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Traurige Höchststände

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Den Briefkasten zu öffnen ist zum Nervenkitzel geworden. Zumindest für Gas-Kund:innen, die schon vor dem Krieg in der Ukraine schauen mussten, wie sie über die Runden kommen, und die jetzt erst recht unter Druck geraten. Einer der Betroffenen ist der Stuttgarter Aktivist Paul von Pokrzywnicki, der den Brief mehrmals lesen musste, bis er es glauben konnte: Ab Oktober, wurde ihm eröffnet, steigt der monatliche Gas-Abschlag für ihn und seine Lebensgefährtin von 92 Euro auf 456 Euro. Die Einmalzahlung von 300 Euro, die die Bundesregierung als Entlastung beschlossen hat, reicht nicht einmal, um die Mehrkosten für einen Monat zu stemmen.

Von Pokrzywnicki, seit vielen Jahren umtriebig in der linken Szene Stuttgarts, ist auch im Aktionsbündnis "Recht auf Wohnen" aktiv, das bereits seit 2017 die Kommerzialisierung unverzichtbarer Grundbedürfnisse und die Mietpreisentwicklung in deutschen Städten kritisiert. Laut der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung haben zwei Drittel der Bevölkerung keine oder nur sehr geringe Ersparnisse. Die Schlangen vor den Tafeln erreichen ein Rekordniveau. Und der Paritätische Armutsbericht 2022 hat festgestellt, dass die Armutsquote in der Republik mit 16,6 Prozent einen "traurigen Höchststand" erreicht hat – allerdings beziehen sich die Daten noch auf das Vorjahr, die Folgen der Energie- und Gaskostenentwicklung sind noch nicht berücksichtigt.

"Jetzt sagt die Regierung, ich soll sparen", ärgert sich von Pokrzywnicki und fragt: Wo denn, nachdem schon die vergangenen Jahre wenig Spielraum für Rücklagen gelassen haben? "Wenn ich mir etwas sparen kann, dann die arroganten Haushaltstipps von Politikern, die Energie-Lobbyisten beim Gesetz zur Gasumlage haben mitschreiben lassen." Als Konsequenz bleibt für ihn, den Protest auf die Straße zu bringen, ab sofort soll jeden Montag auf dem Stuttgarter Rotebühlplatz demonstriert werden. "Eine Sache nervt mich besonders", hat von Pokrzywnicki bei der Auftaktkundgebung betont: "Wir erleben, wie Proteste verunglimpft werden – es sei unverantwortlich, in so einer Zeit auf die Straße zu gehen, das würde nur Putin helfen oder den Rechten." Dabei sei der Kampf gegen gesellschaftliche Missstände gerade jetzt wichtig. Aktionen, an denen sich Rechte, Verschwörungsschwurbler oder sogenannte Querdenker beteiligen, seien nicht erwünscht. "Wenn das jemand anders sieht, ist jetzt der richtige Zeitpunkt zu gehen."

Natürlich wird die extreme Rechte versuchen, die aktuelle Notlage für sich zu instrumentalisieren. Aber ebenso dürfte klar sein, "dass die rechte Politik des 'Ich zuerst' den Problemen keine Abhilfe schaffen wird", wie die Schweizer Journalistin Anna Jikhareva schreibt. In ihrem Beitrag liefert sie einen Überblick über das Protestgeschehen in Europa. Offen bleibe vorerst, "welche Rezepte linke Kräfte gegen die Krise vorzuweisen haben. Und ob sie genügend Leute auf die Straße bringen, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen." In Stuttgart blieb der Anlauf beim ersten Protest noch überschaubar, mit etwa 60 Teilnehmer:innen. Doch Gründe, sich gegen die extrem einseitige Wohlstandsverteilung in der Republik zu engagieren, gäbe es genügend.


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5 Kommentare verfügbar

  • Reinhard Gunst
    am 16.09.2022
    Antworten
    Wer Putin für die Energiepreise verantwortlich macht, zeigt dass er keine Statistiken liest und auch die Mechanismen des Marktes nicht verstanden hat. Die Preise steigen seit 2021 unentwegt und der Krieg hat nun, was bereits zuvor absehbar war, die Kurve kräftig nach oben gedrückt.

    Diese Preise…
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