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Behandlung empfohlen

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Der Arzt und Euthanasie-Experte Karl-Horst Marquart legt neue Beweise für die Existenz der "Kinderfachabteilung" der Nazis in der Stuttgarter Birkenwaldstraße (später Türlenstraße) vor. Kontext veröffentlicht vorab ein Kapitel aus seinem neuen Buch "Behandlung empfohlen".

Am 8. August 1944 teilte Hans Hefelmann, der Geschäftsführer des "Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden", dem Leiter des Arbeitsamts in Neustadt/Schwarzwald folgendes mit:

"Betrifft: Arbeitseinsatz der Frau Irmgard W. aus Hinterzarten/Schwarzw.

Der Reichsausschuss ist bei Kriegsbeginn vom Herrn Reichsminister des Innern beauftragt worden, Kinder mit bestimmten schweren Krankheitszuständen unter Zuhilfenahme des zuständigen Gesundheitsamtes in Kinderfachabteilungen des Reichsausschusses bei einer Reihe ausgesuchter Anstalten zum Zwecke bestmöglicher Pflege und Therapie einzuweisen. [...]

Nachdem hin und wieder unverständige Eltern eine Einweisung ihres schwerkranken Kindes in eine Anstalt abgelehnt haben, hat der Herr Generalbevollmächtigte für den Arbeitseinsatz auf Anfrage des Herrn Reichsministers des Innern grundsätzlich erklärt, dass die Pflege eines solchen kranken Kindes nicht als Grund für die Zurückstellung der Mutter vom Arbeitseinsatz gelten könne. Vor einiger Zeit ist nun einer Frau Irmgard W. aus Hinterzarten seitens des Reichsausschusses die Möglichkeit zur Aufnahme ihres Kindes in die Kinderfachabteilung bei dem städt. Kinderkrankenhaus und Kinderheim Stuttgart N, Birkenwaldstr. 10, geboten worden.

Ich teile Ihnen dies mit, mit dem Anheimstellen, die genannte Frau in Arbeit zu vermitteln, sofern für die bisherige Nichtbeschäftigung die Pflege des kranken Kindes ausschlaggebend war. In diesem Falle bitte ich um kurze Unterrichtung."

Am Schluss des Schreibens ist angefügt:

"An den Leiter des Gesundheitsamtes Neustadt (Schwarzwald) zur Kenntnisnahme. 

Herrn Obermed. Rat Dr. Lempp, städt. Kinderkrankenhaus und Kinderheim, Stuttgart N, Birkenwaldstr. 10, zur Kenntnisnahme."

Dieser "Reichsausschuss"-Brief wird in einer Publikation von Rolf Königstein zitiert, aber nur ein Ausschnitt daraus: der Absatz "Nachdem hin und wieder [...]". Die nachfolgenden beiden Absätze, in denen es um die Aufnahme des Kindes "in die Kinderfachabteilung bei dem städt. Kinderkrankenhaus und Kinderheim Stuttgart" geht, und die beiden angefügten Vermerke "zur Kenntnisnahme" des Leiters des Gesundheitsamts Neustadt sowie Lempps wurden weggelassen. Wollte er mit diesem durch Weglassen verfälschten Zitat seine These untermauern, dass es in Stuttgart keine "Kinderfachabteilung" gegeben hätte?

Etwa sieben Monate vor Hefelmanns Mitteilung vom 8. August 1944 an den Leiter des Arbeitsamts Neustadt hatte der "Reichsausschuss" (von Hegener) an den Leiter des Staatlichen Gesundheitsamts Freiburg am 13. Januar 1944 geschrieben:

"Betrifft: Runderlass des Reichsministers des Innern vom 18.8.39 über Meldung missgestalteter usw. Neugeborener [u.] Kleinkinder.

Aus gegebener Veranlassung bitte ich um einen ausführlichen amtsärztlichen Befundbericht über das Kind Klaus W., geb. 5.6.1940, zurzeit Hinterzarten, Amt Freiburg/Br. [...].

Für baldige Erledigung wäre ich dankbar."

Der Amtsarzt Dr. Rudolf Hauger, Leiter des Staatlichen Gesundheitsamts Neustadt/Schwarzwald – dorthin war das Schreiben des "Reichsausschusses" zuständigkeitshalber weitergeleitet worden – antwortete am 3. März 1944 mit einem "amtsärztlichen Befundbericht":

"Klaus W. [...] wurde am 25. Februar 1944 im Gesundheitsamt Neustadt/Schwarzw. untersucht.

Zeugnis des Kinderarztes Dr. Kutter in Heidenheim vom 1.6.42: 'Das Kind machte bei der Untersuchung einen geistig etwas zurückgebliebenen Eindruck, war schreckhaft und zeigte Zeichen nervöser Diathese und neuropathische Konstitution.' Der Nervenarzt Dr. Henning teilt im Bericht vom 18.6.42 mit, es bestehe 'Gehunfähigkeit' und das Kind mache 'schwachsinnigen Eindruck'. Nach Angabe der Mutter hat das Kind im letzten Jahr in geistiger und körperlicher Hinsicht gute Fortschritte gemacht.

Das Kind befindet sich in mittlerem Ernährungszustand, ist kräftig und sieht gesund und frisch aus. Bei der Untersuchung ist es etwas unruhig, der Gang ist unsicher und leicht ataktisch. An Herz, Lunge und Bauchorganen sind keine krankhaften Veränderungen nachweisbar. In intellektueller Hinsicht ist das Kind noch leicht zurückgeblieben. Die Sprache ist noch undeutlich, vorgelegte Gegenstände werden richtig bezeichnet, Beschreibung von Bildern ist noch mangelhaft.

Beurteilung: Das Kind leidet an zentral bedingten Gehstörungen und ist auch in seiner geistigen Entwicklung zurückgeblieben."

Daraufhin wurde am 6. April 1944 der Standardbrief zur Anordnung der Einweisung eines Kindes in eine "Kinderfachabteilung" vom "Reichsausschuss" - Absender: von Hegener, "Abtlg: Betreuung anstaltspflegebedürftiger Säuglinge und Kleinkinder [!]" – an den Leiter des Gesundheitsamts Neustadt gesandt:

"Hier kann auf Grund der durch den Reichsausschuss getroffenen Einrichtungen die beste Pflege und im Rahmen des Möglichen neuzeitliche Therapie durchgeführt werden.

Ich bitte daher, die Einweisung des Kindes in das genannte Krankenhaus, das bereits von mir in Kenntnis gesetzt ist, nach vorheriger Vereinbarung des Aufnahmetermins in die Wege zu leiten. [...]

Nach vollzogener Einweisung bitte ich um kurze Benachrichtigung.

Sollten wider Erwarten Schwierigkeiten seitens der Sorgeberechtigten entstehen, so sind diese in entsprechender Weise auf die erwähnten Runderlasse des Herrn Reichsministers des Innern hinzuweisen, von Zwangsmaßnahmen ist jedoch grundsätzlich abzusehen."

Die Mordgesellen vom "Reichsausschuss" in ihren Büros in Berlin dachten wahrscheinlich schon, dass ihr verbrecherischer Plan aufgehe. Doch die Mutter des Kindes durchkreuzte ihn. Der Leiter des Gesundheitsamts Neustadt, Hauger, meldete am 17. April 1944 dem "Reichsausschuss": "Die Mutter des Kindes Klaus W. [...] lehnt die Aufnahme in das Städt. Kinderkrankenhaus und Kinderheim Stuttgart-N, Birkenwaldstr. 10, ab."

Ernst Klee sagt über Irmgard W.: "[...] eine bemerkenswerte Frau. Sie lebt allein, da 'der Kindsvater aus politischen Gründen in die Schweiz gehen musste'. Nach dem Krieg hat sie die vielen Versuche geschildert, ihres Kindes habhaft zu werden. Sie bleibt standhaft."

Der Amtsarzt Hauger gab nach dem Zusammenbruch des "Dritten Reichs" an, er hätte die beabsichtigte Tötung des Kindes Klaus W. in der "Kinderfachabteilung" Stuttgart verhindert.

Info:

Dr. med. Karl-Horst Marquart arbeitete von 1987 bis 2011 im Gesundheitsamt der Stadt Stuttgart. Er ist Mitbegründer der Stolperstein-Initiativen.

Sein Buch "Behandlung empfohlen" erscheint in den nächsten Tagen im Peter-Grohmann-Verlag der "Anstifter". Es ist 332 Seiten stark, mit 50 Fotos und Dokumenten versehen und kostet 17, 90 Euro. Um die Kosten des Projekts (8000 Euro) zu decken, bitten die "Anstifter" um Spenden, Kennwort "Medizinverbrechen".


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1 Kommentar verfügbar

  • by-the-way
    am 03.12.2015
    Antworten
    Immer die gleiche Erfahrung:

    Gestern:
    Täter - in diesem Fall Mörder - bleiben straffrei, da nicht angeklagt...

    Die Dimension der Straftaten ist sicherlich nicht vergleichbar,
    aber auch in heutiger Zeit werden Täter, des 30.09.2010, auch mit eindeutigem Gerichtsurteil , das lautetn-…
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