Rohracker muss um 1944 ziemlich genau 2000 Einwohner gehabt haben, wobei ein großer Teil der Männer im Krieg gewesen sein dürften. Waren auch hier 30 Prozent der Erwerbstätigen Zwangsarbeiter? Was bekam die Bevölkerung von ihnen mit? Gab es direkte Kontakte, eventuell gar Freundschaften, oder mussten die Fremdarbeiter unter sich bleiben? Haben manche von ihnen die Freizeit genutzt, sich im Ort umgesehen, sind in Gastwirtschaften eingekehrt oder sind in den Weinbergen, Wäldern und Gärten spazieren gegangen? Was wurde über diese Menschen gedacht?
Es ist schwer, mit Menschen aus Rohracker, die jene Zeit noch miterlebt haben, über dieses Thema zu sprechen. Aber es gibt einige Aufzeichnungen über diese Zeit.
Für Rohracker sind drei Zwangsarbeiterlager dokumentiert, außerdem einige Fremdarbeiter, die einzeln in Privatunterkünften gewohnt haben. Die bekannteste Unterkunft ist die in den 1970ern abgerissene Turnhalle im Bußbachtal, ein Ort mit besonderer Tragik. Die Halle wurde im Jahr 1912 auf eigene Kosten des Turnerbunds Rohracker gebaut, eines Vereins, der in der sozialistischen Sport- und Kulturbewegung beheimatet war. Sie wurde zu einem zentralen Ort Rohrackers, in dem auch gut besuchte Theateraufführungen stattfanden. Sie war der ganze Stolz des Dorfs.
Mit der Machtübernahme durch die NSDAP 1933 wurde sie enteignet. Junge Zwangsarbeiterinnen aus der Sowjetunion wurden in der Halle untergebracht. Die Zustände werden als "erbärmlich" beschrieben. Eine alte Rohrackerin erinnert sich daran, wie sich die Bevölkerung dort "Hilfe für die Gartenarbeit holen" konnte. Ein "bildhübsches" Mädchen habe barfuß arbeiten müssen, auch "mit dem Spaten", sagt sie.
Auch in der bis 1979 bestehenden Nudelfabrik in der Tiefenbachstraße arbeiteten Zwangsarbeiterinnen, neben Arbeiterinnen aus Rohracker und der Umgebung und Frauen aus verschiedenen Ländern, auch russischen, die "auf engstem Raum in einer Garage neben der Fabrik" wohnten, erzählt die alte Frau. Es ist anzunehmen, dass es sich dabei um das dokumentierte Lager Tiefenbachstraße handelte.
Die Gaststätte zum Hirsch musste 1983 dem Bau eines Supermarktes weichen, in den Vierzigerjahren waren dort Tschechen untergebracht, die bei Daimler-Benz in Untertürkheim arbeiten mussten. Sie wohnten im Saal der Gaststätte, hatten Waschräume im Untergeschoss, in der Küche konnten sie kochen. Jaroslav Serý, der erste dokumentierte Zwangsarbeiter, zog Anfang November 1942 dort ein. Er war einer von ungefähr 60 Tschechen, die in Rohracker lebten. Jaroslav Serý blieb einen Monat in Rohracker und wurde anschließend nach Kirchheim umgesiedelt. Nach zwei Jahren konnte er sich heimlich in seine Heimat absetzen.
Jedes Lager hatte einen "Lagerführer", in der Regel ein NSDAP-Mitglied aus der Daimler-Belegschaft, das in der Nähe wohnte. Wie es den Bewohnern erging, hing stark vom jeweiligen "Lagerführer" ab. Daimler-Benz führte das Gasthaus zum Hirsch als "Mannschaftslager" und vermerkte eine Kündigung des Mietverhältnisses zum 30. 9. 1945.
Für das Jahr 1944, das Jahr, in dem die Postkarte abgesendet wurde, die ich im Internet bestellt hatte, sind ein Franzose und 34 tschechische Frauen eines Jahrgangs als BewohnerInnen des Gasthauses zum Hirsch dokumentiert. Eine davon, geboren 1924, wurde am 26. 1. 1944, mit zwanzig Jahren, zu Daimler-Benz gebracht und arbeitete dort als Hilfsprüferin.
Am 9. Mai 1944 schrieb Anuzka Kotrcova:
"Lassen Sie mich Grüße senden in Erinnerung an Ihre frühere Mitarbeiterin A. K. Links unten auf der Postkarte ist unser Lager zu sehen, und oben das Viertel, in dem wir leben."
Die Postkarte ist gerichtet an den Direktor der Maschinenbaufirma Mas, dort hatte Kotrcova zuvor gearbeitet. Die Frau blieb genau acht Monate in Rohracker, dann wurde sie zurückgebracht ins "Protektorat". Dort arbeitete sie für die Firma Avia, die wie Daimler-Benz Flugzeugteile und Fahrzeuge herstellte. Über ihr weiteres Leben ist nichts bekannt.
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Rudolf Reddig
am 23.12.2015