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Überfall auf Sowjetunion

Der furchtbarste Krieg

Überfall auf Sowjetunion: Der furchtbarste Krieg
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Vor 80 Jahren begann der Überfall Nazi-Deutschlands auf die Sowjetunion und damit die Entfesselung eines Krieges, wie es ihn vorher nie gab. In seinem Verlauf wurden Millionen ZwangsarbeiterInnen ins Deutsche Reich deportiert, allein 30.000 nach Stuttgart. Deren Schicksal ist immer noch ein blinder Fleck.

Wer vor genau 100 Jahren in der Sowjetunion geboren wurde und männlichen Geschlechts war, hatte sehr wenig Chancen, den 9. Mai 1945 zu erleben: Rund 90 Prozent der Männer des Jahrgangs 1921 verloren zwischen 1941 und 1945 im Krieg gegen Nazi-Deutschland ihr Leben. Im Kampf getötet wurden viele von ihnen allerdings nicht: Von 5,5 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen starben 3,3 Millionen in Gefangenschaft, die meisten von ihnen verhungerten. Sie galten als unnütze Esser, die zu ernähren der deutschen Armee und Bevölkerung wichtige Ressourcen entzogen hätte. "Nicht arbeitende Kriegsgefangene in den Gefangenenlagern haben zu verhungern", schrieb der Wehrmachtsoffizier Eduard Wagner, Generalquartiermeister des Heeres, im November 1941.

"Viele 10 Millionen Menschen werden in diesen (russischen, d. Red.) Gebieten überflüssig und werden sterben oder nach Sibirien auswandern müssen. … Es kommt also unter keinen Umständen auf die Erhaltung des Bisherigen an, sondern auf die bewusste Abkehr vom Gewordenen und die Einbeziehung der Ernährungswirtschaft Russlands in den europäischen Rahmen. Daraus erfolgt zwangsläufig ein Absterben sowohl der Industrie wie eines großen Teils der Menschen." (Wirtschaftspolitische Richtlinien für Wirtschaftsorganisation Ost, Gruppe Landwirtschaft; 23. Mai 1941)

Die Behandlung der sowjetischen Kriegsgefangenen, vom Heidelberger Historiker Christian Streit in seinem Buch "Keine Kameraden" 1978 erstmals umfassend dokumentiert, gilt heute als größtes Verbrechen der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg und für viele Historiker als eines der schlimmsten Kriegsverbrechen der Neuzeit. Im Bewusstsein vieler (West-)Deutscher dürfte es aber heute, 80 Jahre nach dem Beginn des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941, immer noch wenig verankert sein. Für den Freiburger Historiker Wolfram Wette ist dies auch ein Zeichen, dass die alten antirussischen und antisowjetischen Feindbilder – im Kalten Krieg sorgfältig konserviert – bis heute nicht überwunden sind. "Es ist kein Zufall, dass den ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangenen 2015 als einer der letzten Opfergruppen Ansprüche auf eine – eher symbolische – Entschädigung zugestanden wurde", schreibt Wette in der "Zeit" vom 10. Juni.

Dabei ist die Behandlung der Kriegsgefangenen nur einer von vielen Aspekten, die zeigen, wie monströs, wie anders dieser Krieg war. Wie viele Bürger der Sowjetunion insgesamt umkamen, ist nach wie vor unklar: Die Schätzungen schwanken zwischen 25 und 37 Millionen – zwischen 8,6 und 13 Millionen Soldaten und zwischen 15 und 28 Millionen Zivilisten.

ZwangsarbeiterInnen besser nicht erwähnen

Von vornherein war dieser Krieg kein "normaler" Krieg, so seltsam diese Kategorie klingen mag. Er war als rücksichtsloser Eroberungskrieg für "Lebensraum im Osten" gedacht, zugleich als Vernichtungskrieg gegen die als rassisch minderwertig erachtete slawische Bevölkerung. Dass die Grundsätze des Kriegsvölkerrechts hier ohne Belang seien, teilte Adolf Hitler seinen Generälen schon vorab mit, und die hatten keine Einwände. Da die Ressourcen der eroberten Gebiete vor allem dem Deutschen Reich zugutekommen sollten, wurde einkalkuliert, bis zu 30 Millionen Menschen verhungern zu lassen. In kalter Behördensprache entwickelte das Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft dafür im Mai 1941 eine detaillierte Strategie, die heute auch als "Hungerplan" bezeichnet wird.

Erst der Krieg im Osten schuf die Dynamiken und den Rahmen für die Schoah, die planmäßige Vernichtung der europäischen Juden. Lange vor der Errichtung von Vernichtungslagern wie Auschwitz-Birkenau entfaltete sich in den ersten Kriegsmonaten ein unfassbareres Massenmorden an der jüdischen Bevölkerung im Osten. Der Stuttgarter Gestapo-Chef Walter Stahlecker erwies sich als Leiter der Einsatzgruppe A als einer der furchtbarsten Schlächter: Ende 1941 meldetet er seinem Chef Reinhard Heydrich, ganz Estland "judenfrei" gemordet zu haben. Rund 240.000 Menschen, jüdische Männer, Frauen und Kinder, aber auch andere sowjetische Zivilisten fielen seinen Einsatzkommandos zum Opfer, ehe er im März 1942 selbst den bei einem Partisanenangriff erlittenen Verwundungen erlag.

"Im August 1943 wurde unsere ganze Familie nach Deutschland geschickt. Ich hatte schon eine Tochter. In der Stadt Bietigheim stiegen wir aus. Sowohl Menschen als auch Sachen wurden einer Sanitätskontrolle unterzogen. Als man uns auszog und in einen Duschraum führte, stand ich mit dem Kind da und wartete darauf, daß Gas kommt. Es kam Wasser. Wir wuschen uns und beruhigten uns etwas. Dann wurden wir mit dem Zug nach Stuttgart gebracht." (Galina Wasiljewna Dmitrijewa, sowjetische Zwangsarbeiterin)

Weitgehend vergessen wurden nach dem Krieg, überlagert von eigenen Leiderfahrungen durch die Rote Armee und das fortbestehende antikommunistische Feindbild, nicht nur die grauenhafte Praxis der Kriegführung; vergessen und verdrängt wurden auch lange deren sichtbare Folgen im unmittelbaren Umfeld: Rund 2,5 Millionen sowjetischer ZwangsarbeiterInnen wurden ab 1942 ins Deutsche Reich deportiert und in nahezu allen Bereichen der Gesellschaft eingesetzt. Den NS-Verantwortlichen dämmerte, dass es nicht opportun sei, Kriegsgefangene und Zivilbevölkerung in großem Stile verhungern zu lassen, wenn diese auch als Arbeitskräfte – oder besser: Arbeitssklaven – eingesetzt werden konnten.

Die überlebenden Kriegsgefangenen reichten dabei bei weitem nicht aus, massiv rekrutiert wurde daher in der Zivilbevölkerung, Frauen und selbst arbeitsfähige Kinder wurden herangezogen. Kamen einzelne Orte den Forderungen der deutschen Besatzer nach Arbeitskräften dabei nicht nach, wurden sie auch mal dem Erdboden gleich gemacht.

Die hiesige Industrie hat profitiert

Allein in Stuttgart waren schon 1942 rund 30.000 ZwangsarbeiterInnen, vermutlich etwa zwei Fünftel davon aus der Sowjetunion, die in unterschiedlichsten Bereichen schuften mussten: viele in großen Betrieben wie Daimler-Benz, Bosch, Porsche, Hirth-Heinkel oder Kreidler, aber auch für die Stadt. Mehrere Dutzend Lager waren über das ganze Stadtgebiet verteilt, das größte davon das Lager Schlotwiese in Zuffenhausen, wo rund 3.000 ArbeitssklavInnen untergebracht waren, zum großen Teil in von Porsche errichteten Baracken – ein Teil der Firmengeschichte, den Porsche heute lieber nicht so hoch hängt.

Auch unter den ZwangsarbeiterInnen waren die aus der Sowjetunion kommenden die unterste Kategorie, ihre Verpflegung und Unterbringungen und ganz allgemein ihre Behandlung waren weit schlechter als die der "Westarbeiter" etwa aus Belgien und Frankreich. "Ostarbeiter" und "Ostarbeiterinnen" genannt, standen sie in der Nazi-Rassenideologie auf der untersten Stufe der Hierarchie. Sie galten als "slawische Untermenschen" und mussten, ähnlich wie die Juden den Stern, ein aufgenähtes Kennzeichen mit der Bezeichnung "Ost" tragen.

Die Überwachung der ZwangsarbeiterInnen oblag der im Stuttgarter Hotel Silber residierenden Gestapo. Ein neu gegründetes Ostarbeiter-Referat kümmerte sich um die Einhaltung der rassistischen Sonderbestimmungen, die Unterbindung von Kontakten zur deutschen Bevölkerung und von Widerstandsaktivitäten. Als "Russenschlächter" berüchtigt wurde dabei Referats-Chef Gottfried Mauch. Wie viele Hinrichtungen er genau anordnete, ist unbekannt, aber in zahlreichen Fällen ist seine Anwesenheit und direkte Beteiligung nachgewiesen. Viele Fälle wurden dabei nach dem Krieg totgeschwiegen: Dass etwa im Juni 1944 in Winnenden zwei sowjetische Zwangsarbeiter unter Leitung Mauchs wegen Diebstahls öffentlich erhängt wurden, wurde nur dadurch dem Vergessen entrissen, dass 1961 ein ehemaliger Patient der psychiatrischen Heilanstalt Anzeige erstattete. Noch kurz vor Kriegsende ließ Mauch in Welzheim fünf Sowjetbürger durch Genickschuss töten.

Wie viele der zur Arbeit fürs Reich Gezwungenen in Stuttgart insgesamt starben, ist dabei unbekannt. Immer wieder werden neue Details gefunden, etwa für die Ermordung von Kindern von Zwangsarbeiterinnen, die Karl-Horst Marquart vor einigen Jahren aufdeckte.

Nach und nach kommt immer mehr raus

"Ein blinder Fleck in der Erinnerungskultur" ist für Harald Stingele von der Hotel-Silber-Initiative nach wie vor der ganze Krieg im Osten, auch er sieht darin eine Folge des Kalten Krieges, die es ermöglichte, ja forderte, am alten Feindbild Russland/Sowjetunion festzuhalten. Ein blinder Fleck blieb dadurch eben auch das Schicksal der ZwangsarbeiterInnen. "Dabei war Zwangsarbeit im Krieg ein präsentes Thema, sie war allgegenwärtig", sagt Stingele. In Stuttgart ist die Erforschung immer noch bruchstückhaft; es gibt Kapitel in Überblicksdarstellungen zur NS-Zeit wie der von Roland Müller, es gibt Einzelstudien zu großen Betrieben wie Daimler-Benz oder Bosch, es gibt ein umfangreiches Kapitel über die Repression in Ingrid Bauz', Sigrid Brüggemanns und Roland Maiers Band "Die Geheime Staatspolizei in Württemberg und Hohenzollern" und Täter-Biographien in Hermann G. Abmayrs "Stuttgarter NS-Täter"-Buch. Eine umfassende Monographie, die alle Bereiche der Zwangsarbeit in Stuttgart abdeckt, fehlt nach wie vor.

"Mit den Russen habe ich immer viel Mitleid gehabt, die haben wenig zu essen bekommen, viel weniger als wir hatten. Die Mädchen hatten sich nachts bei uns angemeldet, wir durften mal ... wenn wir etwas Brot gaben."  (Leo Evers, niederländischer Zwangsarbeiter bei Daimler-Benz)

"Wir hatten großen Hunger, wenn wir nicht vor Hunger sterben wollten, mussten wir uns zusätzlich Nahrung verschaffen." (Sofia Minajewa, sowjetische Zwangsarbeiterin bei Daimler-Benz)

Dabei wurden die Forschungsdefizite schon vor Jahrzehnten benannt und Abhilfe gefordert. Auf einen Antrag der SPD-Gemeinderatsfraktion vom 8. Mai 1997, mehr an das Leiden der ZwangsarbeiterInnen zu erinnern, antwortete der damalige OB Wolfgang Schuster (CDU) unter anderem: "Das beste Gedenken ist sicherlich eine möglichst lückenlose Erforschung des Themas".

Die scheint nun, 24 Jahre später, immerhin einen Schritt näher gekommen zu sein. Die Stadt Stuttgart hat ein Doktorandenstipendium zur Erforschung der Zwangsarbeit in Stuttgart ausgelobt, vor Kurzem wurde ein Doktorand dafür eingestellt. Wenn dessen Arbeit in einigen Jahren fertig sein wird, sind hoffentlich einige weitere Lücken geschlossen.

So lange wollen nicht alle warten. In den letzten Jahren entstanden, oft auf bürgerschaftliche Initiative, immer wieder Mahnmale und Gedenkstätten für ZwangsarbeiterInnen, etwa beim ehemaligen Lager Schlotwiese in Stuttgart-Zuffenhausen. Und Harald Stingele hat angekündigt, das Thema Zwangsarbeit im Rahmen des Projekts "Stolperkunst" demnächst stärker in den Fokus zu rücken. Mehrere KünstlerInnen arbeiten schon daran, auf künstlerische Weise Orte der Zwangsarbeit in Stuttgart zu erschließen. "Wir wollen die Orte bekannt machen, das Thema hochziehen", sagt Stingele. Ein Ziel sei auch zu ergründen, wie weit das Thema im Familiengedächtnis verankert ist, ob bei Menschen mit Stuttgarter Wurzeln oder migrantischen Lebensläufen.

Wirken solche Projekte angesichts eines sich erneut zuspitzenden Gegensatzes zwischen den Nato-Staaten und Russland nicht wie Tropfen auf einen heißen Stein? Vielleicht. Aber gerade die bessere Erinnerung an die Monstrosität und die Folgen eines Krieges wie dem, den das Deutsche Reich vor 80 Jahren entfesselte, könnte zur Einsicht beitragen: Es gibt, bei allen politischen Gegensätzen, keine vernünftige Alternative dazu, sich friedlich zu verständigen. Und es ist höchste Zeit, alte Feindbilder über Bord zu werfen.
 

Veranstaltungen anlässlich des Jahrestags:

Rundgang "ZwangsarbeiterInnen während der NS-Zeit in Stuttgart-Zuffenhausen", Führung von Inge und Diethard Möller von der Zukunftswerkstatt Zuffenhausen, Treffpunkt: Schlotwiese Zuffenhausen, beim Denkmal für das Zwangsarbeiterlager (Hirschsprungallee 16-18), Donnerstag, 24. Juni, 18 Uhr. Die Veranstalter bitten um Anmeldung unter kontakt--nospam@friedenstreff-nord.de.

Kundgebung "80 Jahre Überfall auf die Sowjetunion", Samstag, 26. Juni, 15 Uhr, Schillerplatz, Stuttgart-Mitte; als Redner sind angekündigt: Lothar Letsche (Historiker, VVN), Günther Baltz (ev. Pfarrer i. R.), Jürgen Wagner (IMI Tübingen), Cuno Brune-Hägele (Verdi Stuttgart).


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1 Kommentar verfügbar

  • Philippe Ressing
    am 27.06.2021
    Antworten
    Es stellt sich die Frage, ob die rassistischen Ressentiments gegenüber den sogenannten 'Gastarbeitern' und Zuwanderern in die Bundesrepublik seit den 1960er Jahren eine Ursache in der Behandlung der 'Fremdarbeite' während des 2. Weltkrieges haben. Die Zwangsarbaiter aus dem Osten galten als…
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