Womöglich ist es Unsinn zu behaupten, in diesem Jahr läge auf den Straßen mehr Laub als früher. Eine Beobachtung, die wahrscheinlich von meinem eigenen Verwelken herrührt. Oder ich bin von einer Endzeitstimmung erfasst, die so lustig ist wie der Tanz sterbender Blätter, wenn die taz den Einsatz amerikanischer Atacms-Raketen in der Ukraine mit der Schlagzeile feiert: "Last-Minute-Flüge nach Russland".
Ich habe es nicht so mit dem Fliegen, bin eher dem Erdigen verbunden. Im Übrigen haben auch Straßen etwas Erhebendes – als stumme Zeuginnen von Dingen, von denen wir zu wenig oder überhaupt nichts wissen. Im Lauf der Zeit habe ich eine fast innige Beziehung zur Straße entwickelt, wenn auch keine so erotische wie ein gefeuerter Finanzminister, der aus einem Schlagloch in seinem Hirn diesen Gedankenmüll gefischt hat: Der Kanzler habe ihn auf die Straße gesetzt, "aber auf der Straße fühle ich mich wohl". Und dann bremst und blockiert er und rammt andere von hinten, bis uns alles um die Ohren fliegt.
Das viele Herbstlaub in dieser Saison schürt meinen Verdacht, die Straße als stumme Zeugin müsse noch weit schlimmere Dinge wissen als ich. Es gibt flanierende Literaten, die behaupten, man könne eine Straße lesen wie ein Buch. Auch wenn ich das nicht gar so gut kann, glaube ich dennoch an den weltumfassenden Sinn des Gehens. Vielleicht nicht so begeistert wie Søren Kierkegaard, als er anno 1847 seiner Schwägerin Sophie Henriette schrieb: "Verlieren Sie vor allem nicht die Lust zu gehen; ich gehe mir jeden Tag das tägliche Wohlbefinden an und entgehe jeder Krankheit; ich habe mir meine besten Gedanken angegangen, und ich kenne keinen Gedanken, der so schwer wäre, dass man ihm nicht entgehen könnte."
Manchmal hoffe ich, das Denken möge mir vergehen, weil ich immer öfter schwere Gedanken von der Straße mit nach Hause schleppe. Ich wohne nicht weit von Friedensplatz und Friedenstraße entfernt, und diese Orte erinnern nur daran, dass man sie Ende des 19. Jahrhunderts ohne jeden Sinn für die Kriegstüchtigkeit der Nachfahren so benannt hat. Die Friedenskirche in der Nachbarschaft nennt sich Gospelkirche, und als ich mich einmal, vermeintlich unauffällig, in eine Ecke stellte, um dem Chor zu lauschen, wurde ich prompt von eifrigen Beseelten bedrängt, mich einzureihen und mitzusingen. Im Gedenken an Johnny Cash bin ich geflohen.
Wie gesagt, das viele Laub dieses Herbstes hat etwas Belastendes, und wenn ich nach getaner Beinarbeit meinen roten Taschenkalender fürs kommende Jahr auf meinem Tisch sehe, frage ich mich, ob es noch Sinn hat, darin einen Termin einzutragen. Andrerseits planen hoch motivierte Leute die raketenteure Renovierung eines Opernhauses bis in die Vierzigerjahre dieses Jahrhunderts hinein, und in der Unterführung neben einer Baustelle im Bohnenviertel prophezeit eine Werbeagentur: "Hier entsteht Zukunft". Es wird immer schwieriger, Realität und Satire auseinanderzuhalten, und jetzt alle: Glory, Glory Hallelujah.
Hat lange gedauert: Gedenken an Oppenheimer
Auf dem Weg in meine verlorene Zukunft mache ich Rast bei einem Mittagessen mit Freunden in einem koreanischen Restaurant namens Kim's So. Es gibt dort Feuertöpfe, scharf wie Atomsprengköpfe. Das Lokal liegt in der Nähe des Dreifarbenhauses, Stuttgarts ältestem Puff, nicht weit vom Rathaus, direkt am Joseph-Süß-Oppenheimer-Platz. Dank einer Initiative der Stiftung Geißstraße 7 hat man 1998 ein Asphaltloch mit der Einfahrt zum Parkhaus Neue Brücke/Königstraße so benannt. 26 Jahre lang glänzte es mit einer Hässlichkeit, die selbst der schwerste Laubrausch nicht verschleiern konnte. Der Zeitpunkt meines Korea-Ausflugs war Zufall, ein paar Tage später wurde der neu gestaltete Joseph-Süß-Oppenheimer-Platz offiziell eröffnet. Im Amtsblatt in einem Schaukasten las ich, man habe das Gelände für 2,2 Millionen Euro "aufgewertet" – zu einem prägenden Gedenkort und musealen Raum, der dazu einlade, sich mit Geschichte auseinanderzusetzen. "Für die Erinnerungsstätte", so das Amtsblatt, "hat die Stadt weitere 300.000 Euro in die Hand genommen." Immer wenn jemand "Geld in die Hand nimmt", bekomme ich Kopfschmerzen, was mich nicht hindert, auf die neuen rostbraunen Stahlwände hinzuweisen, in die die Buchstaben des Namens Joseph Süß Oppenheimer gesägt wurden. Ergänzt wird das wuchtige Erinnerungs-Ensemble auf neuem Bodenbelag von Infotafeln und Baum- und Pflanzenkästen mit Sitzgelegenheiten.
Wer sich für das Schicksal des Opfers interessiert, sollte das in diesem Jahr erschienene Buch "Joseph Süßkind Oppenheimer. Ein Justizmord" der Autorin und Gerichtsreporterin Raquel Erdtmann in die Hand nehmen. Hervorragend recherchiert, großartig geschrieben.
Mir als Spaziergänger ist "Süs", wie er sich selbst schrieb, vor etlichen Jahren auf Stuttgarts Straßen begegnet, die nicht immer stumme Zeuginnen sind. Manchmal bringen Menschen sogar Steine zum Reden, und von diesem Schlag war Harry Walter, ein im vergangenen September mit 70 Jahren verstorbener Autor und Künstler. Harry wuchs in der Stuttgarter Nordbahnhof-Gegend auf, er kannte die Geschichte dieses Reviers wie kein Zweiter. 2013 sind wir zusammen zu den Eisenbahnhochhäusern am Nordbahnhof spaziert, in den Fünfzigerjahren des 20. Jahrhunderts wurden sie nach den Plänen des Architekten Helmuth Conradi erbaut. In einem dieser Betontürme hat Harry mit seiner Familie gewohnt.
Die Waschküche auf dem Henkersplatz
Wo im Hochhaus-Quartier die Mönchstraße in die Friedhofstraße mündet, steht eine Art Pavillon, eine alte Stube der arbeitenden Klasse: eine Waschküche mit Heißmangelstube. Dieses kleine Kuriosum findet man genau dort, wo am 4. Februar 1738 der Jude Joseph Süß Oppenheimer am Galgen hingerichtet wurde. Dafür hatte man eigens den 20-jährigen Henker Georg Franck aus Straßburg engagiert. Vorausgegangen war ein verbrecherischer Justizskandal, ausgelöst und befeuert von wahnhaftem antisemitischem Hass.
Der Angeklagte, 1698 in Heidelberg geboren, galt als Finanzgenie, er arbeitete für den katholischen Herzog Karl Alexander. Als der Herzog 1737 unerwartet starb, wurde Oppenheimer verhaftet. Man warf ihm alles Unmögliche vor. Hochverrat, Bestechlichkeit, Schändung des protestantischen Glaubens, Sexualdelikte. Es folgte ein menschenverachtender Schauprozess ohne Beweise.
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