Weil also die Innenwelten selbst einfachster Organismen ein Mysterium bleiben, ist nur folgerichtig, dass die Evolutionsbiologie keine seriösen Vorhersagen treffen kann, welche neuen Arten zukünftig entstehen werden. "Leben ist nicht berechenbar, und ein empfindender Organismus ist etwas grundsätzlich Anderes als ein Uhrwerk mit seinen Zahnrädern." Die Idee von Herrschaft und Kontrolle über lebende Systeme sei deswegen eigentlich eine Absurdität.
Für ziemlich verrückt hält Scheidler auch das, was er die falsche Hierarchie nennt: "In politischen Diskussionen heißt es immer wieder, ein ökologischer Umbau dürfe die Wirtschaft nicht zu sehr belasten. Das ist vollkommener Nonsens. Denn jede Ökonomie und Gesellschaft kann nur ein Subsystem des großen Systems Biosphäre sein. Wenn die Biosphäre über ein bestimmtes Maß gestört oder zerstört wird, dann wird es auch keine Ökonomie und keine Gesellschaft mehr geben. Ein untergeordnetes System kann das übergeordnete System weder beherrschen noch kann es unendlich darin wachsen." Diese zwei Erkenntnisse müssten eigentlich schon ausreichen, damit der Erhalt der Biosphären oberste Priorität erhält. "Und wenn man die Ökonomie dafür sehr tiefgreifend umbauen muss, dann ist das eben so, egal wie schwierig das sein mag. Das sagt ja auch der schöne Satz: Auf einem toten Planeten gibt es keine Jobs mehr."
Die nächsten Jahrzehnte werden hart
Für eine Ökonomie im Dienst von Gesellschaft und Biosphäre – statt Gesellschaft und Biosphäre im Dienst der Ökonomie – bräuchte es allerdings epochemachende Umwälzungen. Scheidler setzt dabei eher auf soziale Bewegungen als auf die parlamentarische Politik, plädiert für Schulterschlüsse etwa zwischen Klimaaktivismus, dem Kampf für soziale Gerechtigkeit, ein besseres Gesundheitssystem und die Anerkennung von Care-Arbeit. Denn: "Alle großen sozialen Errungenschaften sind durch kollektive Organisation entstanden", beispielsweise die Erfolge der Arbeiterbewegung. Im Kern steht dabei laut Scheidler immer die Frage: "Worum geht es eigentlich in Ökonomie und Gesellschaft? Um die Anhäufung möglichst vieler Güter und Waren? Oder um die Entfaltung unserer Innenwelten, also um das, was man mit einem anderen Wort auch Kultur nennt?" Statt zwei Prozent des Bruttonlandproduktes für das Militär auszugeben, wie aktuell von der Bundesregierung geplant, hätte er lieber zwei Prozent für die Kultur, die aktuell nur mit 0,35 Prozent gefördert wird.
Scheidler ist stark geprägt von den Werken Immanuel Wallersteins. Der Soziologe hat 2002 in seiner Utopistik eine Phase des Übergangs prognostiziert, weil das Weltsystem mit seinem Wachstumszwang unausweichlich auf eine existenzielle Krise zusteuere. "Wir wissen nicht, ob dies zum Besseren oder zum Schlechteren sein wird", heißt es bei Wallerstein. "Wir werden dies erst wissen, wenn wir dorthin gelangt sind, was möglicherweise noch weitere 50 Jahre dauern kann. Wir wissen allerdings, dass die Periode des Übergangs für alle, die in ihr leben, sehr schwierig sein wird." Doch werde es ebenso "eine Zeit sein, in der der Faktor des freien Willens zum Maximum gesteigert wird, was bedeutet, dass jede individuelle und kollektive Handlung eine größere Wirkung beim Neuaufbau der Zukunft haben wird als in normalen Zeiten, also während der Fortdauer eines historischen Systems".
Angesichts der vielen globalen Krisen, die sich derzeit zuspitzen, geht Scheidler davon aus, dass uns die kommenden Jahrzehnte in eine chaotische und gefährliche Übergangsphase führen. "Aber die Geschichte ist offen", sagt er und verweist auf den Schmetterlingseffekt, wonach ein Flügelschlag in Brasilien einen Tornado in Texas auslösen kann. "Wer hätte gedacht, dass eine 16-Jährige mit einem Pappschild die größte Jugendbewegung der Gegenwart initiiert? Das Leben ist immer für Überraschungen gut."
Fabian Scheidler: Der Stoff, aus dem wir sind. Erschienen im Piper-Verlag, 304 Seiten, zu haben für 20 Euro.
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