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Klimacamp und Mobilitätswoche

Wo wir hin wollen

Klimacamp und Mobilitätswoche: Wo wir hin wollen
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Der Sommer brachte Europa die schlimmste Dürre seit 500 Jahren, doch beim Klimaschutz bewegt sich noch immer zu wenig. Als Gegenprogramm zur Stuttgarter Mobilitätswoche organisiert das Bündnis Kesselbambule ein Klimacamp, das den automobilen Kapitalismus überwinden will.

Grünflächen heißen sie wahrscheinlich nur noch aus Gewohnheit. Ein heißer und trockener Sommer hat den Parks und Wiesen in der Landeshauptstadt zugesetzt, statt satter und saftiger Farben dominieren erdige Brauntöne und das kraftlose, ausgebrannte Gelb verdorrter Gräser. Auch der Stuttgarter Stadtgarten sieht in diesem September aus wie eine Steppe. Auf dem strapazierten Boden sitzt die Aktivistin Nisha Toussaint-Teachout und meint, dass die vergangenen Monate sehr deutlich gezeigt hätten, warum es den Einsatz für Klimagerechtigkeit braucht. Die 22-Jährige gehört zum Gründungskreis von Fridays for Future Stuttgart, ist seit Dezember 2018 aktiv auf Demonstrationen und hat in der Zwischenzeit beobachten können, "wie die Erderhitzung zu immer heftigeren Konsequenzen führt".

Während andere Erdregionen noch weitaus stärker betroffen sind, sind die Folgen des Klimawandels auch in Europa längst unübersehbar – mit einer klaren Tendenz zur Zuspitzung: Wie Forscher:innen des Leipziger Helmholtz-Zentrum 2020 im Fachmagazin "Scientific Reports" beschreiben, gab es seit 1766 keine zwei aufeinanderfolgenden Sommerdürren in Mitteleuropa, die das Ausmaß von 2018 und 2019 erreichten. Das war noch bevor die Bilder ausgetrockneter Flüsse in Frankreich und Italien eine kurze Zeit für Schlagzeilen sorgten. "Die Dürre scheint die schlimmste seit mindestens 500 Jahren zu sein", erklärte ein Sprecher der EU-Kommission Ende August. Und der Gewässerökologe Klement Tockner kommt im Gespräch mit dem "Spiegel" zur Einschätzung: "Die Situation ist außergewöhnlich – aber in 10, 20 Jahren wird das der Normalzustand sein. Wir sind erst am Beginn dessen, was wir in den nächsten Jahrzehnten an Extremen sehen werden."

Einen solchen "Normalzustand" will Toussaint-Teachout nicht akzeptieren. Knapp vier Jahre Einsatz für Klimagerechtigkeit sorgen bei ihr für ambivalente Emotionen. Einmal sind da die erschreckenden Katastrophenbilder von Waldbränden, Überschwemmungen, absterbender Natur und das beklemmende Gefühl, dass viel zu wenig viel zu langsam passiert, um den Erhalt einer intakten Umwelt abzusichern. Doch auf der anderen Seite steht das Hochgefühl, Teil einer jungen und kraftvollen Bewegung zu sein, die Vernetzung mit wunderbaren Menschen, der gemeinsame Einsatz für eine lebensfreundlichere Welt. Und auch wenn es bei der konkreten Umsetzung hapert, hat der Klima-Aktivismus vergangener Jahre zumindest dafür gesorgt, dass das Thema der Erderhitzung aus dem politischen Diskurs nicht mehr wegzudenken ist.

Längst ist auch die Börse auf das Vermarktungspotenzial von Umweltschutz angesprungen, im Bundestag hofft eine ganz große Koalition auf eine Zukunft mit grünem Wachstum. Das Bündnis Kesselbambule, für das Toussaint-Teachout Pressearbeit macht, glaubt nicht daran, dass daraus etwas wird, sondern ist "dezidiert antikapitalistisch", wie sie betont. Ein Klimacamp, wie es bereits im Vorjahr stattfand, soll in Stuttgart dabei helfen, verschiedene Strömungen zu vernetzen, Alternativen zu präsentieren – und obendrein Spaß machen: "Das, wo wir hinwollen, wollen wir im Aktivismus schon leben, zumindest so weit es geht." Deswegen sind neben Vorträgen, Workshops und Aktionstraining auch Live-Musik und Unterhaltung eingeplant.

Gegenprogramm zum Greenwashing

Toussaint-Teachout weiß aus langjähriger Erfahrung, dass der Einsatz für Klimagerechtigkeit deprimierend sein kann – etwa wenn Regierungen nach massivem öffentlichen Druck erneut unzureichende Maßnahmen gegen Erderhitzung und Naturvernutzung beschließen. "Und gerade deswegen ist es so wichtig, sich die Freude nicht nehmen zu lassen." Als sie angefangen hat zu demonstrieren, dachte sie, dass nach wenigen Monaten gar keine Aktionen mehr nötig sein würden, weil die wissenschaftliche Evidenz eindeutig ist und der Erhalt einer bewohnbaren Erde in der Politik einen sehr hohen Stellenwert genießen müsste. "Dann wurde aber sehr schnell klar, dass es für eine sozial-ökologische Umstrukturierung unserer Wirtschafts- und Lebensweise viel Durchhaltevermögen braucht." Und deswegen brauche es neben dem arbeitsintensiven Aktivismus auch Ausgleich, um zur Ruhe zu kommen und Kraft zu schöpfen.

Im Gegensatz zum Vorjahr, als sich das Zeltlager von Kesselbambule der Klimagerechtigkeit im Allgemeinen widmete, gibt es dieses Mal einen Themenschwerpunkt. Denn in der Bundesrepublik gibt es einen Sektor, bei dem nicht nur die Erfolge ausbleiben, sondern sich die CO2-Bilanz permanent verschlechtert: den Verkehr, maßgeblich vorangetrieben durch das Automobil und den seit Jahren zunehmenden Motorisierungsgrad. "Waren es im Jahr 2000 noch 532 Pkw pro 1.000 Einwohnerinnen und Einwohner, ist diese Zahl mittlerweile auf 580 im Jahr 2020 angestiegen", informiert das Umweltbundesamt. Das führe dazu, dass die CO2-Emissionen durch den Pkw-Verkehr ansteigen, obwohl Antriebe effizienter beim Spritverbrauch werden: "Das Mehr an Pkw-Verkehr hebt den Fortschritt auf."

Das Klimacamp ist daher auch als Gegenprogramm zur Stuttgarter Mobilitätswoche konzipiert, die nach Angaben der Stadtverwaltung "einen bewussten Umgang mit allen Mobilitätsformen fördern" will. Bezeichnenderweise zeigt die Illustration, die die Kampagne begleitet, einen in Brezelform verschlungenen Straßenknoten – aber keine Schiene. Im Aufruf der Kesselbambule-Aktivist:innen wird das städtische Programm als "Bankett der Scheinlösungen und des Greenwashings" abgekanzelt, das nicht von der realen Verkehrspolitik ablenken sollte: "Autoinfrastrukturprojekte wie der Ausbau der B27 und das verkehrstechnisch sinnlose Betonprojekt S21 werden weiter vorangetrieben." Dabei würden sich die Entscheidungen in erster Linie nicht an tatsächlichen Bedürfnissen orientieren, sondern entsprächen "der im kapitalistischen System verankerten Profitlogik und dem daraus folgenden Wachstumszwang. Deswegen ist es wichtiger, Autos zu verkaufen als Radwege zu bauen, deshalb ist es wichtiger, Autobahnschneisen zu schaffen als für einen guten ÖPNV für alle zu sorgen".

Mit dabei beim Klimacamp sind zahlreiche Gesichter, die schon lange für eine Mobilitätswende kämpfen. Mario Candeias von der Rosa-Luxemburg-Stiftung referiert, welche Transformationen in der Arbeitswelt anstehen; Greenpeace, Robin Wood und die Deutsche Umwelthilfe beteiligen sich an Diskussionen; die Anstifter und das Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 mischen mit. Aber auch die refugees 4 refugees wollen einen anderen Blickwinkel auf das übergeordnete Thema vermitteln – mit einem Vortrag zur Mobilität an den europäischen Außengrenzen. "Das ist ein zentraler Aspekt des Komplexes", sagt Toussaint-Teachout: "Wer kann und darf mobil sein?" Neben dem Fokus auf Verkehr und Bewegung soll es aber auch genug Platz für Grundsatzfragen geben. "Es wird immer offensichtlicher, dass Profitlogik und Wachstumszwang an Grenzen stoßen", sagt die Aktivistin. "Diese Wirtschafts- und Lebensweise ist nicht zukunftsfähig."

Während im öffentlichen Diskurs mitunter von "Klima-Hysterie" schwadroniert wird, erschien am 10. September dieses Jahres eine größere Studie im Fachmagazin "Science", die darauf hindeutet, dass das dramatische Gefahrenpotenzial durch die Erderhitzung bislang eher unterschätzt worden ist. Demnach seien fünf kritische Kipppunkte, ab denen unkontrollierbare Kettenreaktionen drohen, möglicherweise schon überschritten – darunter das Abschmelzen des grönländischen Eisschildes, das Versagen des Golfstroms und die Destabilisierung des Amazonas-Regenwalds. Ab 1,5 Grad Erhitzung ändere sich die Einschätzung, die Schwellenwerte schon überschritten zu haben, von "möglicherweise" zu "wahrscheinlich", erklärt Johan Rockström, der an der Studie beteiligt war, gegenüber dem "Guardian". Wie der Direktor des Potsdamer Instituts für Klimafolgenforschung betont, befinde sich die Welt aktuell auf dem Weg in Richtung 2 bis 3 Grad Erhitzung. Und er betont: "Um lebensfähige Bedingungen auf der Erde zu erhalten und stabile Gesellschaften zu ermöglichen, müssen wir alles tun, was möglich ist, um das Überschreiten der Kipppunkte zu verhindern." Da sollte eigentlich Konsens sein, dass sich mehr bewegen muss.

 

Das auf Spendenbasis finanzierte Klimacamp von Kesselbambule findet vom 16. bis zum 22. September im Stuttgarter Stadtgarten statt. Das ganze Programm ist hier zu finden. Im gleichen Zeitraum lädt Oberbürgermeister Frank Nopper (CDU) zur zweiten Stuttgarter Mobilitätswoche, um "gemeinsam ein Zeichen für eine zukunftsweisende Mobilität in und für Stuttgart zu setzen". Erster Programmpunkt dabei: "Stuttgart 21: Digitale Mobilität im Digitalen Knoten Stuttgart", präsentiert vom Bahnprojekt Stuttgart–Ulm e.V. – und mit dem Zusatz versehen: Anmeldung erforderlich und kostenpflichtig.


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