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Zum Tod von Stefan Jerzy Zweig

Das "Buchenwald-Kind"

Zum Tod von Stefan Jerzy Zweig: Das "Buchenwald-Kind"
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Stefan Jerzy Zweig kam im letzten Kriegsjahr ins Konzentrationslager. Ohne Willi Bleicher, den späteren Chef der IG Metall in Baden-Württemberg, hätte der damals Dreijährige das KZ nicht überlebt. Wie nun bekannt wurde, ist er Anfang Februar mit 83 Jahren in Wien gestorben.

1964: Das "Kind von Buchenwald", wie Stefan Jerzy Zweig seit dem Erfolg des Romans und des DEFA-Spielfilms "Nackt unter Wölfen" genannt wird, trifft seinen Retter in Stuttgart. Zweig ist von Paris gekommen, wo er zu dieser Zeit studiert hatte. Willi Bleicher, Metall-Gewerkschafter und bundesweit bekannt als Streikführer, hatte Zweig eingeladen, nachdem er seine Adresse erfahren hatte. Seitdem verspürt "Juschu", wie Bleicher ihn nannte, eine tiefe Verbundenheit mit dem Stuttgarter, den er bis dahin nur aus Erzählungen seines Vaters Zacharias kannte. Als er viele Jahre später Bleichers Grab besucht, liest er das jüdische Totengebet, das Kaddisch, "das traditionell Söhne für ihre Väter sprechen", wie er sagt. Denn Bleicher war für ihn so etwas wie sein zweiter Vater.

Stefan Jerzy Zweig wird am 28. Januar 1941 in Krakau als Sohn des Rechtsanwalts Zacharias Zweig geboren. Seine ersten Lebensmonate verbringt er unter anderem im jüdischen Ghetto von Warschau. Während einer Räumungs- und Tötungsaktion lässt sein Vater das zweijährige Kind von einer Ärztin betäuben und versteckt es in einem Rucksack. So wird der Junge gemeinsam mit Vater, Mutter und seiner älteren Schwester in ein Zwangsarbeitslager überstellt. Dort muss er ebenfalls vor der SS versteckt werden – bei polnischen Familien in der Umgebung oder unter Abfall auf einer Mistkarre.

Später werden Zweigs Mutter und Schwester in Auschwitz in den Tod geschickt. Den Vater und den Jungen bringt die SS ins KZ Buchenwald, wo Willi Bleicher der erste Funktionshäftling ist, dem die beiden begegnen – vor der Effektenkammer, in die Häftlinge ihre Habseligkeiten abgeben müssen. Bleicher ist dafür verantwortlich. Die SS hatte ihn hier zum Kapo gemacht. In der Logik der SS ist ein Kind wie Stefan Jerzy Zweig ein "unnützer Esser", der im Lager nichts zu suchen hat. Doch Bleicher und einige seiner "Kumpels" wollen das Kind retten.

"Nackt unter Wölfen" machte ihn bekannt

Die Geschichte des Jungen hatte den Schriftsteller Bruno Apitz, selbst Buchenwald-Häftling, zu dem Roman "Nackt unter Wölfen" angeregt. Bruno Apitz hat den Stoff frei gestaltet. So ist das Kind in Buchenwald in einem Koffer versteckt angekommen. Genauso im Film – Regie Frank Beyer. Armin Müller-Stahl spielt die Rolle des "Kapos" der Effektenkammer (alias Willi Bleicher), Erwin Geschonneck den "Lagerältesten". Tatsächlich lief der Kleine aber 1944 an der Hand von Zacharias Zweig ins Lager.

Der Vater hat die dramatische Rettung seines Söhnchens, die immer wieder zu scheitern drohte, 1961 zu Papier gebracht und dabei Bleichers Verdienste besonders hervorgehoben. Die Jerusalemer Gedenkstätte Yad Vashem ehrte den Schwaben deshalb schon sehr früh als "Gerechten unter den Völkern". "Der Junge lebt. Er ist am Leben geblieben", sagte Willi Bleicher 1977. "Wenn nichts in meinem Leben an Spuren übriggeblieben wäre, nur diese Spur hätte es gerechtfertigt, hätte mein Leben lebenswert werden lassen – auch wenn ich ganz unten geblieben wäre nach 1945."

Bleicher blieb nicht ganz unten. Als Leiter der IG Metall in Baden-Württemberg wird er einer der wichtigsten deutschen Nachkriegsgewerkschafter. Nach Zweigs Besuch in Stuttgart 1964 reisen die beiden nach Buchenwald. Dort trifft Zweig unter anderem den Schriftsteller Bruno Apitz, dessen Roman ihn berühmt gemacht hat. "Nackt unter Wölfen" wurde in 30 Sprachen übersetzt. In der DDR mit einer Auflage von rund zwei Millionen das meistverkaufte Buch.

Im Westen stoßen DDR-Schriftsteller in den Hochzeiten des Kalten Krieges meist auf Ablehnung. Als Bruno Apitz 1962 zu einer Lesung nach Dortmund reist, verhaftet ihn die Polizei und schiebt ihn in die DDR ab. Grund: Er sei als Schriftsteller "ein Funktionär der SED".

Zweig fühlt sich instrumentalisiert – und wehrt sich

Stefan Jerzy Zweig wird in der DDR in dieser Zeit überall herumgereicht. Sein Verhältnis zu Schriftsteller Bruno Apitz bleibt unterkühlt. Er fühlt sich als Person nicht ernst genommen. Er ist zwar ein unfreiwilliger Star, ein Held, aber ein tragischer, denn die Traumata bleiben. Zweig leidet zeitlebens an den psychischen und körperlichen Folgen seiner Inhaftierung. Er klagt über "undefinierbare seelische Schmerzen", ist äußerst dünnhäutig, kann schnell beleidigend werden.

Er legt sich mit "Betonköpfen des SED-Regimes", wie er sie nennt, an und später mit West-Journalist:innen, Nachwendehistoriker:innen, Filmemacher:innen. Als ihn ein SWR-Journalist telefonisch um ein Interview bittet, erklärt er ihm nach einem längeren Gespräch: Sie haben die Geschichte nicht gründlich recherchiert, deshalb werde er mit ihm nicht sprechen. Die Dreharbeiten mit einem WDR-Team bricht er kurzerhand ab. Zweig wird häufig instrumentalisiert. Er hat das Gefühl, dass ihm seine Geschichte gestohlen wird – vor der Wende 1989/90 und danach. Auch darunter leidet er.

2005 erzählt er seine Geschichte in einem 467 Seiten starken Buch endlich selbst und veröffentlicht darin zahlreiche Quellen und Fotos. Im Eigenverlag. Titel "Tränen allein genügen nicht" und mit einem Nachwort der österreichischen Schriftstellerin Elfriede Jelinek.

Die Historikerin Susanne Hantke wies nach, dass die Machthaber der DDR den Propagandaerfolg von "Nackt unter Wölfen" keineswegs geplant hatten. Im Gegenteil: Das DEFA-Spielfilmstudio lehnt den Stoffvorschlag 1954 als "nicht geeignet" ab. Auch als Bruno Apitz beim Deutschen Schriftstellerverband ein Darlehen beantragt, um aus dem Stoff einen Roman zu machen, erhält er eine Abfuhr. Der nahezu unbekannte Schriftsteller ist zu dieser Zeit völlig verarmt. Schließlich kann er mit dem kleinen Mitteldeutschen Verlag in Halle einen Vorvertrag vereinbaren.

Ein ungeplanter Propagandaerfolg

Doch damit ist das Erscheinen des Buches noch nicht gesichert. Denn in der DDR tobt eine Auseinandersetzung zwischen der Funktionärsgruppe um SED-Chef Walter Ulbricht, die 1945 aus dem sowjetischen Exil zurückgekehrt waren, und den ehemaligen kommunistischen KZ-Häftlingen. Ausgerechnet solche Männer, linke Funktionshäftlinge von Buchenwald, sollen in Apitz' Roman unter anderen Namen Hauptrollen spielen. Denn schließlich waren sie es, die das Kind gerettet hatten. Problematisch auch das Vorbild für den Romanhelden André Höfel, den Kapo der Effektenkammer. Denn der reale Kapo, Willi Bleicher, gilt als Verräter, da er in Stuttgart schon wenige Jahre nach 1945 aus der KPD ausgetreten war.

Apitz wagt es dennoch, in seinem Roman Hörigkeit gegenüber der Partei in Frage zu stellen. Häftlinge wie Höfel widersetzen sich der Vernunft, die in diesem Fall als Parteidisziplin daherkommt. Sie wollen ein Kind retten und würden damit die heimlich operierende Widerstandsgruppe im Lager gefährden. Ein schier unlösbar erscheinender Konflikt. Ein Konflikt, den es auch real gab. Und Willi Bleicher hat sich deshalb immer wieder dem Vorwurf aufgesetzt gesehen, gegen die Disziplin verstoßen zu haben. Man kann davon ausgehen, dass Bleicher seinen "Kumpel" Apitz darin bestärkt hat, den Roman auch deshalb zu schreiben und alles zu tun, um ihn zu veröffentlichen. Was schließlich gelingen sollte.

Im Gegensatz zu etlichen West-Kritikern bewertet Marcel Reich-Ranicki "Nackt unter Wölfen" positiv. Die "höhere Pflicht", schreibt Reich-Ranicki auf ein Romanzitat Bezug nehmend, sei in dem Werk von Apitz "die einfache Menschlichkeit, die über allen anderen Gesichtspunkten triumphiert, das Interesse der Partei nicht ausgenommen".

Jahrzehnte später streitet man in der Nachwendezeit über die Frage, wie Stefan Jerzy Zweig vor einem geplanten Kindertransport in das KZ Auschwitz bewahrt werden konnte. Einige sprachen von "Opfertausch", skandalisierten seine Rettung durch kommunistische Häftlinge, was Zweig gekränkt und sehr wütend gemacht hatte. Sein Name war nämlich auf der Transportliste zusammen mit elf weiteren Namen von Häftlingskindern durch neue Namen ersetzt worden. Die ursprüngliche Listennummer von Zweig bekam der 16-jährige Sinto Willy Blum, der sich freiwillig gemeldet hatte, um bei seinem kleinen Bruder zu bleiben, wie die Historikerin Annette Leoanhand von Lagerdokumenten belegen konnte. Der junge Stefan Jerzy wurde danach in das spezielle "Kleine Lager" von Buchenwald geschmuggelt und dort von seinem Vater bis zur Befreiung des KZ im April 1945 versteckt.

Der österreichischen Journalistin Siobhán Geets, die als erste über den Tod von Stefan Jerzy Zweig geschrieben hat, hatte der 83-jährige noch im Krankenhaus in Wien erzählt, er könne bald aus dem Spital entlassen werden, immerhin wolle er noch ein letztes endgültiges Interview geben. Dazu kam es nicht mehr.


Hermann G. Abmayr hatte für die Recherchen zu seiner Bleicher-Biografie und zum Bleicher-Film mehrmals Kontakt mit Stefan Jerzy Zweig, interviewte ihn in Buchenwald, Weimar und Stuttgart. Sein Buch trägt den Titel: "Wir brauchen kein Denkmal – Willi Bleicher, der Arbeiterführer und seine Erben." Der Dokumentarfilm: "Wer nicht kämpft, hat schon verloren – Willi Bleicher: Widerstandskämpfer und Arbeiterführer."

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