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Barbarisches Schlachtgeschäft

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Corona hat die Sklavenhaltung osteuropäischer und migrantischer Arbeiter in deutschen Schlachthöfen ans Licht gebracht. In seinem Buch "Lecker-Land ist abgebrannt" schreibt der Berliner Autor Manfred Kriener auch über das System Fleisch. Wir dokumentieren Auszüge aus dem Kapitel "Das toxische Steak".

Wir Menschen vertilgen gewaltige Mengen Fleisch. Wir lehnen aber das Agrarsystem und die Orte, an denen Schnitzel und Gulasch hergestellt werden, als barbarisch ab. Während der Sonntagsbraten zum Alltagsbraten geworden ist und der Fleischverzehr weltweit immer neue historische Höchststände erreicht, sind die Ställe der sogenannten Massentierhaltung zu gesellschaftlichen Un-Orten geworden.

Erst recht die Schlachthöfe. Sie markieren eine der letzten Tabuzonen unserer Lebenswelt. Geschlachtet und gestorben wird im Akkord – unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Die Fleischindustrie versucht, diese Un-Orte aus unserem Bewusstsein herauszuhalten. Besuche im Schlachthof, Fernsehbilder, Fotografien, Interviews sind nicht erwünscht. Manche Einrichtungen werden nicht nur per Videoüberwachung, sondern auch mit Hundepatrouillen und Stacheldraht gesichert.

Weil der Schlachthof ein unzugängliches, ja im Grunde ein verbotenes Terrain ist, weiß auch niemand, wie ein typischer moderner Schlachthof genau aussieht und wie dort gearbeitet wird. Umso verstörender sind die blutgetränkten Bilder aus Undercover-Einsätzen der Tierschützer. Solche illegal gefilmten Aufnahmen, die gelegentlich in unsere Wohnzimmer flimmern, dokumentieren meist empörende Zustände. Sie vergegenwärtigen für kurze Augenblicke die Realität des Schlachtens, sie können den normalen Alltag in den Schlachthöfen aber nicht abbilden. Unter welchen Bedingungen das Produkt Fleisch tatsächlich entsteht, bleibt unserer Wahrnehmung entzogen.

Schlachthöfe liegen heute in dünn besiedelten Regionen außerhalb unseres Radars. Es sind gut getarnte, fensterlos-sterile Klötze. "Mit steigendem Fleischkonsum und gesteigerter Taktung des Tötens lassen sich Angebot und Nachfrage nur dann noch miteinander vereinbaren, wenn das Schlachten keiner mehr sieht, hört und riecht", schreiben Berliner Sozialwissenschaftler im Rahmen ihres Forschungsprojekts zu den Schlachthöfen. So sind diese anonymen Tötungsfabriken zu beunruhigenden gesellschaftlichen Einrichtungen geworden. Ihr ramponiertes Image ist noch am ehesten mit Institutionen wie Bordellen oder Gefängnissen vergleichbar. Trotz hartnäckiger Versuche gelang es den Sozialwissenschaftlern übrigens nicht, ein Gespräch mit dem Besitzer eines deutschen Schlachthofs zu führen. Schlachthöfe sind stumm.

Die Mehrheit des Personals spricht ohnehin kein Deutsch. Zwei von drei Mitarbeitern kommen aus dem Ausland. Deutschlands größter Schlachthof gehört der Firma Tönnies, er befindet sich in Rheda-Wiedenbrück, in der westfälischen Bucht bei Gütersloh. Die Wissenschaftler haben nachgezählt: Von den mehr als 40 000 städtischen Einwohnern kommen 1085 aus Polen, 559 aus Rumänien, 167 aus Mazedonien, 104 aus der Slowakei, 83 aus Bulgarien, 53 aus Serbien.

Am Fließband stehen fast nur Leiharbeiter aus dem Ausland. Das Töten und Verarbeiten unserer Nutztiere ist an die unterste Kaste delegiert worden. Die Arbeiter wohnen in unwürdigen containerartigen Massenunterkünften, und sie werden lausig bezahlt. Für die schrecklichste aller denkbaren Tätigkeiten gibt es lediglich den gesetzlichen Mindestlohn, und selbst der wird oft nicht regulär abgerechnet.

Die Arbeit ist körperlich und psychisch extrem anstrengend, sie ist gefährlich und führt häufig zu Verletzungen, die hygienischen Verhältnisse sind miserabel. Welches Maß an Empathie und sorgsamem Umgang mit Tieren darf man von diesen schlecht bezahlten und häufig wechselnden Schlachthofarbeitern in Großbetrieben erwarten? Dort wird Fleisch produziert wie andernorts Ziegelsteine. Die Tiere sind nur noch Rohstoff.

Dabei war das Schlachten einst ein großes Fest. In den Dörfern war es ein besonderer Höhepunkt. Im Mittelalter konnte man den Schlachtern bei der Arbeit zusehen. Es war suspekt, wenn der Metzger im abgeschlossenen Raum arbeitete, weil dann keine Möglichkeit bestand, sich von Qualität und Gesundheit des Schlachtviehs zu überzeugen.

Geschlachtet wurde auch auf großen öffentlichen Plätzen. Anfangs wurde mit den Schlachtfesten der Jagderfolg feierlich begangen, wenn ein Tier erlegt und die Fleischversorgung gesichert war. Die Domestikation unserer Haustiere veränderte die Bräuche, jetzt galt das Schlachtfest einem lange und aufwendig gemästeten Tier, das für die Familie und Dorfgemeinschaft eine wertvolle Nahrungsquelle war. Das Tier wurde vor dem Schlachten reich geschmückt und nicht selten vor der Tötung von einem religiösen Würdenträger gesegnet. Das Schlachten von Tieren hat auch einen religiösen Hintergrund: Vom Buddhismus abgesehen, hat das Schlachten als Opferritual in allen Weltreligionen eine lange Tradition.

In Berlin wird noch im 19. Jahrhundert wild und chaotisch überall geschlachtet: auf Hinterhöfen, in kleinen und größeren Schlachthäusern oder auf Stelzenbauten direkt an der Spree. Die hygienischen Verhältnisse sind katastrophal. Blutwasser überschwemmt die Höfe, tierische Abfallstoffe vergammeln in Gruben, und in den Wursthöfen am Fluss gehen die Abfälle direkt ins Wasser.

Die Ärzteschaft ist alarmiert. Schließlich ist es der berühmte Arzt Rudolf Virchow, der 1864 den Antrag stellt, ein städtisch betriebenes Schlachthaus einzurichten. Es dauert weitere 17 Jahre, bis im März 1881 gegen den erbitterten Widerstand der Schlachter der Centrale Vieh- und Schlachthof der Stadt Berlin eingeweiht wird. Er verfügt über 144 separate Schlachtkammern mit kostenfreiem Zugang zum Brühwasser. Die "Allgemeine Schlächter-Zeitung" wettert gegen die "Monopolisierung der Fleischversorgung". Es rieche nach Kommunismus, heißt es in der "Nationalzeitung".

Heute, 140 Jahre später, sind das Schlachten und Verarbeiten der Tierkörper weitgehend industrialisiert. Die zehn größten deutschen Schlachtbetriebe haben einen Marktanteil von rund 80 Prozent. Vor den Toren Berlins, wo einst das Vieh weidete, demonstrieren heute junge Leute gegen den Schlachthof der Märkischen Geflügelhof-Spezialitäten GmbH, der zum Wiesenhof-Komplex gehört. Hier rotieren die Blitzmesser unaufhörlich, um täglich bis zu 120.000 Masthähnchen die Hälse durchzuschneiden. 2018 hatte das Unternehmen die Schlachtkapazität ohne Genehmigung auf 160.000 Hähnchen erweitert. Jetzt ziehen 1.000 Demonstranten an der Fabrik vorbei, schwenken ihre Transparente und skandieren "Zicke zacke Hühnerkacke, zicke zacke Hühnerkacke!"

In Deutschland haben die Schlachthöfe 2018 nach Angaben des Statistischen Bundesamts mehr als acht Millionen Tonnen Fleisch produziert. Es wurden fast 57 Millionen Schweine geschlachtet, 3,4 Millionen Rinder, 1,1 Millionen Schafe und Lämmer sowie 1,6 Millionen Tonnen Geflügel. Hühner, Puten und Enten werden nicht mehr einzeln gezählt, nur die Tonnage geht in die Statistik ein. 750 Millionen Tiere sollen es insgesamt sein – Fische nicht mitgerechnet –, die für die Proteinversorgung von 80 Millionen Deutschen im Jahr 2018 zu Fleisch verarbeitet wurden.

Wo bleibt die gute Nachricht? Vielleicht hier: Die spannendste Zahl in der Fleischstatistik betrifft den jährlich ermittelten Pro-Kopf-Verzehr. Er geht seit einigen Jahren leicht zurück und ist 2017 erstmals in diesem Jahrhundert mit 59,7 Kilogramm unter die 60-Kilogramm-Grenze gefallen. Der Rückgang hat Signalwirkung. Das Essen großer Fleischportionen ist anrüchig geworden. Fleischesser geraten in die Defensive, ihr Schnitzel wird zum "Gewissensbissen". Den Befreiungsschlag aus der Gewissensnot versucht sechsmal im Jahr das Männermagazin "Beef". Mit seinem leicht blutigen Protein-Porno auf den Titelseiten verteidigt es die über den Tellerrand wabernde riesige Fleischmahlzeit mit provokanter Lust als männliches Grundrecht. Hau dir ein anständiges Stück Fleisch in die Pfanne, und alles wird gut. Das Magazin wirkt wie aus der Zeit gefallen, eine Art kulinarische AfD. Dem überall wahrnehmbaren gesellschaftlichen Druck, weniger Fleisch zu essen, wird ein pubertäres Jetzt-erst-recht entgegengesetzt, inklusive dickem Fettrand und kräftig angekokelten Grillfurchen. Die gesellschaftliche Restvernunft verbrutzelt im Holzkohlenfeuer. Das Magazin feiert nicht nur die "wunderbare Welt des Rumpsteaks", es empfiehlt auch gleich die passende Grillmusik dazu.

Solche irrationalen Trotzreaktionen gegen verschärfte gesellschaftliche Moralvorstellungen sind nicht untypisch, zumal sich die Genießer üppiger Fleischmengen immer öfter ins Unrecht gesetzt und in die Rolle von Ignoranten und Klimakillern gedrängt sehen. Ein 300-Gramm-Steak sei obszön, heißt es, es gleiche dem Fahren eines fetten Geländewagens. Der Fleischhunger wird übrigens zu mehr als 95 Prozent aus industrieller Massentierhaltung gestillt. Die Mehrheit der Deutschen ist gleichzeitig fest davon überzeugt, dass sie kein Fleisch aus den Ställen der Massenmäster isst. Die Bösen, das sind immer die anderen.

Evolutionsforscher weisen dem Fleisch eine Schlüsselrolle für die Entwicklung menschlicher Intelligenz zu. Mit dem Nährstoffreichtum und der leichten Verdaulichkeit des Fleischs konnten die menschlichen Verdauungsorgane schrumpfen, und das Hirn konnte wachsen. Erst durch den Fleischkonsum sei die wahre Menschwerdung möglich gewesen. Es habe den Menschen größer und klüger gemacht.

Fleisch ist für viele Konsumenten aber in erster Linie ein Genuss, den kein anderes Lebensmittel vermitteln kann. Fleisch ist Emotion, Geschmack, Sinnlichkeit und an den meisten Tischen noch immer der duftende Mittelpunkt einer Mahlzeit. Die kulturelle Prägung aufs Fleisch ist für viele Esser schwer zu überwinden.

(…) Die Kontroverse um das Recht, Tiere für unseren Fleischgenuss zu töten, erscheint derzeit besonders schrill, sie ist aber eine anthropologische Konstante quer durch die Jahrhunderte. Auch große Denker wie Feuerbach, Schopenhauer oder Augustinus quälte der Grundkonflikt aus Leben, Töten, Essen. Beide Seiten, Fleischesser wie Vegetarier, fanden immer wieder starke Argumente und angesehene Kronzeugen für Rechtfertigung oder Schuld, für Fleisch oder Pflanze. Der Minimalkonsens in diesem jahrhundertealten

Streit lässt sich heute vielleicht so formulieren: Wer sich das Recht nimmt, Tiere für den Fleischgenuss zu töten, der hat zumindest die Pflicht der Fürsorge für das Tier, der muss ihm ein tiergerechtes Leben ohne Qual ermöglichen und es angst- und schmerzfrei schlachten. Die Tiere müssen gut gelebt haben, bevor sie geschlachtet werden. Niemand wird bestreiten, dass wir von diesem Minimalkonsens, den Nutztieren ein zwar kurzes, aber gutes Leben zu schenken, ziemlich weit entfernt sind.


Lecker-Land ist abgebrannt – Ernährungslügen und der rasante Wandel der Esskultur, Hirzel-Verlag, Stuttgart 2020, 238 Seiten, 18,00 Euro.

"Es geht ums Überleben"

Das Vorwort zum Buch hat Sterne-Koch Vincent Klink verfasst. Ein Stuttgarter, der weiß, wovon er spricht, wenn es um Lebensmittel, Ernährung und Genuss geht. Und der ein Herz für Nutztiere hat. Deshalb dokumentieren wir hier seine Worte:

"Vor mir habe ich ein Buch, das beim ersten Durchblättern das hält, was ich von einem Autor wie Manfred Kriener seit Jahren erwarten kann: Genauigkeit und journalistische Aufrichtigkeit. Kriener weiß, wie die Natur zu unserem Wohl unermüdlich liefert und wir sie trotzdem mit Füßen treten und wie die Gier des Menschen dauernd obsiegen und ausbeuten möchte. Dieser grenzenlose Egoismus, der alles aussaugt und den Nachkommen nicht viel übrig lassen will. Darum und wie es bewerkstelligt wird, geht es in diesem Buch, das sich vornehmlich den Verbrechen an der Natur und an den Lebensmitteln widmet, das genau in die Wunde sticht, aber nie jammert, sondern auch Auswege zeigt.

Ich gehöre zu den Menschen, die nicht geizig sind, sich aber an den Parametern der Vernunft sortieren, gerade so, wie man das schon bei den Griechen vor 2500 Jahren nachlesen kann. Es geht deshalb nicht ums Wohlleben, sondern ums Überleben, und das nicht auf Kosten anderer.

Moderne Ernährung braucht einen scharfen Blick nach allen Seiten, vor allem allerdings in eine Richtung, welche man mittlerweile häufig als Chemiehölle wahrnehmen darf. Mit heißem Kopf las ich Seite um Seite von Krieners umfassenden Recherchen und Beweisen. Obwohl ich mich seit Jahren mit Lebensmitteln beschäftige, war mir die Infamie der Nahrungsmittelindustrie und der Lebensmittelchemie in dieser Tiefe nicht bekannt. Soziologisch sehr interessant ist die teilweise fast ins Religiöse abrutschende Ernährungsmoral hierzulande. Man erfährt bei Kriener, dass dies auch sein Gutes hat, aber oft als Anker mentaler Schleudertraumata herhalten muss. Das alles kommt nicht von ungefähr, und dieses Buch leuchtet so gut wie jede Problematik ums Essen gründlich aus. Es nahm mich auch deshalb gefangen, weil es auf missionarische Töne verzichtet, was bei der Thematik um Nahrungsverbrechen, Essverhalten und der Sehnsucht nach dem Aromen-Overkill als Seltenheit gesehen werden kann.

So lese ich mich durch einen bewundernswerten Wortschatz in den Wahnsinn des Foodporn, des bunten Tellerpostings, des exotischen Füllhorns mit Speisen aus aller Welt, mit denen fantasielose Köche oft ungenügende Kreativität tarnen.

Die Ernährungswelt teilt sich nicht nur in Veggies und Karnivoren. Sie unterscheidet auch zwischen bewussten, gebildeten, nachdenklichen Normalverbrauchern, unter denen Kriener auch Otto Moralverbraucher ortet. Bio, fair, artgerecht und zunehmend pflanzlich sind die erstrebenswerten Zutaten eines überlegten Lebens. Wählen können heißt frei sein, frei ist aber nur, wer ein wenig Bescheid weiß."


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