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Billigfleisch

Die niedrigsten Standards Europas

Billigfleisch: Die niedrigsten Standards Europas
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Ein Dialog mit der Fleischindustrie ist nutzlos, sagt Alexander Münchow von der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten. Der gesamte Billigfleischsektor sei systematisch auf Ausbeutung der Beschäftigten ausgerichtet und "die Politik hat ihren Beitrag geleistet, damit das auch gut funktioniert".

Wer sucht, der findet: Informationen über die menschenverachtenden Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie – Medien wie die "Süddeutsche" ziehen Vergleiche zur Sklaverei – gab es bereits vor der Corona-Krise zuhauf. Doch seit dramatische Infektionsraten auf deutschen Schlachthöfen die Aufmerksamkeit auf die entwürdige Ausbeutung von Mensch und Tier lenkten, lassen sich die systemischen Missstände politisch nicht mehr ignorieren. Für Gewerkschafter wie Alexander Münchow, der die Zustände im Billigfleischsektor seit Jahren skandalisieriert, ist das eine gute Gelegenheit zur Grundsatzkritik – aber auch, um über Utopien zu reden und Visionen zu skizzieren. Teil 2 unserer Interview-Reihe mit jungen GewerkschafterInnen

Herr Münchow, die üblen Arbeitsbedingungen in den großen Schlachtbetrieben machen aktuell Schlagzeilen. Freut sich die NGG, das Thema endlich in der breiten Öffentlichkeit zu haben?

Alexander Münchow, 34, hat zunächst Hotelfachmann im Schwarzwald gelernt, anschließend Hotelmanagement studiert. Er war Jugend- und Auszubildendenvertreter und Betriebsrat und ist seit 2013 Gewerkschaftssekretär bei der NGG (Nahrung-Genuss-Gaststätten) Südwest und zuständig für die Bundesländer Hessen, Saarland, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz. Dort betreut er die Branchen Hotel und Gastronomie, Brotindustrie, Brauereien, Bäckerhandwerk und die Systemgastronomie. Die NGG hat bundesweit rund 200.000 Mitglieder und gilt als Nachfolgerin des 1865 gegründeten "Allgemeinen Deutschen Cigarrenarbeiter-Vereins" als älteste Gewerkschaft Deutschlands.  (gl)

Nein, wir freuen uns nicht. Das wäre ja zynisch. Aber natürlich war es längst überfällig, dass die Situation und die Lebensbedingungen der Beschäftigten in der Fleischindustrie endlich an die Öffentlichkeit kommen. Wir skandalisieren das schon seit Jahrzehnten, aber da hat die Politik hartnäckig weggehört und lieber den Fleischbaronen ihr Ohr geschenkt. Die haben die Politik ja auch teilweise sehr überschwänglich mit Parteispenden finanziert. Da hört man bei den Gewerkschaften gerne mal weg. Deshalb sagen wir: Die Coronakrise hat jetzt offenbar gemacht, was schon lange ein Problem war, aber von Freude kann keine Rede sein.

Sie sagen, die Politik hat in vergangenen Jahren weggehört – diskutiert wurde das Thema immer mal wieder und es gab freiwillige Selbstverpflichtungen der großen Fleischkonzerne. Warum hat sich nichts verändert?

Freiwillige Selbstverpflichtungen in dieser Branche bringen überhaupt nichts. Das war uns auch zu jedem Zeitpunkt klar und das ist auch einer der Gründe, warum wir jetzt sagen, ein Dialog mit der Fleischindustrie bringt überhaupt nichts. Wir setzen uns in der Sache mit denen nicht mehr an einen Tisch. Die Fleischbarone haben sich nie an Vorgaben gehalten. Einigermaßen gewirkt hat nur die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns. Aber im Prinzip ist diese ganze Branche systematisch auf Ausbeutung der Beschäftigten ausgerichtet und die Politik hat ihren Beitrag geleistet, damit das auch gut funktioniert.

Wann ist das bei uns so extrem geworden?

Es hat in den Nuller-Jahren begonnen, also unter dem SPD-Kanzler Gerhard Schröder, mit der Einführung der Werksverträge, wo die Politik gesagt hat: Wir deregulieren den Arbeitsmarkt und schaffen so mehr Beschäftigung. In Wahrheit war es eben so, dass wir hier einen riesigen Billiglohnsektor aufgebaut haben zum einen und zum anderen auch einen riesigen Billigfleischsektor. Und das ist im Prinzip nicht konkurrenzfähig auf dem europäischen Markt. Nirgendwo sind die Standards so niedrig wie bei uns. Wenn also jetzt die Fleischindustrie sagt: Falls sich das ändert, dann wandern wir ab. Da muss man sagen: Wo wollen sie denn hingehen? Dahin, wo Arbeitsbedingungen und Standards besser sind? Da kann ich nur sagen: Dann sollen sie halt gehen. Wir brauchen diese Fleischindustrie hier nicht.

Was sagen Ihnen zum Beispiel dänische und französische Gewerkschaften zu der Entwicklung der deutschen Fleischindustrie?

Die sagen, durch das Werkvertragssystem mussten bei uns etliche Schlachthöfe schließen. Unsere Bauern waren nicht mehr konkurrenzfähig. Ihr in Deutschland habt mit eurem Billigfleisch Arbeitsplätze bei uns vernichtet. Das sagen die uns. Das ist auch keine Art von europäischer Solidarität.

Auch in Baden-Württemberg haben wir Schlachthöfe, hatten einen Corona-Ausbruch bei Müller Fleisch in Pforzheim. Wie ist aktuell die Lage?

Unser Landwirtschaftsminister Peter Hauk hat gelobt, dass die Leute weiterarbeiten, und er hat auch gesagt, dass die Arbeitgeber sich alle vortrefflich benommen haben. Das sehen wir etwas anders. Auch da hat man die Zeichen der Zeit nicht erkannt. Bei Müller Fleisch in Pforzheim hatten sich über 600 Beschäftigte mit Corona infiziert und da hat man dann erst eingelenkt, als es zu spät war. Aktuell sehen wir allerdings nicht, dass in den Betrieben flächendeckend getestet wird. Wir haben jetzt die Landesregierung aufgefordert, Kontrollen zu organisieren bei den entsprechenden Ämtern. Wenn ich nicht kontrolliere, habe ich auch keine Verstöße. Die Ämter müssen mit entsprechendem Personal ausgestattet werden und es müssen jetzt und nicht morgen Kontrollen stattfinden zum Schutz der Beschäftigten, aber auch der Bevölkerung drumherum.

Kommen Sie als NGG eigentlich in die Schlachtbetriebe rein?

Das ist sehr schwierig. Die Betriebe sind abgeschottet wie Hochsicherheitstrakte. Die Beschäftigten, die dort arbeiten, werden aus ihren Unterkünften mit Bussen zu den Schlachthöfen gebracht, reingefahren und erst im Werksgelände steigen die aus. Was uns als NGG natürlich nicht abhält, trotzdem Kontakt aufzunehmen auch zusammen mit der Initiative des DGB "Faire Mobilität."

Werden die bulgarischen oder rumänischen Beschäftigen eigentlich Gewerkschaftsmitglied?

Durch das Werkvertragssystem trauen sich die meisten nicht, Mitglied zu werden. Die, die sich dort wehren, sind morgen weg. Das muss man einfach so knallhart feststellen. Wer irgendwie die Arbeitsbedingungen kritisiert oder versucht, Löhne geltend zu machen, muss damit rechnen, dass seine Chipkarte am nächsten Tag nicht mehr funktioniert und er am nächsten Tag nicht mehr ins Werk kommt.

Jetzt will Bundesarbeitsminister Hubertus Heil ernst machen und tatsächlich per Gesetz Werkverträge an Schlachthöfen verbieten. Glauben Sie, dass es kommt?

Der Entwurf, so wie er jetzt ist, ist ein großer Fortschritt. Wenn man sich anschaut, wie lange wir darum gerungen haben, dass Werkverträge endlich verboten werden, ist das natürlich auch ein Erfolg für uns. Aber: Wir haben jetzt die Pandemie und es ist für mich völlig schleierhaft, warum das Gesetz erst ab 1. Januar 2021 Gültigkeit entfalten soll. Das Konjunkturpaket gilt ja auch ab jetzt. Das geht also, wenn man will. Den Beschäftigten muss jetzt geholfen werden. Die Werkverträge und die Unterbringung sind schuld daran, dass wir die vielen Infektionen in den Schlachthöfen haben. Also: Wir brauchen das Gesetz schnellstmöglich. Am besten in den nächsten Wochen. Natürlich gehen die Fleischlobby und ihre Barone auf die Barrikaden. Sie machen jetzt große Imagekampagnen, wie toll alles ist in den Schlachthöfen und dass alles nicht der Realität entspricht, was die Gewerkschaft erzählt – und sie werden natürlich alles dafür tun, dass dieser Gesetzestext verwässert wird. Wir müssen ganz genau hinschauen, damit da nicht wieder ein neoliberales Konstrukt draus wird, was den Beschäftigten überhaupt nicht hilft.

Aber an der Unterbringung der Beschäftigten in den Schlachthof-Unterkünften verbessert das Gesetz nichts.

Das stimmt. Wir sagen: Wir benötigen ein Wohnbauprogramm. Und kurzfristig könnte man Containerdörfer aufstellen, so wie wir das im Jahr 2015 in der Flüchtlingskrise erlebt haben. Dann hätte jeder seinen Wohnbereich. Vorübergehend wäre das erstmal eine Maßnahme, damit die Leute sich nicht infizieren.

Die NGG hat noch mehr Branchen. Was haben Sie während Corona in der Gastronomie erlebt?

Wir haben mitbekommen, dass von unseren Kolleginnen und Kollegen fast 1,7 Millionen Menschen in Kurzarbeit sind. Das hat natürlich tiefgreifende finanzielle Auswirkungen auf das Leben der Betroffenen. Und tatsächlich hat es auch bedrohliche Szenarien. Auch in dieser Branche war die Welt bereits vor Corona nicht in Ordnung. Das ist eine Branche mit sehr niedrigen Löhnen, in der sich oft nicht an Tarifverträge gehalten wird. Jetzt zeigt sich eben: Bei niedrigen Löhnen kommt man mit 60 oder 67 Prozent Kurzarbeitergeld noch schlechter zurecht. Man kann kaum seine Mieten bezahlen, kaum Dinge des täglichen Bedarfs finanzieren. Wir haben von Anfang an den Arbeitgeberverband DEHOGA (Deutscher Hotel- und Gaststättenverband) aufgefordert, mit uns Verhandlungen zu führen über eine Erhöhung des Kurzarbeitergeldes. Da hat man sich immer hinter den kleinen Betrieben versteckt, so nach dem Motto: "Wir haben gar kein Geld." Wir dürfen aber nicht vergessen, dass es eine Branche ist, die in den letzten zehn Jahren Rekordjahre hatte. Da wurde richtig Geld gemacht. Viele Betriebe haben jetzt mit Massenentlassungen reagiert, obwohl die gar nicht nötig gewesen wären.

Die Gastronomie ist ja sehr zersplittert, viele kleine Betriebe, viele Aushilfskräfte – vermutlich ist der Organisationsgrad da nicht besonders hoch. Kommen die Leute denn wenigstens in einer Krise zur Gewerkschaft?

Ja, sie finden den Weg zur Gewerkschaft. Allerdings war es oft auch schon zu spät. Jetzt konnten wir ja nur unmittelbar helfen, Kündigungsschutzklage und so was. Aber wir brauchen natürlich stark organisierte Belegschaften, um gute Tarifverträge zu erkämpfen. In der Gastronomie herrscht oft noch ein Regime nach Art des schwäbischen Kaufmanns, der sagt: "Mir redet hier keiner in meine unternehmerische Tätigkeit rein!" Wenn Beschäftigte versucht haben, Betriebsräte zu gründen, dann kennen wir auch Union Busting, also Gewerkschaftsbekämpfung. Da gibt es teilweise rechtsfreie Räume. Chefs, die sagen, bei mir gelten meine Regeln und mein Arbeitszeitgesetz und nicht die Gesetze der Bundesrepublik Deutschland mit maximal zehn Stunden. Sondern da ist es selbstverständlich, dass 14, 15, 16 Stunden gearbeitet wird und ich als Unternehmer lege das einfach so fest.

Wenn Sie die Macht hätten – was würden Sie als erstes angehen?

Wir haben lange genug in einem Zeitalter gelebt, in dem die Interessen der Unternehmen auch immer die Interessen der Regierung waren. Ich persönlich sage: Wir haben zu viele große Unternehmen, wir haben zu viele große Banken. Und da kann ich mir auch vorstellen, diese Unternehmen in Gemeinschaftseigentum zu überführen. Ich bin natürlich Demokrat und sehe sowas in Prozessen. Aber ich kann mir eine Gesellschaftsordnung vorstellen, die demokratischer Sozialismus heißt. Was für mich dringend ist: Demokratie muss weiter gedacht werden. Wir brauchen eine deutlichere Demokratisierung der Wirtschaft und ein großes Sozialprogramm.

Was heißt das konkret?

Wir brauchen eine stärkere Beteiligung der Belegschaft bei unternehmerischen Entscheidungen, zum Beispiel bei Verkauf oder Verlagerung. Aber auch bei der Frage: Was passiert mit den Unternehmensgewinnen? Wie fließen die ab, wieviel geht in die private Verfügung? Und das geht natürlich über den Weg, dass sich die Menschen gewerkschaftlich organisieren. Und wir brauchen eine andere Arbeitszeitdebatte in Deutschland. Die Arbeitgeber sprechen seit Jahren nur davon, wie man Arbeitszeit erhöht. Ich bin der Meinung, die ganze Frage der Digitalisierung wird von Menschen vorangetrieben, die da knallharte Interessen haben. Dahinter steckt ja keine Vision einer arbeitsbefreiten Gesellschaft. Wir müssen uns darüber unterhalten: Wenn der technologische Fortschritt kommt, dass dann die Menschen auch weniger arbeiten müssen, mehr Zeit haben für Familie, Teilhabe, Kultur.

Was liegt aktuell bei der NGG an?

Aktuell sind wir mit Tarifauseinandersetzungen in der Brotindustrie beschäftigt. Da reden wir über einen Bereich, wo in den letzten Monaten richtig am Limit gearbeitet worden ist. Alle wollten Brot kaufen in der Coronakrise, das ist also ein systemrelevanter Bereich, und es wurden gute Umsätze gemacht. Angeboten haben die Arbeitgeber 0,0 Prozent. Das hat nichts mit Würdigung der Arbeit der Beschäftigten zu tun. Mit Corona hat ja zum Beispiel mit den Hygienerichtlinien auch die Mehrbelastung zugenommen. Da erwarten wir schon mehr und werden mit Aktionen antworten zum Beispiel bei Lieken in Bietigheim und Crailsheim, bei Bäckerbub, die unter anderem K&U beliefern.
 

Die Corona-Krise trifft viele Beschäftigte mit brutaler Wucht. Die Wirtschaftsweisen befürchten, dass die Folgen der Pandemie die deutsche Wirtschaft noch härter treffen werden als die Eurokrise. Viel zu tun also für Gewerkschaften, die nun unter erschwerten Bedingungen für ordentliche Arbeitsplätze und anständige Löhne streiten. Welche Ideen gibt es zur Überwindung der Krise? Und welche Utopien für die Zeit nach Corona? In einer Interview-Reihe fragt Kontext bei jungen GewerkschafterInnen aus der Region nach. Den Auftakt machte Max Czipf, Jugendsekretär bei der IG Metall Esslingen.


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1 Kommentar verfügbar

  • era
    am 04.07.2020
    Antworten
    Mich wundert, dass es mich wundert. Aber seit Jahren tröpfeln immer mal Infostückchen über die Fleicschindustrie in meinen Newsfeed, über Fließbandarbeit, Massenverarbeitung, schneller, mehr, größer und natürlich moderne Epsilons, die die Drecksarbeit machen müssen.
    Dabei ist Wurst und Fleisch…
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