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Fabian Scheidler

Zahnräder und Schmetterlinge

Fabian Scheidler: Zahnräder und Schmetterlinge
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Wo das Klima außer Kontrolle gerät, glaubt die technokratische Ideologie weiterhin an die Beherrschbarkeit der Natur. Der Philosoph und Dramaturg Fabian Scheidler hält organische Systeme für etwas komplexer und sprach im Stuttgarter Studiotheater über die Krise des Lebens auf der Erde.

Wofür es beim letzten Mal vor 66 Millionen Jahren einen kolossalen Asteroiden brauchte, genügt heute die vermeintliche Normalität eines Wirtschaftssystems, das seine Fans für sehr erfolgreich halten: In der Geschichte der Massensterben auf dem Planeten werden die großen fünf, die es bislang gab, gerade um ein sechstes erweitert. Laut der Weltnaturschutzunion übertrifft der gegenwärtig registrierte Artenschwund die Rate des normalen Aussterbens (also ohne menschlichen Einfluss) um das 1.000- bis 10.000-Fache, jeder Tag bedeutet für 380 Tier- und Pflanzenarten ein Nimmerwiedersehen.

Fabian Scheidler, Jahrgang 1968, studierte Geschichte, Philosophie und Theaterregie. Er ist Autor mehrerer Sachbücher und der Oper "Tod eines Bankers". 2009 bekam er den Otto-Brenner-Medienpreis für kritischen Journalismus verliehen. Scheidler ist Mitbegründer des Formats Kontext-TV, das sich Fragen der globalen Gerechtigkeit widmet (und mit dem die Kontext:Wochenzeitung nichts zu tun hat).  (min)

Der Impakt unserer Wirtschafts- und Lebensweise auf die planetare Vielfalt ist also am ehesten mit Katastrophen im kosmischen Maßstab vergleichbar, und diese dramatische Entwicklung innerhalb weniger hundert Jahre ist eines der Beispiele, das Fabian Scheidler als Begründung anführt, warum er von einer "Krise des Lebens auf der Erde" spricht. Hinzu kommen sich abzeichnende Süßwasser-Engpässe in vielen Erdregionen, der Verlust fruchtbarer Ackerböden durch industrielle Landwirtschaft, der Klimawandel, der bei all diesen Problemen als Brandbeschleuniger wirkt. Und obwohl die Alarmglocken kaum noch schriller gellen könnten, gab es in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten nur wenige Anzeichen für einen grundlegenden Kurswechsel, sondern im Gegenteil: eine Verschlechterung der Zustände auf allen Krisenfeldern. Wobei sich die Dynamik, die den ökologischen Amoklauf herbeiführt, tendenziell immer weiter beschleunigt.

"Das hängt natürlich eng mit einem Wirtschaftssystem zusammen, das vor ungefähr 500 Jahren entstanden ist und das nicht existieren kann, ohne permanent zu wachsen", sagt Scheidler bei der Präsentation seines Buchs "Der Stoff, aus dem wir sind" im Stuttgarter Studiotheater. Und für dieses Wachstum müsse Natur unablässig in Waren verwandelt werden, wobei der Ressourcenhunger beständig zunimmt: Laut den Vereinten Nationen wurden der Erde 2017 mehr als drei Mal so viele Rohstoffe wie 1970 entnommen.

"Dieses Wirtschaftssystem", sagt Scheidler, "hat sich zusammen mit einem bestimmten Naturverständnis entwickelt, einer technokratischen Ideologie", für die zwei Merkmale kennzeichnend seien: der Glaube an die beliebige Zerlegbarkeit der Natur nach Art eines Lego-Baukaustens und der Glaube an die Beherrschbarkeit der Natur. Auf Basis dieser Annahmen würden allerlei Eingriffe vorgenommen, ohne die komplexen Systeme, die davon betroffen sind, wirklich verstanden zu haben. Etwa wenn Mischwälder durch Monokulturen ersetzt werden, um Erträge und Effizienz zu steigern, und die Bäume plötzlich absterben, weil die Einfalt der Bepflanzung zu einer höheren Anfälligkeit für Schädlinge führt.

"Das Leben ist nicht berechenbar"

Es ist paradox: Während das menschliche Realexperiment der Naturbeherrschung mit deutlich sichtbaren Folgen immer tragischer verunglückt, erfreuen sich in der Sphäre der parlamentarischen Politik bislang vor allem Lösungsstrategien großer Beliebtheit, die auf technologische Innovationen, also noch mehr Naturbeherrschung setzen. Doch bleiben die betroffenen Ökosysteme und die darin lebenden Wesen weitgehend unverstanden. "Das mechanistische Weltbild begreift Menschen und Tiere als komplexe Maschinen", sagt Scheidler. "Aber keine Wissenschaft der Welt kann vorhersagen, wie sich meine Katze in zwei Minuten verhalten wird. Da kann ich so viele Supercomputer an sie anschließen wie ich will, ich werde es nicht herausfinden." Und das Gleiche gelte ebenso für Eidechsen und Fadenwürmer.

Weil also die Innenwelten selbst einfachster Organismen ein Mysterium bleiben, ist nur folgerichtig, dass die Evolutionsbiologie keine seriösen Vorhersagen treffen kann, welche neuen Arten zukünftig entstehen werden. "Leben ist nicht berechenbar, und ein empfindender Organismus ist etwas grundsätzlich Anderes als ein Uhrwerk mit seinen Zahnrädern." Die Idee von Herrschaft und Kontrolle über lebende Systeme sei deswegen eigentlich eine Absurdität.

Für ziemlich verrückt hält Scheidler auch das, was er die falsche Hierarchie nennt: "In politischen Diskussionen heißt es immer wieder, ein ökologischer Umbau dürfe die Wirtschaft nicht zu sehr belasten. Das ist vollkommener Nonsens. Denn jede Ökonomie und Gesellschaft kann nur ein Subsystem des großen Systems Biosphäre sein. Wenn die Biosphäre über ein bestimmtes Maß gestört oder zerstört wird, dann wird es auch keine Ökonomie und keine Gesellschaft mehr geben. Ein untergeordnetes System kann das übergeordnete System weder beherrschen noch kann es unendlich darin wachsen." Diese zwei Erkenntnisse müssten eigentlich schon ausreichen, damit der Erhalt der Biosphären oberste Priorität erhält. "Und wenn man die Ökonomie dafür sehr tiefgreifend umbauen muss, dann ist das eben so, egal wie schwierig das sein mag. Das sagt ja auch der schöne Satz: Auf einem toten Planeten gibt es keine Jobs mehr."

Die nächsten Jahrzehnte werden hart

Für eine Ökonomie im Dienst von Gesellschaft und Biosphäre – statt Gesellschaft und Biosphäre im Dienst der Ökonomie – bräuchte es allerdings epochemachende Umwälzungen. Scheidler setzt dabei eher auf soziale Bewegungen als auf die parlamentarische Politik, plädiert für Schulterschlüsse etwa zwischen Klimaaktivismus, dem Kampf für soziale Gerechtigkeit, ein besseres Gesundheitssystem und die Anerkennung von Care-Arbeit. Denn: "Alle großen sozialen Errungenschaften sind durch kollektive Organisation entstanden", beispielsweise die Erfolge der Arbeiterbewegung. Im Kern steht dabei laut Scheidler immer die Frage: "Worum geht es eigentlich in Ökonomie und Gesellschaft? Um die Anhäufung möglichst vieler Güter und Waren? Oder um die Entfaltung unserer Innenwelten, also um das, was man mit einem anderen Wort auch Kultur nennt?" Statt zwei Prozent des Bruttonlandproduktes für das Militär auszugeben, wie aktuell von der Bundesregierung geplant, hätte er lieber zwei Prozent für die Kultur, die aktuell nur mit 0,35 Prozent gefördert wird.

Scheidler ist stark geprägt von den Werken Immanuel Wallersteins. Der Soziologe hat 2002 in seiner Utopistik eine Phase des Übergangs prognostiziert, weil das Weltsystem mit seinem Wachstumszwang unausweichlich auf eine existenzielle Krise zusteuere. "Wir wissen nicht, ob dies zum Besseren oder zum Schlechteren sein wird", heißt es bei Wallerstein. "Wir werden dies erst wissen, wenn wir dorthin gelangt sind, was möglicherweise noch weitere 50 Jahre dauern kann. Wir wissen allerdings, dass die Periode des Übergangs für alle, die in ihr leben, sehr schwierig sein wird." Doch werde es ebenso "eine Zeit sein, in der der Faktor des freien Willens zum Maximum gesteigert wird, was bedeutet, dass jede individuelle und kollektive Handlung eine größere Wirkung beim Neuaufbau der Zukunft haben wird als in normalen Zeiten, also während der Fortdauer eines historischen Systems".

Angesichts der vielen globalen Krisen, die sich derzeit zuspitzen, geht Scheidler davon aus, dass uns die kommenden Jahrzehnte in eine chaotische und gefährliche Übergangsphase führen. "Aber die Geschichte ist offen", sagt er und verweist auf den Schmetterlingseffekt, wonach ein Flügelschlag in Brasilien einen Tornado in Texas auslösen kann. "Wer hätte gedacht, dass eine 16-Jährige mit einem Pappschild die größte Jugendbewegung der Gegenwart initiiert? Das Leben ist immer für Überraschungen gut."


Fabian Scheidler: Der Stoff, aus dem wir sind. Erschienen im Piper-Verlag, 304 Seiten, zu haben für 20 Euro.


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