Alles Wesentliche ist bekannt zum Nationalsozialismus, nichts Neues mehr zu erwarten? "Als ich angefangen habe zu forschen, ging es mir auch so, dass ich dachte: Vielleicht ist alles schon gemacht", sagt die Historikerin Io Josefine Geib. Aber: mitnichten. Die gebürtige Stuttgarterin, die in Frankfurt am Main Geschichte mit Schwerpunkt Holocaust- und Antisemitismusforschung studiert, hatte im vergangenen Jahr begonnen, zu einer Polizei-Razzia in Stuttgart im März 1946 zu forschen. Der jüdische Auschwitz-Überlebende Shmuel Dancyger (deutsch: Samuel Danziger) wurde dabei erschossen. Lange hieß es, der Todesschütze sei nie gefunden worden. 2016 erschien in Kontext ein Artikel zu diesem Fall, Autor Jürgen Bartle schrieb: "Vermutlich wurde noch nicht mal ermittelt."
Geib und ihre Co-Autorin Tina Fuchs konnten nun in der Neuauflage des "Stuttgarter NS-Täter"-Buches bestätigen, dass tatsächlich nie ernsthaft nach dem Täter gesucht worden war. Und sie rekonstruierten eine überaus plausible Indizienkette, die beim Polizeiobermeister Arthur Koch endet. "Das zeigt auch, dass es sich lohnt, Dinge zu hinterfragen, selbst dann, wenn man den Eindruck hat, es ist eigentlich schon alles erforscht", sagt Geib.
Wie wenig die NS-Zeit auf lokaler Ebene teils noch erforscht ist und welche Wellen neue Erkenntnisse auch Jahrzehnte später auslösen können, bewies vor fast genau zwölf Jahren die Veröffentlichung von "Stuttgarter NS-Täter" im Schmetterling Verlag. Herausgegeben vom Journalisten Hermann G. Abmayr, stellten darin 30 AutorInnen 45 Täter vor. Es fallen bekannte Namen wie der von Karl Strölin, von 1933 bis 1945 amtierender Oberbürgermeister. Der württembergische NSDAP-Gauleiter Wilhelm Murr war dabei, aber auch Personen, die bislang kaum mit dem NS-Regime in Verbindung gebrachten worden waren. Der Kinderarzt Karl Lempp beispielsweise, der für die Ermordung von Kindern im Rahmen der "Euthanasie" und Zwangssterilisierungen verantwortlich war, aber noch bis 1949 Leiter des städtischen Gesundheitsamts blieb.
Dessen Enkel Volker Lempp bestritt damals die Vorwürfe im Buch und forderte, die Verbreitung der damit verbundenen Textstellen einzustellen, was er mit einer einstweiligen Verfügung beim Landgericht durchsetzen wollte. Der Verlag rief die Bücher zunächst wieder aus dem Buchhandel zurück und stoppte die Auslieferung. Doch Ende 2009, kurz vor dem Prozesstermin, nahm Lempp seinen Antrag wieder zurück.
Auch die Enkelin des Sonderrichters Hermann Cuhorst, der in der NS-Zeit auch "Blutrichter" genannt wurde, protestierte gegen die Veröffentlichung. Sie versuchte schon vor Erscheinen des Buches über ihren Anwalt auf das entsprechende Kapitel Einfluss zu nehmen. Herausgeber und Verlag reagierten nicht.
Porsche musste seine Geschichte erforschen
Ganz andere Wirkungen hatte das Kapitel des Wirtschaftsjournalisten (und späteren Kontext-Autors) Ulrich Viehöver über Ferdinand Porsche: Viehöver wies als erster nach, dass die Nähe von Porsche zu den Nazis viel enger war, als bis dahin zugegeben. Und er wies nach, dass in dessen Werk in den letzten Kriegsjahren mehrere Hundert Zwangsarbeiter schufteten. Nichts davon war im damals noch ziemlich neuen Porsche-Museum erwähnt.
Als Folge von Viehövers Aufsatz musste sich der Autobauer vielen kritischen Fragen in den Medien stellen. Gegenüber der israelischen Tageszeitung "Haaretz" erklärte der damalige Leiter des Porsche-Archivs Dieter Landenberger schließlich, "dass das Unternehmen die neuen Erkenntnisse mit der gebotenen Ernsthaftigkeit behandeln und noch in diesem Jahr eine umfassende externe historische Studie in Auftrag geben wird".
Es dauerte fünf Jahre, bis der Stuttgarter Geschichtsprofessor Wolfram Pyta den Zuschlag bekam. 2017 erschien sein Buch "Vom Konstruktionsbüro zur Weltmarke". Pyta unterschlug darin jeglichen Verweis auf den Text aus dem Täter-Buch, der den Anstoß für seine Beauftragung gegeben hatte, und zeichnete Ferdinand Porsche und dessen Schwiegersohn Anton Piëch in mildem Licht als brave Mitläufer. Zu milde und mit zu vielen Leerstellen, wie Viehöver kurz nach Erscheinen in Kontext monierte. Auch, weil eine wichtige Quelle nicht beachtet wurde: Der in den USA liegende Nachlass von Adolf Rosenberger, der mit Porsche und Piëch zu den Firmengründern gehörte, 1935 aber aus der Firma gedrängt wurde – weil er Jude war, wie Rosenberger später erklärte, und das für Geschäfte mit dem Regime nicht opportun gewesen sei.
Ob der Vorwurf stimmt, lässt sich nicht mit letzter Gewissheit sagen. Pyta sieht in seinem Buch keinen zwingenden Zusammenhang. Die Auswertung des Rosenberger-Nachlasses hätte dem zumindest noch eine andere Sichtweise entgegengestellt. Eine Mitarbeiterin von Pyta, so hieß es später, habe zwar bei den Nachlassverwalterinnen angerufen und nach alten Dokumenten gefragt. Doch dann habe sich niemand mehr gemeldet.
Diese lückenhafte Quellenrecherche beschreibt auch Eberhard Reuß' Text "'Man muss von Arisierung sprechen': Der Fall Adolf Rosenberger", der in der neuen Auflage des NS-Täter-Buches nun den Porsche-Artikel ergänzt.
Massenmörder und Mitläufer
Während Pytas Porsche-Buch mit 300.000 Euro gesponsert wurde, waren es vor allem Kleinspenden, die die erste Auflage des Täter-Buches 2009 ermöglichten. Entstanden war das Vorhaben auf Anregung von Aktiven aus den Stuttgarter Stolperstein-Gruppen, die bei ihren Recherchen zu NS-Opfern immer wieder auch auf Namen von Stuttgartern stießen, die auf irgendeine Weise in die Verbrechen des Nazi-Regimes verstrickt waren. Das konnten Massenmörder oder Mitläufer sein, "es gab (und gibt) keinen homogen Tätertyp", schreibt Herausgeber Abmayr im Vorwort der neuen Ausgabe zum bewusst breit gewählten Täterbegriff. Die Porträtierten "haben den zwölf Jahre dauernden Terror des NS-Regimes dadurch ermöglicht, dass sie mitgemacht haben – als Verkünder rassistischer Theorien, als gläubige Partei-Mitglieder, als von den Nazis ernannte Gemeinderäte, der Karriere oder sonstiger Vorteile wegen oder, oder, oder."
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