Waah! So ein Schreck, wenn dieses Tier plötzlich von hinten auf den Schreibtisch hüpft und quer über die Tastatur latscht. AlJCVNÄBjvbeqLM schreibt es in diesem Moment in diese Geschichte, die buschige Schwanzspitze zuckt dabei überheblich in der Luft. Sorry, hau mal ab da, Mara, runter jetzt. Zur Erklärung: Vor ein paar Wochen sind in die Kontextredaktion zwei Katzen eingezogen, weil einer unserer Kollegen unverschuldet und plötzlich seine Wohnung verloren hat und jetzt im teuren Stuttgart eine neue suchen muss. Die zwei Kätzle, namentlich Mara (schwarz) und Synthes (Tiger), bekommen bei uns solange Asyl, einen Trinkspringbrunnen, drei Büschel Katzengras und werden von allen gemocht ("schreib von fast allen!", ruft die eine katzenfeindliche Kollegin gerade aus dem Off, jaja: "von fast allen"...). Und so sitzen diese Felltiere also in der Redaktion, gerne auf Regalen und Schränken, um mit ihren kleinen Knautschgesichtern voller Verachtung auf ihre arbeitenden Untertanen herabzublicken – "pfff, sollen sie halt Kuchen essen …".
Hefezopf. Oder? Seit 14 Jahren ist das die mit unserer Zeitung assoziierte Süßspeise mit Hefe drin und Zucker drauf. Erstmals in der Kontext-Geschichte hat 2024 allerdings der Zitronenkuchen, sagen wir, aufgeholt. Er war bei der Gründung der Blättle GmbH dabei, bei Bewerbungsgesprächen um die neue Stelle in der Redaktion, bei Besprechungen, welches Thema als nächstes für eine Veranstaltung taugt.
Kein Platz mehr frei bei unserer Veranstaltungsreihe
Das war eine der großen Neuerungen im Jahr 2024: Im Februar startete Josef-Otto Freudenreich unsere neue Reihe "Kontext im Merlin", Podiumsgespräche mit Moderator Stefan Siller im befreundeten alternativen Café Merlin in der Augustenstraße. Die Auftaktveranstaltung im Februar – es ging im Gespräch mit Landtagspräsidentin Muhterem Aras (Grüne) um den Umgang mit der AfD – war so gut besucht, dass viele stehen mussten. Auch die folgenden Termine – Verkehrsberuhigung im Viertel, Rechtsextremismus, eine von Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) gestartete Friedensinitiative – waren proppenvoll.
Daraus hervorgegangen ist eine Geschichte um den Friedensforscher Thomas Nielebock. Nicht unumstritten, aber sehr gut und eine wohltuende Abwechslung im wehrtüchtigen Jahr 2024, in dem die Bundeswehr Unternehmen auf den Kriegsfall vorbereitet und das Land über Atomwaffen diskutiert hat.
Angefangen hatte 2024 mit den Bauernprotesten – bei uns in Ausgabe 666 erstmals aufgegriffen, der Teufelsausgabe! 666, the number of the beast, wie es im Heavy Metal heißt. Was ein aufklärendes Gespräch mit dem Metalmusiker und Kunsthistoriker Jörg Scheller nahelegte. Der befand: "Eigentlich müsste die Religion dem Metal ja dankbar sein, er hat sie gewissermaßen durchs 20. Jahrhundert gerettet. Die Kirchen wurden immer leerer, die Metalkonzerte immer voller. Und was sah, was hörte man da? Genau – Judas Priest. Exodus. Black Sabbath. Lamb of God. Avenged Sevenfold. Eine einzige Bibelstunde!"
Zurück zu den Bauern: Angeheizt von den Unionsparteien, der AfD und diversen rechtsextremen Splittergruppen, protestierten sie bis zur Vollblockade des Grünen-Parteitags in Biberach. "Wer als Landwirt ernsthaft an Wertschätzung interessiert ist, der jammert nicht über den kapitalistischen Alltag, sondern tut was dagegen", schrieb Cornelius W. M. Oettle im Februar. "Und legt sich endlich mit dem Deutschen Bauernverband an." Das fanden wir so gut, dass wir den Mann im März als neuen Kolumnisten angeheuert haben. Unsere Sportkolumne "Brot und Spiele" haben wir im vergangenen Jahr eingestellt. Danke, Christian Prechtl, für viele Jahre der Treue und 97 Beiträge, angefangen mit einem ersten Artikel im Februar 2019.
Bauer oder Knast
Die Proteste der Landwirte warfen auch andere Fragen auf. Die nämlich, wie unterschiedlich Protestierende behandelt werden. Sind sie Bauern und damit CDU/CSU-Klientel, sind Bedrohungen, Beleidigungen und Blockaden offenbar okay. Klimaschützer:innen dagegen landen mittlerweile oft im Knast für ihre Protestaktionen. Dabei ist der Einsatz für den Klimaschutz kaum überzubewerten. Die massiven Überschwemmungen im Sommer dieses Jahres, die Millionenschäden, auch in Baden-Württemberg, legen Zeugnis davon ab.
Samuel Bosch aus Ravensburg ist für sein Engagement ins Gefängnis gewandert und hat im Jugendarrest in Göppingen für uns Tagebuch geschrieben: "Das Absurde an dem Gefängnis ist, dass ungefähr zwei Drittel der Menschen dort nicht wegen einer direkt verhängten Jugendarreststrafe einsitzen. Nein, sie waren nur zu unorganisiert, um Urintests auf Cannabis, Sozialstunden oder andere Auflagen rechtzeitig zu erfüllen. Viele sind auch schlicht zu arm, um eine Geldstrafe zu bezahlen."
Viele davon kämen aus Flüchtlingsfamilien, schreibt Bosch in seinem Tagebuch. Anfang des Jahres war die Solidarität mit Geflüchteten und Einwander:innen noch riesig. Hunderttausende Menschen gingen auf die Straße nach der "Correctiv"-Recherche über das Treffen, auf dem sich die AfD, andere Rechtsextreme und Konservative in Potsdam zu Beratungen über die Ausweisung von Nicht-Bio-Deutschen, getroffen hatten. Überall wurde demonstriert, mehrere Wochen lang, alle möglichen Schichten der Gesellschaft positionierten sich gegen den Rechtsruck. Es war ein eindrucksvoller Aufbruch, bundesweit, eine Zeit, in der kaum vorstellbar war, wie das Jahr sich entwickeln sollte.
Von der Solidarität zur Unmenschlichkeit
Denn nur wenige Monate später war die Massensolidarität Geschichte. Nachdem ein Verrückter im Juni einen Mannheimer Polizisten erstach und nach dem Messeranschlag in Solingen im August haben Geflüchtete und Migrant:innen im Jahr 2024 in Deutschland einen umfassenden Backlash erlebt. Nahezu alle Parteien, außer der Linken, bemühen das Schlagwort der "illegalen Migration", die gestoppt werden müsse, dabei lassen die aktuellen Gesetze Flüchtenden keine realistische legale Möglichkeit, nach Deutschland einzureisen. Seán McGinley, ehemals Geschäftsführer des baden-württembergischen Flüchtlingsrats, hat das im Oktober in Kontext in einem viel gelesenen Artikel als "demokratische Faschisierung" bezeichnet.
Ebenfalls viel gelesen – nein, genauer: der tatsächlich meistgelesene Artikel in Kontext war dieses Jahr "Der Schlächter von Hamburg". Unser Redakteur hatte Unterlagen zugespielt bekommen, in denen ein Polizist unter anderem über seinen Einsatz beim G20-Gipfel 2017 in Hamburg berichtete und davon, wie viel Spaß er gehabt habe, Linke und Zecken zu verprügeln. "Jetzt heim Couch und Bier", schreibt er nach einem Prügeleinsatz seiner "Mama".
Apropos Rechte: Wussten Sie, dass die Frisur der Hitlerjungen noch immer weiterlebt? Jap, im Iran! Da heißt es noch heute: "Almani bezan ... Madrese irad migireh", bitte den Schnitt "im deutschen Stil, sonst gibt's Ärger in der Schule". Moment, kurz Kätzle streicheln. Maunz, maunz ... na, wo ist denn dein Bruder? Mara ist die Mutige von beiden, keine Scheu vor Fremden, fordernd, was Käseleckerlis betrifft. Synthes dagegen ist zurückhaltend, meistens liegt er im Büro seines Chefs im Regal und kuschelt sich in alte "Konkret"-Ausgaben. Na du, willste mal rauskommen?
Gute, witzige, tragische, jedenfalls sehr lesenswerte Geschichten haben wir 2024 gemacht: die Interviews, die die Schüler:innen des Kontext-Projekts mit der Bismarck-Schule in Stuttgart-Feuerbach geführt haben; der Artikel zum ersten fertigen Lichtauge auf der Stuttgart-21-Baustelle (Stuttgart 21 ist dieses Jahr 30 geworden!); die über den Immobilienmann Christoph Gröner, den unser Autor Florian Kaufmann mit zahlreichen Artikel von der geldwerten Überheblichkeit ("Wenn Sie 215 Millionen haben und schmeißen das Geld zum Fenster raus, und dann kommt's zur Tür wieder herein!") bis in die drohende Insolvenz begleitete; die über das Treffen von Baden-Württembergs CDU-Chef Manuel Hagel mit dem österreichischen Skandal-Bubi Sebastian Kurz; die über die gesundheitsgefährdenden Ewigkeitschemikalien, die die Firma Solvay jeden Tag in den Neckar pumpt; oder die über Ali Y. aus dem Libanon, der seit vielen Jahren in Deutschland lebt und arbeitet und darunter leidet, dass kaum einer mit ihm über Gaza sprechen möchte.
Abschiede und Neuanfänge
Wir haben 2024 auch einige Male Abschied nehmen müssen: Edzard Reuter, einstmals Vorstandsvorsitzender bei Daimler, dann geschätztes Mitglied des Kontext-Beirats und Freund des Kollegen Freudenreich ist gestorben. Die Reportage zur Herrenfußball-Europameisterschaft, die auch in Stuttgart stattfand, war eine der letzten Geschichten, die unsere sehr begabte Volontärin Franziska Mayer für uns geschrieben hat. Zuletzt ging nun Ende Dezember unser Fotograf Jo E. Röttgers, der die Kontext:Wochenzeitung von Anfang an mit seiner Bildsprache geprägt hat, mit 70 Jahren in Rente. Der Weggang dieses so verwurzelten Mitglieds unserer Redaktion schmerzt.
Aber selbstverständlich geht es weiter. Als zweiten Fotografen neben unserem Jens Volle wird Julian Rettig im kommenden Jahr unser Team verstärken, da freuen wir uns drauf. Und: Wir konnten Korbinian Strohhuber im September als neuen Redakteur gewinnen, der extra aus Bayern in die Landeshauptstadt gezogen ist und sich für uns um die Stuttgarter Stadtpolitik kümmert. Auch der Vorstand des Vereins, der die Kontext:Wochenzeitung trägt, hat sich vergrößert: um Frank Böhriger, der im November als neues Mitglied gewählt wurde. Personell war doch einiges los bei Kontext im Jahr 2024. Und auch wenn Klickzahlen nicht der entscheindende Maßstab bei Kontext sind, freut uns, dass wir die Zugriffe im Vergleich zu 2023 um über 15 Prozent steigern konnten.
Dafür steckte der gemeinnützige Journalismus dieses Jahr eine echte Schlappe ein. Zwar hatte die Ampel-Regierung im Koalitionsvertrag zugesagt, den "Gemeinnützigen" rechtssicher zu machen, damit Medien wie Kontext nicht dauernd bibbern müssen, ob ihnen die Gemeinnützigkeit entzogen wird. Passiert ist das nicht, trotz nachhaltiger Bemühung durch das Forum Gemeinnütziger Journalismus.
Der Kontext-Supercoup
Gut wäre diese Rechtssicherheit auch für diejenigen, die neue Medienprojekte gründen wollen. Was notwendig wäre, denn dort, wo Lokaljournalismus verschwindet, wird die AfD stärker, wie unser Autor Maxim Flößer im März dieses Jahres in einer Studie nachgezeichnet hat. Sie fand großen Widerhall und Einschlag, selbst Christian Lindner zitierte daraus, bevor er die Ampel platzen ließ und sich und seine Partei ins Abseits schoss. In Oberschwaben, mit Journalismus versorgt von der "Schwäbischen Zeitung", braucht es nicht mal Zeitungsschwund, um die AfD zu protegieren. Dort hat die neue Verlagsspitze AfD-Wähler:innen als neue Leserschaft entdeckt. Das Gute: Mittlerweile haben diverse Redakteur:innen aus Protest das Schiff verlassen – und es entstehen neue Medienprojekte. "Kolumna" in Lindau ist ein Beispiel dafür.
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Philipp Horn
vor 3 Wochen