weil sie das Haus viel später erwarb. Aber bei Kern war das Interesse an der Geschichte der jüdischen Bevölkerung in der Region bis ins 19. Jahrhundert geweckt.

Biografien von Opfern und Tätern

Mehrere Biografien zeichnet er in "Dorfansicht mit Nazis" nach. Etwa die von Julius Moses, eines einige Jahre in Rodalben praktizierenden Arztes, dessen Name in den Kalenderblättern, einer Art Dorfchronik, nicht erwähnt wird. Dabei hatte sich Julius Moses, der ein Freund des Publizisten und Politikers Theodor Herzl war, auf dem Gebiet der Kinderpsychologie einen Namen gemacht. Er konnte vor der NS-Vernichtung noch rechtzeitig nach Tel Aviv ausreisen. Dort erinnerte er sich noch in hohem Alter in seinen letzten Texten an sein Leben in Rodalben.

Oder Ludwig Samuel. Der Kaufmann gehörte zu den Honoratioren des Dorfes, saß im Vorstand des Synagogenrats, war Mäzen des Krankenhauses und warnte frühzeitig vor dem Aufstieg der Nazis. Nachdem sie an der Macht waren, wurde er von der Gestapo in Neustadt verhört und wie ein Verbrecher behandelt. 1939 gelangen ihm und seiner Frau in letzter Minute die Flucht. 1946 besuchte er noch einmal Rodalben. "Sein Sohn Fritz spricht von der Verbitterung seines Vaters. Den macht man zum Ehrenbürger des Dorfs, aber sein Eigentum ist unwiderruflich den Herren Bernd und Knecht vermacht", schreibt Kern; die Profiteure der Arisierung im Dorf durften auch nach 1945 den geraubten Besitz behalten.

Ein weiteres, ergreifendes Kapitel behandelt Ludwig Samuels Bruder Gustav Samuel, der nach seiner Ausreise in die USA verarmt. In einem Briefwechsel mit den Nazi-Behörden streitet er vergeblich um die Auszahlung seines eingezogenen Sparguthabens.

Ein erstmals dokumentierter Briefwechsel

Von hohem historischen Interesse ist außerdem ein Briefwechsel der NS-Täter, den Kern in seinen Buch erstmals publik macht. Es geht um die jüdische Familie Metzger aus Rodalben, die nach der Arisierung ihres Eigentums bei Verwandten in der Nähe von Göppingen Zuflucht gefunden hatte. Der dortige NSDAP-Bürgermeister wollte sie wieder loswerden und geriet damit mit seinem pfälzischen Amtsbruder in einen heftigen Streit, der sogar das Innenministerium von Württemberg und die Kreisverwaltung der NSDAP beschäftigte. "Die Partei wußte Rat. Sie veranlasste die Deportation der Familien Metzger-Baer von Süßen nach Riga", schreibt Kern. Ein Todesurteil. Nur eine Tochter überlebte und konnte später nach Haifa ausreisen.

Auch mit den Biografien der Täter beschäftigt sich Kern: Mit Josef Bürckel beschreibt er einen Nazi der ersten Stunde aus Rodalben, der Adolf Eichmann bei der Organisierung der Shoah unterstützte. Bürckel war auch einer der Organisatoren der Deportation von über 5.000 Jüd:innen aus Baden und der Saarpfalz am 20. Oktober 1940 in die Vernichtungslager. In seinem Heimatdorf war der Massenmörder als leutselig bekannt. "Bis 1945 waren die Menschen in Rodalben stolz, wenn Bürckel den Ort besuchte. Danach redete man nicht mehr von ihm", erinnert sich Kern.

Noch vor wenigen Jahren gab es eine Auseinandersetzung um seine Grabstätte auf einem Neustädter Friedhof, die von der zuständigen Mainzer Behörde als "historisches Denkmal" eingestuft worden war. Am 22. Oktober 2016, dem 76. Jahrestag der Judendeportationen aus Südwestdeutschland, wurde im Rahmen einer Gedenkveranstaltung der Name auf dem Bürckel-Grabmal mit einem weißen Tuch verhüllt und ein rotes Band mit den Namen der 58 aus Neustadt deportierten Jüd:innen darüber geschlungen. Den Opfern von Verfolgung und Terror in der Geschichte ihre Namen zurückgeben, das ist auch das Anliegen von Peter Kern.

Exkurs ins Jahr 1848

Ganz am Ende des Buches erzählt er noch eine ältere Episode aus der Geschichte seines Heimatdorfes. Es geht um die demokratischen Aufstände des Jahres 1848, die auch an Rodalben nicht spurlos vorbeigingen. Nach deren blutigen Niederschlagung flüchtet ein junger Mitkämpfer in sein Elternhaus und versteckt sich im Wäscheschrank. Soldaten des preußischen Militärs stechen mit den Bajonetten in den Schrank, und das Versteck wird entdeckt. Durch die Bitten seiner Eltern wird der Jugendliche vor der Hinrichtung bewahrt. Später baut er sich wie viele Demokrat:innen des Jahres 1848 in den USA ein neues Leben auf.

Der Riss im Schrank war das einzige Zeugnis von Widerstand und Verfolgung. Heute steht er im Heimatmuseum von Pirmasens als Zeugnis pfälzischer Handwerkskunst. Dass er einst als Versteck eines Aufständischen gedient hat, bleibt unerwähnt.

Dass Peter Kern sein Buch mit diesem Nachtrag beendet, will er auch als Zeichen der Hoffnung verstanden wissen. "Es gab eben nicht nur Täter und Mitläufer, sondern zu allen Zeiten auch Menschen, die sich der Macht widersetzten." Das Buch sorgt dafür, dass ihre Namen nicht im Dunkel der Geschichte verschwinden.


Peter Kern: Dorfansicht mit Nazis, Hentrich & Hentrich, 2024, 280 Seiten, 24,90 Euro.

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