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Stuttgarter Kesselbambule

Realpolitik und Utopie

Stuttgarter Kesselbambule: Realpolitik und Utopie
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Aktivist:innen treffen sich in Bad Cannstatt zu einer Konferenz, um sich zu vernetzen und Ideen für eine klimaschonende Mobilität der Zukunft zu entwerfen. Währenddessen kämpft im Stuttgarter Gemeinderat ein Block aus CDU, Freien Wählern, FDP und AfD weiter für das Auto.

Am Sonntagabend ist Nisha Toussaint-Teachout erschöpft, aber zufrieden. Die 25-Jährige ist Aktivistin des Stuttgarter Aktionsbündnisses Kesselbambule, das am vergangenen Wochenende in Bad Cannstatt zusammen mit Ende Gelände eine Konferenz unter dem Titel "Mobilität für alle" abgehalten hat. Zwischen 60 und 100 Personen hätten laut Toussaint-Teachout täglich teilgenommen. Für sie musste gekocht werden, hinzu kommt die Planung von Workshops, Diskussionsrunden und Vorträgen. Das kostet Zeit und Kraft.

Längst bekannt ist: Unsere Mobilität auf dem jetzigen Stand ist nicht zukunftsfähig und macht krank. Autos verursachen schlechte Luft, machen Lärm und belegen viel zu viel Platz. Platz, auf dem besser Bäume stehen sollten. Auch weil die Temperaturen steigen und gerade Städte mehr Grün dringend benötigen angesichts des Klimawandels.  Zwar sind die Treibhausgasemissionen in Deutschland laut Umweltbundesamt zwischen 1990 und 2022 "stark gesunken" – insgesamt um etwa 40 Prozent. Doch der Anteil der Emissionen aus dem Verkehrssektor stieg in diesem Zeitraum von 13 auf fast 20 Prozent bundesweit. Mobilitätswende? Fehlanzeige.

Das wollen die Umweltaktivist:innen, die am Wochenende in Bad Cannstatt zusammengekommen sind, nicht hinnehmen. Drei Tage lang diskutierten vorwiegend junge Frauen und Männer in Räumen der Schwabenbräu-Passage mit Fachleuten und untereinander über neue Erkenntnisse und politische Fehlentwicklungen.

Eine davon ist die Fehlentwicklung im Verkehr. Denn in der gesamten EU steigen dessen Emissionen, während in allen anderen Sektoren die Zahlen zurückgehen, berichtet Franziska Meinherz in ihrem Vortrag. Sie ist seit Oktober Professorin am Karlsruher Institut für Technologie und eröffnete am Freitagabend die Kesselbambule-Konferenz. Den größten Anteil an dieser Entwicklung habe der Straßenverkehr, denn: Noch immer steigt in der EU die Nachfrage nach Autos, die wiederum immer größer und schwerer werden.

Mobilität als Spiegel der Gesellschaft

Ein Projektor wirft Meinherz' Präsentation an die Wand im Raum Rosa, benannt nach Rosa Parks, eigentlich ist hier der Sunny High Club. Meinherz hat ihren Vortrag gespickt mit Diagrammen, die zeigen, wie sich in der Mobilität die Unterschiede zwischen Arm und Reich, zwischen Frau und Mann widerspiegeln. Frauen würden öfter eine "begleitete Mobilität" ausüben, also irgendwen irgendwo hinbringen. Der Klassiker: Kinder in die Schule. Frauen, an denen in der Regel die Sorgearbeit – also Einkauf, Haushalt und Kinder – hängen bleibt, müssen deshalb öfter zu verschiedenen Orten gelangen; Männer dagegen fahren zur Arbeit und kommen abends nach Hause. Theoretisch ließe sich also für eine Autoabhängigkeit der Frauen plädieren, sagt Meinherz. Doch tatsächlich nutzen Frauen öfter den öffentlichen Nahverkehr, das Rad und gehen häufiger zu Fuß als Männer. Zudem ist der Besitz eines Autos eine monetäre Frage: Je niedriger das Haushaltseinkommen, desto niedriger ist die Quote der Autobesitzenden. Die Hersteller setzten aber auf das Luxussegment, denn dort sind die Gewinnmargen am höchsten. "Die Automobilität der oberen Einkommensklassen ohne Sorgearbeit beeinflusst die Mobilität der anderen Klassen", sagt die gebürtige Schweizerin.

"Stuttgart ist bereit für eine Mobilität von allen für alle", resümiert Toussaint-Teachout am Ende der Konferenz. Ob wirklich ganz Stuttgart bereit für eine Verkehrswende hin zur autofreien Stadt ist, darf gewiss in Zweifel gezogen werden. Drei Tage vor Konferenzbeginn wurde das deutlich im Gemeinderatsausschuss für Stadtentwicklung, als es um die Parkplätze vor der Markthalle und den Superblock im Stuttgarter Westen ging. In beiden Angelegenheiten gibt es zwei klare Lager: die ökosoziale Mehrheit gegen eine Minderheit von CDU, Freien Wählern, FDP und AfD. Die vier letztgenannten möchten unbedingt die Parkplätze vor der Markthalle erhalten, trotz Parkhäusern in unmittelbarer Nähe. Der entsprechende Antrag, für den auch die AfD stimmte, wurde mit zehn zu neun Stimmen abgelehnt.

CDU-Kampagne gegen Superblock

Nächster Tagesordnungspunkt: Superblock in der Augustenstraße. Die CDU hatte bereits im August einen detaillierten Bericht von der Stadtverwaltung gefordert, in dem der Evaluationsprozess des Verkehrsprojekts aufgeschlüsselt werden sollte. "Jegliches Gefühl eines intransparenten Verfahrens muss auf jeden Fall verhindert werden", heißt es im Antrag. Die Beteiligung mehrere Institute und Akteure werfe Fragen auf. Stefan Oehler, Leiter der Abteilung Verkehrsplanung und Gestaltung, fand das formulierte Misstrauen im Antrag "irritierend". Hannes Rockenbauch (SÖS) formulierte für das ökosoziale Lager scharfe Kritik: Die CDU begebe sich in das Fahrwasser der AfD, wenn sie wissenschaftliche Methoden anzweifle.

Im Mai 2023 hatten die Christdemokraten im Gemeinderat noch für den Superblock gestimmt. Nun sind sie eher dagegen. Mit Plakaten "Flop des Jahres?" warb die Partei kürzlich für einen Infostand am vergangenen Samstag in der Augustenstraße: Drei Stunden standen Parteivertreter:innen unter einem türkisfarbenen Schirm mit Parteilogo und diskutierten mit Anwohner:innen. Zur Mittagszeit sammelten sich dort rund 30 Menschen. "Ich find’s gut, dass sich jemand gegen diesen Quatsch einsetzt", sagt ein Mann, der mit Hund an der Leine vorbeikommt. Der Superblock sei eine "Katastrophe", mies kommuniziert und schlecht umgesetzt.

Doch nicht alle am CDU-Stand sind gegen den Superblock. Einer von ihnen ist der Grünn-Gemeinderat Sebastian Karl, der selbst in der Augustenstraße wohnt. "Ich bin bis jetzt überzeugt von dem Projekt", sagt er im Gespräch mit CDU-Bezirksbeirat Richard Holberg. Dieser dagegen findet das Projekt zu teuer, außerdem sei die Ortswahl nicht optimal: Mit Feuersee und Karlshöhe sei das Viertel in Stuttgart ohnehin gut bedient. Wie seine Parteikolleg:innen im Gemeinderat zeigt er sich skeptisch, ob mit den Messungen von Temperatur und Feinstaub während des Projektes wirklich Erkenntnisse gewonnen werden können. Die Werte seien schließlich vom Wetter abhängig. "Man muss sich angucken, was da rauskommt", entgegnet Karl. Im Herbst kommenden Jahres ist der anderthalb Jahre währende Superblock-Versuch beendet, dann soll diskutiert werden, wie es weitergeht.

"Ich persönlich kann mir gar nicht vorstellen, dass die Autos da wieder durchfahren könnten", sagt wenige Stunden später Ulrich Heck vom Verein Quartierswerkstatt, als er auf dem Podium bei der Mobilitätskonferenz der Kesselbambule sitzt. Der als Streitgespräch verschiedener Aktivist:innen angekündigte Programmpunkt verlief noch harmonischer als die Diskussion zwischen Karl und Holberg zuvor. Unterschiedliche Standpunkte kamen fast ausschließlich bei den Einstiegsfragen zum Vorschein, beispielsweise ob SUV-Fahrer:innen Gegner oder potenzielle Verbündete seien. Allein Cosima Rade von Fridays for Future und dem Verdi-Bündnis "Wir fahren zusammen" zeigte im Gespräch zum Teil abweichende Ansichten: Während Laura, die Vertreterin der Letzten Generation, sich für einen Mix aus radikalen und gemäßigten Aktionsformen ausspricht, um eine Klimawende durchzusetzen, betont Rade, man müsse mehr auf die Stimmung der Leute achten. "Wenn wir beim Klimawandel erfolgreich sein wollen, müssen wir aus unserer Bubble raus und die unangenehmen Gespräche führen." Besonders mit Arbeiter:innen, die sich nicht 24 Stunden am Tag mit der Klimafrage beschäftigen – auch weil sie ganz andere Sorgen haben.

Luftschiffe und Seilbahnen

Wie soll also "Mobilität für alle" in Zukunft aussehen? Als Schlagworte fallen an diesem Wochenende immer wieder Vergesellschaftung und Konversion, also Enteignung und Umbau der Autoindustrie hin zu klimaverträglichen Verkehrsmitteln wie Lastenräder oder Züge. Am Sonntagnachmittag entwickelten Konferenzteilnehmer:innen im Workshop von Nisha Touissant-Teachout und Tomislav Knaffl utopische Visionen. Eine Welt ohne Yachten, Panzer, schwere Geländewagen und Lastwägen, dafür mit Luftschiffen, Seilbahnen und einem ausgebauten öffentlichen Nahverkehr – eine Auswahl an Vorschlägen, die aufkommen. Grundlage für den Mobilitätswandel soll eine Gesellschaftsidee jenseits des Kapitalismus bilden, zu dem die Teilnehmer:innen ihre Wünsche äußern: gerechte Sorgearbeit, Teilhabe für alle, weniger Bürokratie und die Abwesenheit von Herrschaft.

Im Verlauf des Workshops schrumpft die Zahl der Mitwirkenden von 30 Personen auf knapp die Hälfte. In einer kriselnden Welt, in der es nicht mehr das Gefühl gebe, dass es den eigenen Kindern einmal besser gehen wird, fühle es sich unrealistisch an, Visionen von einer (noch) undenkbaren Welt zu machen: "wie Märchenerzählen", sagt Toussaint-Teachout. Die 25-jährige Aktivistin ist eine der Hauptorganisator:innen der Kesselbambule. Gerade sei man mit Verteidigungskämpfen beschäftigt, allem voran gegen den Faschismus. Trotzdem brauche es Bilder, "für die wir kämpfen können". Aber das sei eben nicht für jede Person so. Andere wollen lieber einen konkreten Zehn-Punkte-Plan entwerfen, der ihnen eine Perspektive gibt.

Am Ende des Workshops entstehen eine Mindmap, eine Kollage und Texte, die beschreiben, wie die Teilnehmer:innen sich Mobilität im Jahr 2044 und darüber hinaus vorstellen. Sie wissen, dass dem bürgerlich-rechten Block im Gemeinderat diese Ideen relativ egal sein dürften. Aber die Aktivist:innen der verschiedenen Klimabewegungen sind froh, dass sie sich ein Wochenende lang vernetzen konnten, und sie haben konkrete nächste Schritte geplant: beispielsweise eine große Critical Mass (Fahrrad-Aktion) und eine Aktionswoche zur Mobilität im Januar.

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