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Bundestagswahl und Klimawandel

Erde an Politik, bitte melden!

Bundestagswahl und Klimawandel: Erde an Politik, bitte melden!
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Der Klimawandel schreitet voran und die Klimaziele sind nicht mehr einzuhalten. Die Chance, die Auswirkungen wenigstens zu begrenzen, erfordert umgehend zu handeln und die Wissenschaft endlich ernst zu nehmen.

Der neueste Bericht des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) hält als naturwissenschaftlich gesichert fest: "Es ist eindeutig, dass der Einfluss des Menschen die Atmosphäre, den Ozean und die Landflächen erwärmt hat. (...) Das Ausmaß der jüngsten Veränderungen im gesamten Klimasystem und der gegenwärtige Zustand vieler Aspekte des Klimasystems sind seit vielen Jahrhunderten bis Jahrtausenden beispiellos." Und schließlich: "Der vom Menschen verursachte Klimawandel wirkt sich bereits auf viele Wetter- und Klimaextreme in allen Regionen der Welt aus." Die Begrenzung der durchschnittlichen Erwärmung um 1,5 Grad sei wohl nicht mehr möglich, die Begrenzung auf 2 Grad sehr unwahrscheinlich, eine Erwärmung im Jahresdurchschnitt um 4 bis 6 Grad möglich, wenn nicht sogar wahrscheinlich.

Wahrscheinlich sicher richtig verstehen

Wer den IPCC-Bericht liest, muss aufmerksam hinschauen – vor allem, um die Prognosen richtig einordnen zu können. Im Unterschied zu den Tatsachen, die den anthropogenen Klimawandel belegen, bleiben daraus abgeleitete Prognosen über künftige Zustände des globalen Klimas und deren Folgen wahrscheinliche und empirisch gestützte Hypothesen. Für die Bewertung gerade der Wahrscheinlichkeitsaussagen sind sehr genaue Kriterien angegeben. Wird zum Beispiel von dem Eintreten eines Ereignisses als "wahrscheinlich" gesprochen, so ist damit die Eintrittswahrscheinlichkeit von 66 bis 100 Prozent gemeint, "sehr wahrscheinlich" umfasst den Bereich von 90 bis 100 Prozent und "praktisch sicher" den Bereich von 99 bis 100 Prozent.  (mw)

Diese Aussagen stammen aus dem kürzlich veröffentlichten ersten Teil des aktuellen sechsten IPCC-Berichts, in dem es um die naturwissenschaftlichen Grundlagen des Klimawandels geht. Es ist also nicht mehr nur sehr hochwahrscheinlich, sondern gesichert, dass der Klimawandel so fortgeschritten ist, dass die Menschen ihn nicht mehr aufhalten, geschweige denn rückgängig machen können.

Globale Aussagen bezüglich der jahresdurchschnittlichen Temperaturerhöhung in Folge des Klimawandels müssen aber weiter präzisiert werden in Richtung lokaler und regionaler Ereignisse und Wirkungen. Erst dann, wenn es möglich geworden ist, regionale Ereignisse in ein globales Modell-Szenario einzuordnen, können politische Akteure konkrete Maßnahmen vor Ort ergreifen.

Die Tatsache, dass sich der anthropogene Klimawandel in vielen Wetter- und Klima-Extremen regional auswirkt, ist in zweifacher Hinsicht ein bedeutender Erkenntnisfortschritt. Zum einen müssen ja immer regional begrenzte extreme Wetterereignisse daraufhin untersucht werden, ob sie kausal mit dem Klimawandel verbunden sind oder nicht. Und der IPCC-Bericht hält ausdrücklich fest, dass nicht alle Wetterextreme auf den Klimawandel zurückgeführt werden können; vielmehr gab und gibt es solche Extreme als natürliche Ereignisse schon immer und unabhängig vom anthropogen induzierten Klimawandel. Aber viele Extreme können eben mittlerweile erklärt werden als Folgen des Klimawandels. Dass zum Beispiel die Hochwasserkatastrophe im Ahrtal sowie in den angrenzenden Gebieten Belgiens und der Niederlande auf den Klimawandel zurückzuführen ist, sagten Klimawissenschaftler nach sorgfältiger Prüfung erst Wochen nach dieser Katastrophe – während die Medien unter Verletzung der journalistischen Sorgfaltspflicht durchgängig sofort und ohne Prüfung eine Verbindung mit dem Klimawandel behaupteten.

Zum anderen setzen solche lokalen oder regionalen Extremwetterereignisse und deren Folgen die politischen Akteure in ganz anderer Weise unter Handlungsdruck als globale und irgendwie im Abstrakten verbleibende globale Aussagen über den Klimawandel und seine Folgen. Jetzt müssen sie aktiv werden, allein schon aus dem Grund heraus, weil sie im Falle ihres Nichts-Tuns und ihres Weiterwurschtelns wie bisher ihre Wiederwahl riskieren.

Unangenehme Berichte vor der Wahl

Doch trotz des unübersehbar gestiegenen Handlungsdrucks auf die politischen Akteure und die politischen Institutionen überwiegt bei den Klimawissenschaftlern die Skepsis, ob jetzt endlich die richtigen Maßnahmen zur Bewältigung des Klimawandels ergriffen werden. Und diese Skepsis ist berechtigt. Denn sowohl die Regierungen von China und von Australien wie auch Armin Laschet als Kanzlerkandidat von CDU/CSU verkündeten sofort nach der Veröffentlichung der Zusammenfassung, dass sie ihre Kohle-Politik nicht zu ändern gedächten – trotz der Hochwasserkatastrophe Mitte Juli. Dem schloss sich einige Tage später auch der Kanzler-Kandidat der SPD, Olaf Scholz an. Und nachdem auf einer gemeinsamen Pressekonferenz Bundesumweltministerin Svenja Schulze (SPD) und Bundesforschungsministerin Anja Karliczek (CDU) sich und die Bundesrepublik feierten in vermeintlicher Vorreiterrolle für die Umsetzung der gesetzlich vereinbarten Klimaschutzziele sickerte einige wenige Tage später durch, dass die im Klimaschutzgesetz festgeschriebenen Reduktionsziele der CO2-Emissionen krachend verfehlt werden: So werden die CO2-Emissionen bis 2030 wohl nur um 49 Prozent verringert statt um 65 Prozent; und statt der – wie gesagt: gesetzlich festgeschriebenen – 88 Prozent CO2-Emissionsreduktion bis 2040 werden nur 67 Prozent Reduktion erreicht. Das im Klimaschutzgesetz festgeschriebene Ziel, die Bundesrepublik solle bis 2045 klimaneutral sein, kann also nicht mehr erreicht werden – so viel zur Vorreiter-Rolle. Und die beiden Ministerinnen wussten sicherlich von diesen Zahlen, denn sie entstammen einem Bericht des Bundesumweltministeriums, der schon im März dieses Jahres dem Bundestag hätte zugeleitet werden sollen – was aber bis dato nicht erfolgte. Klar – die Bundestagswahlen stehen ja an und da passen solche desaströsen Zahlen nicht.

Apropos Bundestagswahlen: Kein klimapolitischer Teil der Wahlprogramme der im Bundestag vertretenen Parteien kann die im Klimaschutzgesetz formulierten Ziele auch nur annähernd erreichen, analysierte kürzlich das Deutsche Institut für Wirtschaft. Die Skepsis, vielleicht sogar der Pessimismus der Wissenschaftler bezüglich der sachangemessenen Handlungsbereitschaft politischer Akteure ist offenkundig mehr als berechtigt.

Die Hauptaussagen des IPPC-Berichts sollen ja wohlabgewogene und verständliche Zusammenfassungen für politische Akteure und Entscheidungsträger sein. Sie sollen vorab orientieren auf Probleme, die dringend politisch und gesellschaftlich bearbeitet werden müssen – wenn politisch verantwortliche Akteure und Entscheiderinnen überhaupt noch Klimapolitik betreiben möchten. In den in dieser Hinsicht wohlabgewogenen Formulierungen enthält der IPPC-Bericht noch eine besondere und vor allem ernüchternde Herausforderung: "Viele Veränderungen aufgrund vergangener und künftiger Treibhausgasemissionen sind über Jahrhunderte bis Jahrtausende unumkehrbar, insbesondere Veränderungen des Ozeans, von Eisschilden und des globalen Meeresspiegels."

Dieser Satz formuliert keine Hypothese, keine künftig zu erwartenden Veränderungen, sondern er konstatiert einen vorliegenden Sachverhalt: In relevanten Bereichen hat der Klimawandel schon stattgefunden, so dass er auch bei konsequentester Klimapolitik nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Die Prozesse der veränderten Strömungsdynamik im Ozean (etwa die Abschwächung des Golfstroms), das Abtauen der Eisschilde und der Permafrostböden sowie der Anstieg des Meeresspiegels werden auch dann weiterhin stattfinden, wenn globale Klimaneutralität jetzt, in unserer Gegenwart erreicht würde.

Natur wehrt sich nicht, sie reagiert natürlich

Diese Prozesse des Klimawandels wurden durch die auf Kohle, Eisen und Stahl basierende Produktionsweise mit Beginn des 19. Jahrhunderts ausgelöst und bis heute beschleunigt – seit 1800 finden sich auch erste Publikationen zur Emission von CO2. Aber erst zwischen dem fünften IPCC-Bericht 2013/14 und dem jetzigen sechsten wurde die sich selbst aufschaukelnde, selbstverstärkende Dynamik dieser Prozesse richtig erkannt, modelliert und in ihren Konsequenzen auf die Menschheit deutlich gemacht. Und somit wurde klar, dass diese Prozesse eine Eigendynamik gewonnen haben, die in ihrem Ablaufen nicht mehr auf anthropogen induzierte Treibhausgasse angewiesen sind. Sie finden statt und werden weiterhin stattfinden.

Es wäre nun falsch, daraus den Schluss zu ziehen, wir hätten es mit Natur-Prozessen zu tun, ausgedrückt etwa in dem Bild: "Die Natur schlägt zurück". Nein, wir haben es mit Prozessen zu tun, die in einer gesellschaftlich überformten und modifizierten Natur stattfinden. Die katastrophalen Brände in Sibirien – einer weitgehend unbewohnten Region, weswegen auch keine Löschversuche unternommen werden – mit der Freisetzung ungeheurer Mengen von Kohlendioxid, Methan und Lachgas verweisen zurück auf die verfehlte Landwirtschaftspolitik der Sowjetunion in den 1950er-Jahren, die damit Sibirien für Getreideanbau nutzen wollte. Ganze Wälder wurden gefällt und tiefe Eingriffe in die sibirischen Flusssysteme unternommen. Nach anfänglich guten Erträgen sanken die Erträge in Folge der Auslaugung der Böden so stark, dass das Projekt aufgegeben wurde. Sibirien aber war durch diese Eingriffe verändert.

Oder das verheerende "Dixie-Fire" in Kalifornien wie auch das Camp-Fire 2018 in Kalifornien – dort wurde die Stadt Paradise zum größten Teil vernichtet und 86 Menschen fielen dem Feuer zum Opfer: Beide Feuer wurden wohl ausgelöst durch Funkenflug von einer Stromleitung des insgesamt völlig maroden Stromsystems in den USA in einer Periode extremer Hitze und Trockenheit verbunden mit starken Winden. Auch hier eine Kombination sozialer und naturaler Verhältnisse, die die katastrophalen Ereignisse erst ermöglichten. Schließlich: Betrachtet man sich eine geographische oder geologische Karte der Ahrschleife im Landkreis Ahrweiler, dann sieht man sofort, dass es sich um ein Überschwemmungsgebiet handelt. Und historisch sind dort eine Reihe von Überschwemmungen dokumentiert mit ähnlich hohen Hochwasserscheiteln – das Risiko, ein solches Gebiet zu besiedeln, war also eigentlich bekannt. Dazu kommen als verstärkende Faktoren für die Katastrophe im Juli die Bach- und Flussbegradigungen, die Erhöhung der Ablaufgeschwindigkeit des Regenwassers von den umgebenden Weinbergen durch Ablaufrinnen und vieles mehr – so landschaftlich schön auch das Ahrtal anmutet, es ist beileibe keine Natur (mehr), sondern eben gesellschaftlich überformte und gestaltete Natur.

In der Natur gibt es keine Katastrophen und die vielen dokumentierten, vielfach ja gravierenderen Prozesse des Klimawandels sind natürlich erklärbar. Wenn wir den gegenwärtigen Prozess eines Klimawandels thematisieren als "Naturkatastrophe" und aufgefordert werden, "das Klima" und "die Natur" zu retten, begehen wir schlichtweg einen Kategorienfehler, der ein wirklich problemlösendes Handeln im Zusammenhang des anthropogenen Klimawandels behindert, vielleicht sogar eher verhindert. Der Klimawandel verursacht Sozialkatastrophen. Erst so wird die Tiefe und Tragweite der "großen Transformation", die der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) 2011 als "Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation" einforderte, als konkreter, das Gemeinwohl in Freiheit und Gerechtigkeit neu zu entwickelnder Handlungsauftrag für alle politischen und gesellschaftlichen Akteure bearbeitbar.


Welche Möglichkeiten es für einen neuen Gesellschaftsvertrag gibt, wird Michael Weingarten in zwei Wochen in Kontext-Ausgabe 548 erläutern.


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5 Kommentare verfügbar

  • D. Hartmann
    am 21.09.2021
    Antworten
    @ Real Ist:
    Einfach mal die vorletzte These unten in dieser Sammlung lesen und "genießen":
    Dr. Nils-Axel Morner: “If you go around the globe, you find no sea level rise anywhere.”

    So, so. Wie meinen? Alle anderen haben also falsch gemessen und messen immer noch falsch. Erinnert mich…
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