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Stimme aus der Vergangenheit

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Die Postkarte ist alt und abgegriffen. Die Gebäude auf der Vorderseite gibt es nicht mehr, nur wenige Zeilen sind auf der Rückseite zu lesen, die Verfasserin: Anuzka Kotrcova. Andreas Kuttner hat die Geschichte der Karte recherchiert.

Über eine Online-Verkaufsplattform hatte ich mir eine Postkarte von Rohracker bestellt: dem Stadtteil von Stuttgart, in dem ich ab 1975 aufgewachsen bin. Auf der Postkarte sind drei schwarz-weiße Fotografien zu sehen: Auf dem größten Ausschnitt ist der damalige Ortskern abgebildet, mit dem Schulgebäude und der damals noch existierenden Turnhalle im Bußbachtal. Die beiden kleinen Ausschnitte zeigen eine Außen- und eine Innenansicht des Gasthauses zum Hirsch, das längst nicht mehr existiert. Ein ungewöhnliches, historisches Motiv.

Als die Postkarte bei mir ankam, war ich erstaunt. Sie war nicht auf Deutsch geschrieben, sondern auf Tschechisch, adressiert nach Sezimoro Usli im "Protektorat Böhmen". Das Datum: 1944. Ein Urlaubsaufenthalt erschien unwahrscheinlich. Vielleicht ein Zwangsarbeiter? Aber in Rohracker? Nie zuvor hatte ich darüber gehört oder gelesen. Ich war davon ausgegangen, die sogenannten Gastarbeiter in den späten 1950er-Jahren seien die ersten ausländischen Arbeitskräfte gewesen, die die Bevölkerung von Rohracker gesehen hätte. Und so begann ich zu recherchieren.

Das Deutsche Reich war seit 1938 dazu übergegangen, Arbeitskräfte aus dem Ausland anzuwerben, weil es in jenen Jahren massiv für den geplanten Krieg aufrüstete. Die Kapazitäten der eigenen Bevölkerung waren ausgeschöpft. Durch den "Anschluss" Österreichs und des Sudetenlandes 1938 sowie die Besetzung der Tschechoslowakei im März 1939 verfügten die Nazis zwar über neu hinzugekommene Arbeitskräfte, mit Kriegsbeginn im September 1939 waren es aber nicht mehr genug.

Hatte Deutschland bisher Fremdarbeiter auf freiwilliger Basis gelockt, ging es nun zu Zwangsmitteln über. Bereits im Krieg gegen Polen wurden Kriegsgefangene als Arbeitskräfte ins Deutsche Reich gebracht, ebenso zivile Arbeiter, und mit den Eroberungen im Westen Europas wurden auch aus diesen Ländern Menschen zur Arbeit nach Deutschland geholt.

1942 arbeiten circa 1,5 Millionen "Ostarbeiter" im Deutschen Reich

Eine besondere Stufe der Eskalation erfuhr die Zwangsarbeit durch die Einbeziehung von Männern und Frauen aus der UdSSR. Bereits 1942 arbeiteten um die 1,5 Millionen "Ostarbeiter" im Reich, im Herbst 1944 waren es 2,8 Millionen, darunter Kinder und Jugendliche. Damit bildeten sie mit einem Anteil von knapp 35 Prozent die größte Gruppe unter den Zwangsarbeitern. Ihr Arbeitseinsatz fand unter menschenunwürdigen Zuständen statt, die Versorgung mit Nahrung und Kleidung, auch ihre Unterbringung waren katastrophal. Ähnlich erging es den Polen. Beide Gruppen – Sklavenarbeiter.

Die Situation der tschechischen Fremdarbeiter dagegen war ambivalenter. Das sogenannte Protektorat wurde nur von 2000 Beamten kontrolliert. Deshalb musste Deutschland die Befindlichkeiten der Tschechen im Blick behalten, wenn es nicht Aufstände riskieren wollte. Zumal Tschechien ein hoch industrialisiertes Land war und die Nazis auf dessen funktionierende Industrieanlagen bauten. Da "Böhmen und Mähren" fest zu Deutschland gehörte, galten dessen Einwohner als "Inländer besonderer Art".

Zunächst angeworben auf freiwilliger Basis, verschärfte sich ihr Status mit der Zeit. Ab Ende 1941 waren Dienstverpflichtungen aus dem Protektorat ins Reich möglich. Ende 1942 wurde damit begonnen, ganze Geburtsjahrgänge zwangsweise zu verpflichten. Faktisch wurde nahezu ein Drittel der Jahrgänge zum sogenannten Totaleinsatz nach Deutschland gezwungen. Von 1939 bis 1945 arbeiteten rund 500 000 Tschechen für die Nazis. Im Jahr 1944 waren 30 Prozent aller Erwerbstätigen Zwangsarbeiter.

Rohracker muss um 1944 ziemlich genau 2000 Einwohner gehabt haben, wobei ein großer Teil der Männer im Krieg gewesen sein dürften. Waren auch hier 30 Prozent der Erwerbstätigen Zwangsarbeiter? Was bekam die Bevölkerung von ihnen mit? Gab es direkte Kontakte, eventuell gar Freundschaften, oder mussten die Fremdarbeiter unter sich bleiben? Haben manche von ihnen die Freizeit genutzt, sich im Ort umgesehen, sind in Gastwirtschaften eingekehrt oder sind in den Weinbergen, Wäldern und Gärten spazieren gegangen? Was wurde über diese Menschen gedacht?

Es ist schwer, mit Menschen aus Rohracker, die jene Zeit noch miterlebt haben, über dieses Thema zu sprechen. Aber es gibt einige Aufzeichnungen über diese Zeit.

Für Rohracker sind drei Zwangsarbeiterlager dokumentiert, außerdem einige Fremdarbeiter, die einzeln in Privatunterkünften gewohnt haben. Die bekannteste Unterkunft ist die in den 1970ern abgerissene Turnhalle im Bußbachtal, ein Ort mit besonderer Tragik. Die Halle wurde im Jahr 1912 auf eigene Kosten des Turnerbunds Rohracker gebaut, eines Vereins, der in der sozialistischen Sport- und Kulturbewegung beheimatet war. Sie wurde zu einem zentralen Ort Rohrackers, in dem auch gut besuchte Theateraufführungen stattfanden. Sie war der ganze Stolz des Dorfs.

Mit der Machtübernahme durch die NSDAP 1933 wurde sie enteignet. Junge Zwangsarbeiterinnen aus der Sowjetunion wurden in der Halle untergebracht. Die Zustände werden als "erbärmlich" beschrieben. Eine alte Rohrackerin erinnert sich daran, wie sich die Bevölkerung dort "Hilfe für die Gartenarbeit holen" konnte. Ein "bildhübsches" Mädchen habe barfuß arbeiten müssen, auch "mit dem Spaten", sagt sie.

Auch in der bis 1979 bestehenden Nudelfabrik in der Tiefenbachstraße arbeiteten Zwangsarbeiterinnen, neben Arbeiterinnen aus Rohracker und der Umgebung und Frauen aus verschiedenen Ländern, auch russischen, die "auf engstem Raum in einer Garage neben der Fabrik" wohnten, erzählt die alte Frau. Es ist anzunehmen, dass es sich dabei um das dokumentierte Lager Tiefenbachstraße handelte.

Die Gaststätte zum Hirsch musste 1983 dem Bau eines Supermarktes weichen, in den Vierzigerjahren waren dort Tschechen untergebracht, die bei Daimler-Benz in Untertürkheim arbeiten mussten. Sie wohnten im Saal der Gaststätte, hatten Waschräume im Untergeschoss, in der Küche konnten sie kochen. Jaroslav Serý, der erste dokumentierte Zwangsarbeiter, zog Anfang November 1942 dort ein. Er war einer von ungefähr 60 Tschechen, die in Rohracker lebten. Jaroslav Serý blieb einen Monat in Rohracker und wurde anschließend nach Kirchheim umgesiedelt. Nach zwei Jahren konnte er sich heimlich in seine Heimat absetzen.

Jedes Lager hatte einen "Lagerführer", in der Regel ein NSDAP-Mitglied aus der Daimler-Belegschaft, das in der Nähe wohnte. Wie es den Bewohnern erging, hing stark vom jeweiligen "Lagerführer" ab. Daimler-Benz führte das Gasthaus zum Hirsch als "Mannschaftslager" und vermerkte eine Kündigung des Mietverhältnisses zum 30. 9. 1945.

Für das Jahr 1944, das Jahr, in dem die Postkarte abgesendet wurde, die ich im Internet bestellt hatte, sind ein Franzose und 34 tschechische Frauen eines Jahrgangs als BewohnerInnen des Gasthauses zum  Hirsch dokumentiert. Eine davon, geboren 1924, wurde am 26. 1. 1944, mit zwanzig Jahren, zu Daimler-Benz gebracht und arbeitete dort als Hilfsprüferin.

Am 9. Mai 1944 schrieb Anuzka Kotrcova:

"Lassen Sie mich Grüße senden in Erinnerung an Ihre frühere Mitarbeiterin A. K. Links unten auf der Postkarte ist unser Lager zu sehen, und oben das Viertel, in dem wir leben."

Die Postkarte ist gerichtet an den Direktor der Maschinenbaufirma Mas, dort hatte Kotrcova zuvor gearbeitet. Die Frau blieb genau acht Monate in Rohracker, dann wurde sie zurückgebracht ins "Protektorat". Dort arbeitete sie für die Firma Avia, die wie Daimler-Benz Flugzeugteile und Fahrzeuge herstellte. Über ihr weiteres Leben ist nichts bekannt.

 

Der Historiker Andreas Kuttner kam 1974 in Stuttgart zur Welt und wuchs in Rohracker auf. Er war viele Jahre beim Freien Radio für Stuttgart aktiv, seit 1999 lebt er in Berlin.


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2 Kommentare verfügbar

  • Rudolf Reddig
    am 23.12.2015
    Antworten
    Eine sehr fundierte und vor allem differenzierte Recherche über Zwangsarbeiter im deutschen Südwesten. Andreas Kuttner zeigt eindrucksvoll auf, was einfache Ansichtskarten so alles zutage befördern können, Das sich dahinter Lebensgeschichten und Schicksale verbergen. Wir brauchen in diesem Land mehr…
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