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Vertuschter Kindsmord

Vertuschter Kindsmord
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Ärzte sprachen von "Kinderfachabteilungen". In Wirklichkeit waren es getarnte Mordanstalten. Verantwortliche NS-Mediziner wie Karl Lempp und Magdalene Schütte gingen straffrei aus.

Das Schicksal der kleinen Gerda Metzger hat viele bewegt. Das knapp vierjährige Mädchen, das unter spastischen Lähmungen litt, ist Mitte 1943 der Mutter entrissen und in der "Kinderfachabteilung" des Städtischen Kinderkrankenhauses in ermordet worden. Kontext berichtete über den Stuttgarter Kindsmord.

Erst in jüngster Zeit sind die geheimen "Kinderfachabteilungen" der Nazis einer größeren Öffentlichkeit bekannt geworden. Noch wissen die Historiker nicht genau, wie viele es gab. Nachgewiesen sind reichsweit bisher über 30. Eine davon befand sich im Zentrum von Stuttgart in der heutigen Türlenstraße. Seit Kurzem liegt dort ein <link http: www.kontextwochenzeitung.de http www.fluegel.tv beitrag _blank>Stolperstein für Gerda Metzger.

"Arbeitsteilige Täterschaft" 

Verantwortlich für die Ermordung von Tausenden von Kindern in den letzten Jahren des "Tausendjährigen Reiches" waren viele Menschen. Die historische Kriminologie, so Thomas Stöckle, der Leiter der Gedenkstätte Grafeneck, habe dafür inzwischen den Begriff "arbeitsteilige Täterschaft" entwickelt. Doch zunächst hat man in Deutschland – von Ausnahmen abgesehen – jahrzehntelang geschwiegen oder beschönigt. Auch in Baden-Württemberg oder Stuttgart, wo Ärzte wie Eugen Stähle, Otto Mauthe, Karl Lempp und Magdalene Schütte für die Verbrechen verantwortlich waren:

Eugen Stähle (Jahrgang 1890) war Obermedizinalrat und Ministerialrat im württembergischen Innenministerium und Chef der Gesundheitsabteilung.

Otto Mauthe (Jahrgang 1892) war Obermedizinalrat, Stellvertreter Stähles und "Berichterstatter für das Irrenwesen sowie Ehe- und Erbgesundheitsfragen".

Karl Lempp (Jahrgang 1881), war Leiter des Kinderkrankenhauses, das aus mehreren Standorten bestand, sowie seit 1941 kommissarischer Leiter des Stuttgarter Gesundheitsamts. 

Magdalene Schütte (Jahrgang 1904) war zunächst Assistenz-, dann Oberärztin im Städtischen Kinderkrankenhaus.

Seit einigen Jahren bestätigen mehrere Veröffentlichungen zur NS-"Kindereuthanasie", dass es eine getarnte Tötungseinrichtung in Stuttgart gab. Den ersten Hinweis hatte der NS-Forscher Ernst Klee gegeben, ohne aber die Details gekannt zu haben. Nur einer, der Backnanger Gymnasiallehrer Horst Königstein, bestreitet den Stuttgarter Kindsmord noch heute. Er attestiert der "Kinderfachabteilung" stattdessen eine "aufopferungsvolle Pflege".

Nach den Recherchen des Arztes und NS-Euthanasie-Forschers Karl-Horst Marquart wurde das erste Kind in der Stuttgarter "Fachabteilung" am 11. Januar 1943 umgebracht. Es war acht Tage alt und hatte mehrere Missbildungen. Da der Totenschein "keine plausible Todesursache" enthalten habe, deute alles auf einen unnatürlichen Tod hin, sagt Marquart. Er hat alle Totenscheine und das Leichenregister untersucht, die sich auf das Stuttgarter Kinderkrankenhaus beziehen, zu dem die "Kinderfachabteilung" gehörte.

Ergebnis der Untersuchung: Bei 52 Todesfällen – das älteste Kind war 12 Jahre alt – konnte Marquart in der Zeit von 1943 bis zum Kriegsende ein schweres angeborenes Leiden nachweisen. Die meisten Kinder litten an "Idiotie" – so nannte man damals schwerste geistige Behinderungen –oder Mongolismus. Aus den ärztlichen Angaben ließen sich aber keine medizinisch nachvollziehbaren Gründe für einen natürlichen Tod herleiten. So sei selbst bei Zweijährigen angegeben worden, sie litten an "Idiotie", obwohl man eine geistige Behinderung in diesem Alter noch nicht feststellen könne. Unglaubwürdig seien auch die Angaben zu Gerda Metzger aus Flacht (heute eine Teilgemeinde von Weissach im Landkreis Böblingen), die innerhalb kürzester Zeit an Diphtherie gestorben sein soll, was medizinisch nicht möglich sei. Viele Angaben, so Marquart, seien falsch beziehungsweise gefälscht, die Krankheitsdiagnosen, die Todesursachen, teilweise auch die ärztlichen Unterschriften.

"Weltanschaulich einwandfreie" Ärzte

Organisiert wurde die Ermordung behinderter Kinder in damaligen Deutschen Reich von einem "Reichsausschusses zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden" in Berlin. Der Arzt und Geschäftsführer des Ausschusses, Hans Hefelmann, suchte 1942 auch für Südwestdeutschland einen Ort für eine getarnte Tötungsstätte, "da es gerade jetzt im Kriege unmöglich ist, die Kinder aus Württemberg bis zu den nächstgelegenen Stationen in Hessen und im Allgäu zu verlegen". Zudem benötigte er dafür "weltanschaulich einwandfreie" Ärzte. Zusammen mit Eugen Stähle und dessen Stellvertreter Otto Mauthe vom württembergischen Innenministerium entschied er sich für Karl Lempp.

Lempp sei "grundsätzlich einverstanden" gewesen, heißt es in einer Aktennotiz Mauthes. Er habe "aber Bedenken gegen die Einrichtung einer besonderen Abteilung und die Zuziehung von Dr. Bofinger", der offensichtlich nicht zuverlässig genug war. Diese Bedenken seien begründet, schrieb Mauthe. "Es ist sicher besser, wenn diese Kinder, je nach ihrem Alter und der Art ihres Leidens, in die für sie zuständigen einzelnen Heime verteilt werden. Zur Behandlung würde die Assistenzärztin Dr. Schütte zugezogen, die von Dr. Lempp als durchaus zuverlässig bezeichnet wird." Damit sollte der Stuttgarter Kindsmord besser vertuscht werden. 

"Eine bessere Tarnungsstrategie", urteilt der Medizinhistoriker Udo Benzendörfer, sei ihm bisher nicht bekannt. Außerdem ließ Lempp in seiner Funktion als Leiter des Stuttgarter Gesundheitsamts 38 Kindern in die Tötungseinrichtung der Heilanstalt Eichberg in der Nähe der Stadt ­Eltville bei Wiesbaden einweisen. In diesen Fällen konnte er offensichtlich nicht sicher sein, dass sie in Stuttgart geheim gehalten werden können. 

Verbrechen gegen die Menschlichkeit

Etliche Dokumente belegen die Verantwortung von Stähle, Mauthe, Lempp und Schütte. Doch angeklagt oder verurteilt wurden sie wegen der Kindsmorde nie. Eugen Stähle hätte Ende der 40er-Jahre im "Grafeneck-Prozess" in Tübingen als Hauptbeschuldigter wegen "Euthanasie"-Verbrechen angeklagt werden sollen. Dabei ging es jedoch nicht um die Tötung von Kindern in "Kinderfachabteilungen", sondern um Stähles Verantwortung für die Ermordung von über 10 000 Kranken und Behinderten im Jahr 1940 in Grafeneck auf der Schwäbischen Alb. Doch Stähle starb noch vor der Eröffnung des Prozesses.

Otto Mauthe wurde in Tübingen 1949 wegen eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit in Form der Beihilfe zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt; aus gesundheitlichen Gründen sah die Justiz von der Vollstreckung ab. Dennoch starb Mauthe erst 1974.

Und als sich die Staatsanwaltschaft Anfang der 60er-Jahre mit dem Kindsmord in der Stuttgarter Türlenstraße befasste, war Karl Lempp bereits tot. So konnte nur noch ein Ermittlungsverfahren gegen Magdalene Schütte eingeleitet werden. Sie war damals Leiterin der Kinderabteilung des Kreiskrankenhauses in Aalen in Ostwürttemberg. Doch schon ein halbes Jahr später wurde das Verfahren eingestellt, da eine Täterschaft nicht habe festgestellt werden können.

Ausstellung im Rathaus geplant

Die Stadt Stuttgart hat sich bis heute nicht mit dem Kindermord in ihrem Kinderkrankenhaus befasst. Dies soll sich ändern, dachte man beim Arbeitskreis "Euthanasie" der Stuttgarter Stolperstein-Initiativen und schlug dem grünen Verwaltungs- und Krankenhaus-Bürgermeister Werner Wölfle vor, im November 2013 im Rathaus die Wanderausstellung "Im Gedenken der Kinder" zu zeigen und ein passendes Begleitprogramm auszuarbeiten. Der Arbeitskreis, dem auch ein Vertreter des Personalrats des Städtischen Klinikums angehört, hat aber bis heute ein Problem. Die Miete für die Wanderausstellung kostet 3000 Euro, und die Stadt lehnt es ab, die Finanzierung zu übernehmen. 

Zuletzt hat Werner Wölfle die Caritas darum gebeten, das Geld bei der "Aktion Mensch" zu beantragen, was jetzt geschehen soll. Die Stadt würde für die Ausstellung Flure des Rathauses zur Verfügung stellen, sagt der Bürgermeister, deren Eröffnung finanzieren sowie zwei Veranstaltungen anbieten, "eine, die sich mit der Vergangenheit auseinandersetzt, und eine, die sich um die heutigen ethischen Fragen in der Medizin kümmert".

 

Bücher zum Weiterlesen:

Weitere Informationen über Karl Lempp und Magdalene Schütte enthält das Stuttgart-Kapitel von Karl-Horst Marquart in "Kindermord und 'Kinderfachabteilungen' im Nationalsozialismus: Gedenken und Forschung", Hamburg, 2011

Weitere Informationen über Eugen Stähle, Otto Mauthe und Karl Lempp in den entsprechenden Kapiteln von "Stuttgarter NS-Täter – Vom Mitläufer bis zum Massenmörder", Stuttgart 2009. Siehe auch <link http: www.stuttgarter-ns-taeter.de _blank>www.Stuttgarter-NS-Taeter.de

"Die Belasteten: Euthanasie 1939–1945. Eine Gesellschaftsgeschichte", Götz Aly, Frankfurt, 2013

"Grafeneck 1940. Wohin bringt ihr uns? NS-Euthanasie im deutschen Südwesten", Franka Rößner und Thomas Stöckle, Hg. LpB, Stuttgart 2011

 

<link http: www.fluegel.tv beitrag _blank>Video zur Stolpersteinlegung und den einzelnen Redebeiträgen auf Flügel.tv


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