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European Green Deal

Bruchlandung

European Green Deal: Bruchlandung
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Der Zeitgeist war grün, als Ursula von der Leyen Ende 2019 ihre ambitionierten Vorstellungen von Europa als erstem klimaneutralen Kontinent präsentierte. Im EU-Wahlkampf dieser Tage reden Bürgerliche und Liberale die ehrgeizigen Pläne von damals mutwillig schlecht.

Wieder Jahrhunderthochwasser, diesmal in Bayern und Baden-Württemberg, wieder Evakuierungen, wieder geschockte Anwohner:innen, gesperrte Autobahnen, überflutete Gleise. Und wieder schale Betroffenheitslyrik, allen voran von Bayerns CSU-Ministerpräsident Markus Söder ("Wir hoffen, dass wir die nächsten Tage überstehen") oder Manuel Hagel, Vorsitzender der CDU-Baden-Württemberg ("Ihr macht einen gigantischen Job, passt auf Euch auf"). Und einmal mehr die Botschaft einschlägiger Wissenschaftler:innen, dass die Ursache für den Extremregen der vergangenen Tage im menschengemachten Klimawandel zu suchen ist.

Aber anders als vor Ausbruch der Corona-Pandemie und vor Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine kommen Nachrichten über Wetterextreme selbst im interessierten Teil der Öffentlichkeit nur noch weichgespült an. Zu verlockend sind die Wohlfühlversprechen von Union und FDP und vieler ihrer politischen Freund:innen EU-weit, die den Leuten weismachen wollen, dem Klimawandel sei auch ohne deutlich spürbare Eingriffe in Haushaltskassen und Lebensstile beizukommen.

Vor allem in der Bundesrepublik hat Grünen-Bashing seit Monaten Hochkonjunktur, und ökologische Themen werden auf diese Weise empfindlich mitgetroffen. "Grüne Besserwisser und Klugscheißer gehen den Menschen auf die Nerven", posaunt CSU-Generalsekretär Martin Huber ins Publikum – keineswegs ohne Resonanz. Im Bedeutungsranking vor dem Urnengang am 9. Juni wird Klimaschutz nur noch von 14 Prozent der Wahlberechtigten als besonders wichtig eingestuft, neun Punkte weniger als vor fünf Jahren. Vielleicht öffnet der massive Dauerregen dem einen oder der anderen ja noch die Augen, insgesamt aber werden mittlerweile Friedenssicherung, Wirtschaftskrise und Zuwanderung bei Umfragen in dieser Reihenfolge als die wichtigeren Themen genannt.

Vor fünf Jahren war die EVP noch für Klimaschutz

Das war deutlich anders, als Ursula von der Leyen (CDU) 2019 knapp, aber doch mit 383 bei 374 notwendigen Stimmen zur ersten Frau an die Spitze der EU-Kommission gewählt wurde, von konservativen und liberalen Abgeordneten und einigen europäischen Sozialdemokrat:innen. Nur elf Tage später präsentierte sie ihren von langer Hand vorbereiteten "European Green Deal" als "Europas Mondlandung". "Nein, kleiner macht sie es nicht", schrieb damals der "Spiegel". In der Folge initiierte die frühere Bundesministerin (erst Familie, danach Arbeit und schließlich Verteidigung) die Vorhaben konsequent im parteipolitisch gemischten Doppel, mit dem durchsetzungsstarken niederländischen Sozialdemokraten Frans Timmermans ("Das wird kein à-la-carte Menü") immer an ihrer Seite. Knapp 50 Gesetze hätten die beiden gemeinsam "durchgepeitscht", rüffelte die FAZ, eine "wilde Mischung aus Ordnungspolitik und kleinteiligem Ordnungsrecht aus Verboten und Detailvorgaben".

Aber eine, die sich sehen lassen konnte. Sie reichte vom Emissionshandel bis hin zum Verbot der Neuzulassung ab 2035 von Fahrzeugen, deren Antrieb CO2 ausstößt, hierzulande so fälschlich wie vorsätzlich verkürzt zum "Verbrenner-Aus", vor allem von den eigenen Parteifreund:innen der Präsidentin. Oder: von einer Renovierungswelle im Gebäudebereich bis hin zum Umbau der Energieversorgung. In einem Klimagesetz ist die Verpflichtung festgeschrieben, dass die Netto-Treibhausgasemissionen in der EU bis 2030 um mindestens 55 Prozent gegenüber 1990 sinken sollte. Das Programm "Fit for 55" regelt wichtige Details: Bis 2050 will der Kontinent als erster klimaneutral sein.

Die Pläne sind – was vor allem CDU und CSU heute vergessen machen wollen – keineswegs einsame Ideen des Duos von der Leyen/Timmermanns, sondern ein klarer Auftrag der europäischen Staats- und Regierungschefs. "Der Übergang zu Klimaneutralität wird beträchtliche Chancen mit sich bringen, etwa im Hinblick auf das Potenzial für Wirtschaftswachstum, neue Geschäftsmodelle und Märkte, neue Arbeitsplätze und technologische Entwicklung", heißt es im Dezember 2019 in einer gemeinsamen Erklärung.

Seit Timmermanns Abgang aus Brüssel im vergangenen Herbst versuchen Vertreter:innen der Europäischen Volksparteien (EVP) ihm jedoch zentrale Eckpunkte des Green Deal als Fehler auszulegen respektive anzuhängen. Wie andere Linke habe er die Belange der Landwirte vernachlässigt sowie Wirtschaft, Arbeitsplätze oder soziale Dimension nicht im Blick gehabt, klagt EVP-Fraktionschef Manfred Weber (CSU). Europa müsse schnell lernen, nicht in Regulatorik zu denken, "wie es Timmermans und andere Linke in den letzten Jahren praktiziert haben, sondern in Businessmodellen". Noch so ein falsches Versprechen: Union und FDP wollen die Wählerschaft glauben machen, es sei privates Kapital in ausreichendem Maße zu mobilisieren. Sie fordern dazu auf, der Privatwirtschaft zu vertrauen und der wiederum Lust aufs Geldverdienen zu machen. Als hätten nicht der Markt und sein Versagen die bisher allzu bescheidenen Erfolge hin zum Pariser 1,5-Grad-Ziel vorrangig mitzuverantworten.

Selbst Coca-Cola ist schlauer

Wie verwässert und mutwillig falsch dargestellt wesentliche Teile der Pläne inzwischen sind, zeigt exemplarisch das Schicksal des Renaturierungsgesetzes. Das sollte und könnte mithelfen, genau solche Überschwemmungen zu verhindern, wie sie jetzt viele um Hab und Gut bringen und manche um ihr Leben. Alle Mitgliedstaaten müssen danach bis 2030 mindestens 30 Prozent der natürlichen Lebensräume von schlechtem in wieder guten Zustand versetzen, darunter Wälder, Grünland, Moore, Feuchtgebiete, Flusslandschaften, Seen oder Meere. Denn unstrittig sind rund 80 Prozent dieser natürlichen Lebensräume in Europa in schlechtem oder sogar sehr schlechtem Zustand. Im Kampf gegen die Erderwärmung führt auch an diesem Gesetz – eigentlich – nichts vorbei, denn es fußt auf Verträgen der UN-Biodiversitätskonferenz von 2022 in Montreal.

Bei der Abstimmung im Parlament unterlag der Mitte-Rechts-Block. Durch sind die Regelungen aber trotzdem nicht, weil einige Regierungschefs im EU-Wahlkampf populistisch auftrumpfen, was ihnen allerdings Druck von äußerst ungewöhnlicher Seite einbringt. Dutzende Unternehmen und Unternehmensverbände, darunter Coca-Cola oder H&M, appellieren an die belgische Ratpräsidentschaft, die Verabschiedung des Gesetzes sicherzustellen. Und sie widersprechen den Kritiker:innen: "Die großflächige Wiederherstellung von Lebensräumen, ihren Arten und den vielfältigen Ökosystemleistungen, von denen wir alle profitieren, wird letztlich dazu beitragen, die Klimakrise zu bewältigen, unsere langfristige Nahrungsmittel- und Wassersicherheit zu gewährleisten sowie Arbeitsplätze zu schützen und neue zu schaffen." Mehr als die Hälfte der Weltwirtschaft sei in hohem oder mittlerem Maße von der Natur abhängig, Unternehmen seien angewiesen auf die natürlichen Ressourcen und die Leistungen des Ökosystems. Wenn der EU-Rat nicht handele, werde dies zu kostspieligen Unterbrechungen der Lieferketten, geringerer Produktivität und höheren Betriebskosten führen.

Ob Appelle wie dieser etwas bewirken, bleibt abzuwarten. Denn unter den Konservativen kursieren schon Eckpunkte für die Jahre nach der Europawahl und für den Finanzierungsrahmen für die gesamte EU zwischen 2024 und 2028. Aus der Mond- droht eine Bruchladung zu werden. Der "Green Deal" wird dabei überhaupt nicht mehr erwähnt. Das aber wollen nur ganz wenige Bürgerliche wie der österreichische Parlamentsvizepräsident Othmar Karas (ÖVP), der mit seiner EVP gebrochen hat, und viele Grüne sich nicht bieten lassen. Michael Bloss, ihr Abgeordneter aus Stuttgart und klimapolitischer Sprecher seiner Fraktion im Europaparlament, befürchtet, dass dem Green Deal als Herzstück des europäischen Klimaschutzes "gerade das Blut abgeschnürt" wird.

Mit einem eigenen Strategiepapier haben der Vater von zwei Töchtern aus Feuerbach und zwei Kolleg:innen aus Belgien und den Niederlanden die Debatte über einen "Industrie-Deal für Europa" eröffnet. Denn außer den Green Deal abschaffen zu wollen, so Bloss, hätten Konservative programmatisch wenig zu bieten, um die Industrie zu unterstützen. Es müsse jetzt aber um den Wettbewerb der besten Ideen gehen und darum, "den Green Deal um eine industrielle Dimension zu erweitern, die sicherstellt, dass wir von den Klimaschutzmaßnahmen auch wirtschaftlich profitieren".

Wieder Hochwasser, wieder Worthülsen

Zum Hochwasser in Baden-Württemberg und Bayern liegen nun erste Bilanzen vor. Sie fallen erschreckend aus. Wieder Tote, wieder Schäden in Millionenhöhe, wieder Rufe einer Pflichtversicherung für Elementarschäden, die die FDP bisher hartnäckig wegen Belastung für Hauseigentümer verhindert, wieder Ernteausfälle in erst noch zu ermittelndem Ausmaß, wie Umweltministerin Thekla Walker (Grüne) erläutert. Sie schlägt den Bogen zum Renaturierungsgesetz schon allein deshalb, weil Baden-Württemberg bereits seit 1988 und der Einführung des damals höchstumstrittenen Wasserentnahmeentgelts ("Wasserpfennig"), viel Geld in Dämme, Regenrückhaltebecken und kommunale Starkregenkonzepte stecken konnte, viel mehr als andere Bundesländern.

Aber nicht genug, sagt nicht nur Walker. Sogar Markus Söder hat mitten in den Überschwemmungsgebieten angesichts der Wassermassen eine bedeutsame Erkenntnis gelassen ausgesprochen: "Es ist noch nicht vorbei, es geht so langsam erst richtig los." Jetzt müssten diese weisen Worte nur noch weniger auf die Aufräumungsarbeiten gemünzt sein, sondern auf den ernsthaften Kampf gegen die Erderwärmung. Und es müsste auf diese Weise das Thema endlich runter von der parteipolitischen Kampfagenda, weil es gar kein grünes ist, sondern eines, das alle angeht. Ob die Botschaft diesmal endlich ankommt?

The German Vote

Einigungsverfahren auf EU-Ebene sind komplex. Etabliert hat sich der sogenannte Trilog als informeller Verständigungsversuch zwischen der Kommission, den Vertreter:innen im Rat, also den Regierungschef:innen, und dem Parlament. Ziel des Trilogs ist eine vorläufige Einigung über einen Gesetzesvorschlag. Diese vorläufige Einigung muss dann von jedem der drei Organe förmlich angenommen werden. Und da kommt die FDP ins Spiel für das neue System des "German Vote", das bedeutet: Auf Deutschland ist kein Verlass mehr. Im Endspurt vor der EU-Wahl am 9. Juni hingen mehr als ein Dutzend Vorhaben am seidenen Faden, weil die Liberalen nach den Trilog-Einigungen plötzlich zurückzogen und von ihren Ampelpartnern SPD und Grüne auf EU-Ebene Enthaltungen verlangten. Und die wirken wie Nein-Stimmen zur Zwangsarbeits- oder Verpackungsverordnung, zu CO2-Flottengrenzwerten für LKW, zum Geldwäschegesetz oder zur Lieferkettenrichtlinie.

Die Allzweck-Keule, die beim Thema "Green Deal" heftig geschwungen wird, heißt Bürokratie. Regeln und Pflichten werden undifferenziert in einen Sack gesteckt, um populistisch darauf herumzuprügeln. Ganz so, als wäre es nicht dringend geboten, genau hinzuschauen, wenn viele Milliarden Euro aus den Mitgliedsstaaten in alle nur denkbaren Projekte gesteckt werden. Angefeuert werden die Liberalen von interessierten Kreisen. "Liebe FDP, pfeif auf die Kritik am German Vote", schreibt das "Handelsblatt". Mittlerweile wird die Bundesregierung als unzuverlässig eingeschätzt, was allerdings bei anderen neue Gestaltungskräfte weckt: Neue Regelungen gegen Scheinselbstständigkeit fanden ebenso eine Mehrheit wie das Lieferkettengesetz – trotz der Enthaltung der Deutschen.  (jhw)


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2 Kommentare verfügbar

  • Enno
    am 10.06.2024
    Antworten
    Klimaschutz im Mund, über hohe Strompreise schweigen und den dritten Weltkrieg befürworten - die moralisierenden Grünen merken noch nicht einmal, dass bei ihnen nix zusammenpasst. Sogar bei Hochwasser können Grüne nicht mehr für Umwelt und Klima punkten. Für ihre Gründungsgeneration, Christian…
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