Ghidey, Aktivistin und Mitte 50, engagiert sich seit 2016 gegen eritreische Vereine in Deutschland, die hier aufgrund der Versammlungsfreiheit propagandistische Feste abhalten dürfen. "Junge Geflüchtete werden dadurch retraumatisiert, die sind extrem emotional", sagt sie. Neben ihr sitzt Semere Negasi am Tisch. Der 33-Jährige kam vor zehn Jahren von Eritrea nach Deutschland, er musste fliehen, denn das Verlassen des Landes ohne Ausreisevisum ist nicht erlaubt. An den Grenzen gilt für eritreische Soldaten der Schießbefehl. Negasi wirkt gefasst, beschreibt seinen Weg nach Deutschland nüchtern.
Oft dauert der Militärdienst ein Leben lang
Mit 17 Jahren startet er seinen ersten Fluchtversuch. Er will weg aus seinem Heimatdorf, weg aus Eritrea, das nicht umsonst als "Nordkorea Afrikas" gilt. Er will dem Militärdienst entfliehen, zu dem er spätestens mit 18 Jahren verpflichtet worden wäre und der eigentlich nur anderthalb Jahre dauern soll. Doch meist wird dieser für alle Eritreer:innen verpflichtende "Nationaldienst" willkürlich auf unbestimmte Zeit verlängert. Laut Amnesty International kommt er Zwangsarbeit gleich und gilt als Hauptfluchtgrund für junge Eritreer:innen. Sein Vater, erzählt Negasi, sei 1994 zum Militär gekommen – und ist bis heute dort.
Im Februar 2008 will Semere Negasi mit zwei Freunden nach Äthiopien fliehen. Doch an der Grenze werden sie von eritreischen Soldaten festgenommen. Arme und Beine auf dem Rücken zusammengebunden liegen sie bäuchlings die ganze Nacht lang im Freien: Der "Helikopter" ist eine der gängigsten und schlimmsten Foltermethoden in Eritrea. Danach beginnt Negasis Odyssee von einem Gefängnis ins nächste. Meistens ist er etwa zwei Wochen an einem Ort, wegen extremer Überbelegung werden die Gefangenen weitertransportiert – ins nächste überbelegte Gefängnis.
Die Zustände dort fasst er tabellarisch, beinahe sachlich, zusammen: "Kein Licht, fast kein Wasser, nur einmal täglich Essen. Wir durften nicht duschen, nicht reden, sonst wurden wir direkt geschlagen." Er schläft auf dem Boden der Zelle, wer Glück hat, hat einen Karton als Untergrund. Zu essen gibt es harte, trockene Brötchen, die Negasi kaum kauen kann. Und manchmal ein kleines Glas Linsensuppe mit zwei bis drei Linsen. Der Rest ist Wasser.
Die eritreische Schriftstellerin Yirgalem Fisseha Mebrahtu, die selbst inhaftiert war in ihrem Heimatland, beschreibt es in einem ihrer Gedichte so: "Meine Zelle so groß wie ich. / Der Boden mein Bett. / … Hier drinnen die Hölle, die Tür das Maul der Bestie. / … Wenn der Teufel mich nehmen wollte und davontragen, / ich würde nicht fragen, wohin."
Nach mehreren Wochen kommt Negasi ins Armeegefängnis Adi Abeto in Asmara, der eritreischen Hauptstadt. Er presst die drei mittleren Finger seiner rechten Hand zusammen. "So", sagt er, "so lagen 800 Menschen nebeneinander." Zweimal täglich – frühmorgens und abends – mussten alle raus, um auf einer Sammelstelle aufs Klo zu gehen. Für tagsüber und nachts gab es einen einzigen großen Eimer in der Zelle. Die Temperatur zwischen 30 und 40 Grad, der Gestank unerträglich.
Regimetreue Kulturverbände als Steuereintreiber
Im Stammheimer Gerichtsgebäude liegt die Temperatur bei moderaten 22 Grad. Es ist das zweite Verfahren zu den Ausschreitungen im Römerkastell. Der Angeklagte Grmay G., ebenfalls ein Regimegegner, der gegen das eritreische "Seminar" demonstrieren wollte, soll mindestens einen Stein auf Polizeibeamt:innen geworfen haben. Die Verteidigerin des Angeklagten kommt selbst aus Eritrea und richtet nach der Verlesung der Anklage einige Worte an die Richterin und die Staatsanwältin: Das "Seminar" gehöre der diktatorischen Regierung an. "Unter dem Deckmantel der Bürgerlichkeit" werde auf diese Weise versucht, die eritreische Diaspora zu unterwandern. Sie spricht von Traumata, von der Diktatur, die "orchestriert wird durch die eritreischen Botschaften im Ausland, auch in Berlin und Frankfurt".
An Pässe, Geburtsurkunden oder andere Papiere vom Konsulat kommt nur, wer die sogenannte "Diasporasteuer" an die eritreische Regierung zahlt – zwei Prozent des Jahreseinkommens, egal ob aus Arbeit oder Sozialleistungen. Rund ein Drittel des eritreischen Staatshaushalts stammt Schätzungen zufolge aus den Geldern von Auslandseritreer:innen. Weil das Eintreiben der Diasporasteuer durch die Konsulate in Deutschland verboten ist, agieren Vertreter:innen der sogenannten Mahbere-Koms, regimetreue Vereinigungen im Gewand unpolitischer Kulturverbände, als informelle Steuereintreiber. "Viele unterstützen das Regime, weil sie dadurch Vorteile haben", sagt Aster Ghidey. Viele Anhänger:innen von Isayas Afewerki in der Diaspora sind vor dem oder während des Unabhängigkeitskrieges aus dem Land geflohen und feiern ihn heute als Nationalhelden, der die eritreische Unabhängigkeit erkämpft hat. "Der Diktator muss nur sagen: Spring! Die fragen nicht warum, sondern wie hoch."
Nach 15 Tagen in Adi Abeto wird Negasi mit anderen Gefangenen auf einen Lkw geladen. Destination: Wi'a – das berüchtigte Militärcamp und Gefängnis. Einen halben Tag sind sie unterwegs, wer vom Lkw fällt, wird erschossen. Das letzte Stück müssen sie laufen. Ohne Schuhe bei 45 Grad über Sand, Steine und Dornen. "Die Füße waren verbrannt wie bei einem Feuer", sagt Negasi. 700 Menschen werden in einer containerartigen Zelle untergebracht. Umgeben von fünf bis sechs Meter hohen Mauern, die mit Stacheldrahtzaun umspannt sind, planen Negasi und einige Mitgefangene ihre Flucht.
Jeden Morgen um zehn Uhr müssen eine Handvoll Häftlinge Wasser aus einem schmutzigen Pool holen, der außerhalb der Mauer liegt. An einem Mittwoch wird Negasi dafür ausgewählt – und sechs weitere, die den Fluchtversuch wagen würden. Am Pool zählen sie leise: "Eins, zwei, drei" – und rennen los: vier nach links, zwei in die Mitte, Negasi, so erzählt er es, alleine nach rechts. "Von allen Seiten schossen sie auf uns." Er schafft es als einziger, die anderen werden geschnappt.
Ausgehungert, dehydriert, ohne Schuhe beginnt Negasis dreitägiger Marsch durch die Hitze. Am Abend erreicht er ein muslimisches Dorf. "Ich war fast tot." Doch eine Familie nimmt ihn auf, gibt ihm Joghurt mit Zucker zum Trinken. Sowie ein Bett für die Nacht und Schuhe für den Rest seines Weges. Als er an einem Freitagabend sein Zuhause erreicht, weinen seine Mutter und seine Schwester. Zwei Wochen lang kann er sich kaum bewegen. Die Haut an seinen Fußsohlen ist offen und wund.
"Die Schlange ist in Eritrea besser als der Soldat"
Die Richterin in Stammheim nimmt einen Schluck aus ihrer Wasserflasche. Mittlerweile sind viele Stunden vergangen. Videoausschnitte von den Ausschreitungen wurden gezeigt. Als Zeug:innen sind ausschließlich Polizeibeamt:innen geladen. 39 Polizist:innen wurden bei dem Vorfall verletzt. Am Ende wird auch der zweite Angeklagte verurteilt. Drei Jahre und drei Monate. Aster Ghidey ärgert besonders, wenn Baden-Württembergs Innenminister Thomas Strobl (CDU) verlangt, mit mehr Härte durchzugreifen. "Wie wär's, wenn man sich stattdessen mit diesen jungen Menschen mal an einen Tisch setzen und fragen würde: Warum seid ihr so emotional?"
6 Kommentare verfügbar
Peter Nowak
am 30.04.2024Doch ich würde zur Situation in Eritrea unterschiedliche Quellen heranziehen. Kampfbegriffe wie "zweites Nordkorea" helfen da nicht weiter.
Auf der Rosa-Luxemburg-Konferenz der jungen Welt in…