KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Rudersberg nach der Katastrophe

Völlig surreal

Rudersberg nach der Katastrophe: Völlig surreal
|

 Fotos: Jens Volle 

|

Datum:

In der Nacht zum 3. Juni ging in Rudersberg die Welt unter. Durch den Ort im Rems-Murr-Kreis schwammen Autos, Sofas und Kühlschränke, Feuerwehrleute standen brusttief im Wasser. Kontext-Autorin Susanne Stiefel war jetzt in ihrem Heimatort, um zu sehen, wie es den Menschen geht.

"Flutverkauf" verkündet ein handgemaltes Schild an der Lagerhalle im Rudersberger Norden. In diesem Provisorium steht alles, was aus dem überfluteten Edeka am anderen Ende des Ortes noch gerettet werden konnte. "Wir helfen, dass es weitergeht", sagt Marktleiterin Siegrid Höfle und das klingt fast ein wenig trotzig. Es ist der erste Tag der Öffnung, mehr als einen Monat nach der Katastrophe, viele stehen schon an den Regalen, wollen einkaufen, aber auch reden, suchen ein Stück Normalität. Es spricht sich schnell herum, wenn wieder etwas funktioniert in einem Ort, in dem in einer Nacht nicht nur Häuser und Brücken in den Fluten untergegangen sind.

Rudersberg hat das Starkregenereignis, wie es im Amtsdeutsch heißt, am 3. Juni besonders brutal erwischt. "Es ist ein Wunder, dass keine Menschenleben zu beklagen sind", sagt Feuerwehrkommandant Steffen Knödler in seinem zerstörten Hauptquartier. "Wir rechnen mit 120 Millionen Euro Schaden", berichtet Bürgermeister Raimon Ahrens in seinem Rathaus, das noch in der Nacht zur Einsatzzentrale wurde. "Helfen ist einfacher als Hilfe annehmen", sagt Tanja Pfau, ehrenamtliche Helferin, die schon am Tag nach der Katastrophe ins Rathaus gestürmt war, um anzupacken. Rudersberg ist heute ein anderer Ort.

Rudersberg am Rand des Welzheimer Waldes, 11.000 Einwohner, Heimat des Kinomoguls Heinz Lochmann, Hauptsitz der Fensterfirma Weru, was für Willy Epensteiner Rudersberg steht, und bekannt für erschreckend hohe Wahlergebnisse für die Rechten - seien es Republikaner in den 1980ern oder die AfD heute. Hier bin ich geboren, zur Schule gegangen und seit dem Studium nur gewesen, um die Eltern zu besuchen. Zu viel braun. Hat sich der Ort verändert wie der Verlauf der Wieslauf in dieser Nacht? Bringt eine Katastrophe eher die guten oder die schlechten Seiten der Menschen zum Vorschein?

Katastrophen sind Futter für Gerüchte

Es ist ein schöner Tag Anfang Juli, die Sonne scheint aufs beschauliche Wieslauftal, auf den Straßen liegt nur noch ein leicht bräunlicher Schimmer und auf den ersten Blick scheint die Welt hier in Ordnung. Auf den zweiten Blick sieht man die Scheiben, hinter denen keine Waren mehr stehen. Das Schlechtbacher Schulhaus, in dem keine Kinder mehr lernen. Es hat etwas Unwirkliches, an einem sonnigen Tag in dieses Katastrophengebiet im Rems-Murr-Kreis zu fahren.

"Völlig surreal" – das sagt auch Steffen Knödler, wenn er über die Flut spricht. Der ehrenamtliche Feuerwehrkommandant, 44 Jahre alt und im richtigen Leben Lüftungs- und Klimatechniker, sagt das oft, fast ungläubig, immer noch, fünf Wochen nach der Katastrophe. Wie schnell das Wasser kam, "innerhalb von 20 Sekunden", die Einsatzzentrale zerstörte, wie er den Einsatzleitwagen retten musste an einen höher gelegenen Ort, um überhaupt noch Kontakt zu seinen Mitstreiter:innen halten zu können. Völlig surreal. Wie seine Kamerad:innen selbst zu kämpfen hatten, sich in Sicherheit bringen mussten. Wie der frühere Kommandant abgetrieben wurde, während Autos und Kühlschränke an ihm vorbeischossen und die Kette aus Kamerad:innen ihn nur knapp retten konnte. Wie der Bürgermeister, der zum Rückhaltebecken geeilt war, von den Wassermassen im Schleusenhäuschen eingeschlossen war und erst spät in der Nacht herausgeholt werden konnte. Völlig surreal.

Vor dem Feuerwehrhaus wölbt sich ein wolkenloser Himmel über zerstörten Autos. Drinnen ist ein Putztrupp damit beschäftigt, das vom Wasser überflutete Gebäude zu sanieren. Und ein erschütterter Feuerwehrmann berichtet fassungslos von dieser Nacht, in der er über Leben und Tod entscheiden sollte. Unzählige Anrufe, aber fünf davon mit der Ansage: Personen in Gefahr. Und nur einer, der entscheiden musste, wohin zuerst. Als er nach 30-stündigem Einsatz in seine Wohnung im Rudersberger Teilort Mannenberg zurückkehrte, stellte er fest, dass der Regen hier keine Spuren hinterlassen hatte. In ihm schon.

"Die Zündschnur ist kürzer seitdem"

Katastrophen sind Futter für Gerüchte. Den Ortsteil Klaffenbach hatte die Wieslauf am heftigsten erwischt, eine Scheune mitgerissen, Autos durch den Ort gespült. Auch hier wird längst aufgeräumt. Doch die Macht der Flut ist noch am meterhohen Wall der Zerstörung abzulesen. Entwurzelte Bäume haben sie vor dem Ortsrand aufgetürmt, dazwischen einen Hasenstall, Gartenschläuche und Kanister, eine ganze Brücke gar, die Igelsbachbrücke. Man erzählt sich, in Klaffenbach hätten Kühe in vier Metern Höhe in den Bäumen gehangen. Man erzählt sich, Ausländer und Geflüchtete hätten sich am Tag danach zum Plündern versammelt. Das angebliche Beweisfoto in den sozialen Medien zeigte die Mitarbeiter einer Sanierungsfirma, die sich zur Mittagszeit erschöpft von den Aufräumarbeiten erholten. Doch da war das Gerücht schon nicht mehr einzufangen. Wenn Gewissheiten ins Schwimmen geraten, haben Vorurteile Konjunktur.

"Die Zündschnur ist kürzer seitdem", stellt Werner Hinderer auch bei sich fest. Seine Metzgerei gehört zu Rudersberg wie die Burg Waldenstein, seit 1780 verkaufen die Hinderers hier Wurst und Fleisch, inzwischen in siebter Generation. Seine Schinkenwurst in der Dose hat Fans bis nach Italien. Die Etiketten meiner Lieblingswurst hat Dorothee Hinderer später am anderen Ortsende gefunden. Das war, nachdem die Wassermassen die Ladentür eingedrückt, die Einrichtung zerstört und die Waren durch ganz Rudersberg gespült hatten.

"Wir machen wieder auf!"  posteten die Hinderers schon nach wenigen Tagen. Das haben viele im Ort als hoffnungsvolles Signal gesehen: Nicht aufgeben lautete die Devise.

Werner Hinderer hat sich verspätet, er war an diesem Morgen wegen einer neuen Ladeneinrichtung unterwegs, November wollen sie wieder öffnen, bis Weihnachten ihren Laden wieder flott haben. Zum Glück ist er versichert, er kennt aber einige Nachbarn, die ihre Versicherung gekündigt haben, als das Rückhaltebecken fertig gebaut war.

"Hier oben saßen wir und haben zugeschaut, wie Sofas und Autos vorbeischwammen", erzählt Hinderer und zeigt vom Wohnzimmer auf den Garten, öffnet die Terrassentür zu einer Insel voller Pflanzen. "Das Geräusch, wenn Autos auf die Hauswand prallen, immer und immer wieder in dieser Nacht, das werde ich nicht vergessen", sagt seine Frau. Genauso wenig wie das ältere Paar, das später im Auto vorgefahren ist und neugierig im Müll rumgestochert hat. Dorothee Hinderer ist eine resolute Frau, klar, dass sie den Katastrophentouristen die Meinung gegeigt hat. "Wenn Routine und Normalität untergehen, dann kommt das Gute und das Schlechte in den Menschen zum Vorschein", sagt Werner Hinderer. Er sitzt im Kirchengemeinderat, ein Alltagsphilosoph mit Humor, und hat sich jetzt mit anderen Unternehmern zwecks Unterstützung zusammengeschlossen.

Wenn Routine und Alltag ins Schwimmen geraten

Mitten im Aufräumen, als die Arbeiter:innen der Sanierungsfirma den Boden aufschlugen, die Decken reinigten und die Trockenmaschinen anwarfen, stand plötzlich der Zoll in seinem Verkaufsraum, zehn Mann und Frau, bewaffnet, um nach Schwarzarbeitern zu fahnden. Zumindest unsensibel fand Hinderer das und ist laut geworden. Soviel zur kürzeren Zündschnur.

Als das Wasser kam, hat Tanja Pfau, 37 Jahre alt, Mutter eines neujährigen Sohnes, verheiratet mit einem Elektriker, gerettet, was im eigenen Keller zu retten war. Sie hat mit der Wut und der eigenen Angst gekämpft, ihren Sohn beruhigt, als das Licht ausfiel, der Papa wird’s schon richten, und ist am nächsten Tag aufs Rathaus gegenüber gestürmt, um zu helfen. "Ich bin eine Macherin", sagt Tanja Pfau, die beruflich Ballonfahrten organisiert. Vielleicht behält man leichter den Überblick, wenn man die Welt öfter von oben betrachtet. Die Hilfsbereitschaft der Rudersberger:innen war groß. Windeln, Klopapier, Desinfektionsmittel wurden im Rathaus abgeliefert, Tanja Pfau hat sie in ihr Auto gepackt und in "schlimme Gebiete" gefahren.

Eine Woche lang hat sie angepackt und sich nebenbei über die Idioten geärgert, die in ihrer Hochzeitskiste gestöbert haben, die in ihrem Keller untergegangen war. "Karten, persönliche Briefe, Glückwünsche: alles verschlammt, Müll, nicht mehr zu retten." Und doch wollte sie nicht, dass fremde Menschen darin herumstieren. Heute noch wird sie beim Erzählen wütend. Wut ist die Schwester der Angst. "Das waren krasse Emotionen in und nach dieser Nacht."

Wut ist die Schwester der Angst

Eine Woche lang steckte Tanja Pfau in Gummistiefeln und schlammverschmierten Klamotten. "Das erste Mal sauber war ich erst wieder als Wahlhelferin." Innerhalb einer Woche hatten die Rudersberger Wahlhelfer:innen geschult, das Wahllokal geputzt, Urnen besorgt. Am Sonntag nach der Flut saß Tanja Pfau in der Gemeindehalle und stellte fest, dass es vielen wichtiger war zu reden, als ihre Stimme abzugeben. Da hat sie kurzerhand noch die psychologische Betreuung vor dem Wahllokal organisiert.

Das war ein kleines Wunder. Das Ergebnis der Wahl allerdings eine weitere Katastrophe. 21 Prozent stimmten bei der Europawahl für die AfD (bei der Kommunalwahl trat sie hier nicht an) und machten die Rechten hinter der CDU (33 Prozent) zur zweitstärksten Kraft im Ort. Man sollte meinen, dass nach einem derartigen Ereignis, wenn die Natur zuschlägt, nicht unbedingt die Klimawandel-Leugner von der AfD gewählt würden. Aufräumen nach Katastrophen ist wichtig, schreibt mir ein Klassenkamerad, mit Verweis auf die deutsche Geschichte. Aber sollten wir nicht daraus lernen?

Der Bürgermeister ist jetzt der Geldeintreiber

Im Rathaus erinnert nichts mehr daran, dass hier eine Woche lang die schlammverschmierte Zentrale der Notfallhelfer:innen war. Auf dem Tisch im Zimmer des Bürgermeisters steht Apfelsaft, von einer Gemeinderätin in kleine Fläschchen gefüllt. Raimon Ahrens sieht man heute nicht mehr an, dass er eine Woche durchgearbeitet hat. Zumindest nicht auf den ersten Blick. Inzwischen hat er auch zwei Tage freigenommen, "für den Geburtstag meiner Frau", sagt der 34-Jährige und lacht. Seit sechs Jahren ist er Bürgermeister hier, die Katastrophe ist die größte Herausforderung in seiner Amtszeit.

Jetzt ist er der Geldeintreiber für seine Gemeinde. Er hat die Sorge, dass viele Läden im Ortskern nicht mehr aufmachen. Er weiß, dass das einen Ort verändert, leblos werden lässt. Die Fensterfirma Weru hat vor wenigen Tagen öffentlich gemacht, dass sie die zerstörten Produktionsräume nicht mehr aufbaut. Das sind 150 Arbeitsplätze, das trifft einen kleinen Ort hart. Ahrens will verhindern, dass der Buch- und der Schuhladen folgen.

Deshalb wirbt der Mann, der Beharrlichkeit gut mit Freundlichkeit kombinieren kann, bei Bund und Land unermüdlich um Geld, hat die grüne Bundesvorsitzende Ricarda Lang durch den Ort geführt, den baden-württembergischen Innenminister Thomas Strobl (CDU), den Landrat oder die Abgeordneten des Rems-Murr-Kreises. Bei einem Haushaltsvolumen von 27 Millionen Euro sind Schäden in Höhe von 120 Millionen nicht zu stemmen. Der Spendentopf der Gemeinde, gefüllt mit 400.000 Euro von Privat, Kreis und Gemeinde, kann nur in akuten Notfällen helfen. "Wir brauchen viel mehr", sagt Ahrens, "wir brauchen nicht nur die üblichen Landes-Fördertöpfe, sondern Soforthilfe."

Danketafeln beim Fest für die Helfer:innen

Daran erinnert er den Innenminister beim Fest für alle ehrenamtlichen Helfer:innen. Am vergangenen Donnerstag hat sich die "ganze Blaulichtfamilie" auf dem Rudersberger Festplatz versammelt. Wo sich nach der Flut der Müll der Gemeinde stapelte, stehen an diesem Tag Danketafeln und Bierbänke. "Danke an Oma und Opa fürs Kinderbetreuen" steht neben einem Herzchen für die tapferen Feuerwehrleute. Die rote Wurst gibt es umsonst, das Bier auch, gezapft von den Bürgermeistern des Kreises.

Innenminister Thomas Strobl wird von Landrat Richard Sigel und Bürgermeister Ahrens nachdrücklich an unbürokratische Soforthilfe erinnert. Der Herr der Fördertöpfe stolpert zunächst über Rudersdorf?, Rudersburg? Egal. "Drei Worte nur: Das Land hilft." Kein Sprint sei der Wiederaufbau, eher ein Marathon, aber das Versprechen stehe: "Wir sind an Ihrer Seite, auch wenn Katastrophendemenz einsetzt." Raimon Ahrens lächelt professionell. Er wird den Minister an seine abgezählten Worte der Hilfe erinnern.

Auf den Rand des Brunnens vor dem alten Rathaus hatte die Flut ein Auto gespült. Ein Scherzkeks hat nun ein Bobbycar oben drauf gestellt. Als Mahnmal.

Wir brauchen Sie!

Kontext steht seit 2011 für kritischen und vor allem unabhängigen Journalismus – damit sind wir eines der ältesten werbefreien und gemeinnützigen Non-Profit-Medien in Deutschland. Unsere Redaktion lebt maßgeblich von Spenden und freiwilliger finanzieller Unterstützung unserer Community. Wir wollen keine Paywall oder sonst ein Modell der bezahlten Mitgliedschaft, stattdessen gibt es jeden Mittwoch eine neue Ausgabe unserer Zeitung frei im Netz zu lesen. Weil wir unabhängigen Journalismus für ein wichtiges demokratisches Gut halten, das allen Menschen gleichermaßen zugänglich sein sollte – auch denen, die nur wenig Geld zur Verfügung haben. Eine solidarische Finanzierung unserer Arbeit ermöglichen derzeit 2.500 Spender:innen, die uns regelmäßig unterstützen. Wir laden Sie herzlich ein, dazuzugehören! Schon mit 10 Euro im Monat sind Sie dabei. Gerne können Sie auch einmalig spenden.


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


9 Kommentare verfügbar

  • Matthias
    am 23.07.2024
    Antworten
    Außer einem Katastrophen-Bericht kann ich diesem Text leider nicht viel Erhellendes entnehmen. Ich hatte angesichts der AfD-Erfolge in diese Richtung auf Hintergrunderkenntnisse gehofft.
Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!