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Eritreische Auseinandersetzungen

Fakten statt Ignoranz

Eritreische Auseinandersetzungen: Fakten statt Ignoranz
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Selbstverständlich ist inakzeptabel, wenn eritreische Männer sich gegenseitig und zwischen die Fronten geratene Polizist:innen mit präparierten Holzlatten, Axtstielen und Fäusten traktieren. Nicht selbstverständlich ist, dass sogleich als billiger Reflex vielstimmig der Ruf nach schärferen Gesetzen und unverzüglicher Ausweisung ertönt.

Politiker:innen verschiedener Coloeur überbieten sich gerade darin, die Ausschreitungen zwischen eritreischen Gruppen am vergangenen Wochenende in Stuttgart zu verurteilen. Rund 200 Eritreer griffen etwa 80 Teilnehmer:innen eines Seminars des Dachverbandes eritreischer Vereine im Stuttgarter Römerkastell an. Nur wenige Polizist:innen waren vor Ort, mussten zusätzliche Einsatzkräfte anfordern, es ging hart zur Sache, 31 Beamt:innen wurden verletzt. Anschließend überboten sich manche Politiker:innen mit teils unerfüllbaren Forderungen. Vor allem der nach einer schnellen Abschiebung der Täter.

Der Khartum-Prozess

Rückführungsabkommen mit Eritrea gibt es nicht und sind auch nicht geplant. Aber die Diktatur ist Teil des Khartum-Prozesses, der seit 2014 läuft und den Pro Asyl "eine Art Blaupause für andere Deals Europas und Deutschlands mit afrikanischen Staaten" nennt. Ziel ist laut der auf einer Konferenz der EU und der Afrikanischen Union vor sieben Jahren verabschiedeten Erklärung, die Zusammenarbeit im Migrationsbereich zwischen Herkunfts-, Transit- sowie Zielstaaten entlang der Route vom Horn von Afrika nach Europa zu fördern. Es gehe darum, "die Herausforderungen im Migrationsbereich ganzheitlich anzugehen". Finanziert würden, kritisieren Flüchtlingsorganisationen, auch Milizen, etwa im Sudan, um Fluchtrouten abzuschneiden. Stattdessen versuchten es Menschen jetzt über Tunesien, schreibt Pro Asyl, "neue Fluchtwege bedeuten jedes Mal aufs Neue mehr Gefahr und mehr Tote". Und weiter: "Der Khartum-Prozess ist nur der Anfang der schmutzigen Europa-Deals in Afrika."  (jhw)

Ein Blick auf die Statistik hilft bei der Bewertung der Lage. Laut Landesjustizministerium waren zum Stichtag 31. Juli diesen Jahres 5.694 eritreische Staatsangehörige in Baden-Württemberg im Besitz eines Aufenthaltstitels "aus völkerrechtlichen, humanitären oder politischen Gründen", 3.394 Personen als anerkannte Flüchtlinge und 1.873 wird subsidiärer Schutz gewährt, da ihnen im Heimatland Schlimmes droht. Für 241 bestehen Abschiebehindernisse, für weitere 185 ist die Abschiebung ausgesetzt. Rund 200 Menschen aus Eritrea, so heißt es weiter, seien ausreisepflichtig. Alle anderen verfügen über Aufenthaltstitel oder befinden sich noch im Asylverfahren. Aufschlussreich ist auch die grundsätzliche Auskunft zum Thema Abschiebungen: Die seien gegenwärtig "sowohl aus rechtlichen als auch aus tatsächlichen Gründen nicht möglich". Der überwältigende Teil hier lebender Eritreer habe also einen Aufenthaltsstatus, fasst Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) die in der dienstäglichen Kabinettssitzung diskutierten Zahlen zusammen.

Genauso detailliert dokumentiert sind auf einschlägigen Seiten, aber auch in klassischen Medien durch Korrespondent:innen vor Ort, Ereignisse aus der jüngsten Vergangenheit. Rund um den 30. Jahrestag der eritreischen Staatsgründung am 24. Mai 1993 und damit der Unabhängigkeit von Äthiopien werden von Botschaften und Konsulaten weltweit zahlreiche Feierlichkeiten und Feste organisiert. Nicht nur im hessischen Gießen ist es – schon zum zweiten Mal – zu Ausschreitungen gekommen, sondern ebenso in Stockholm, Seattle, Toronto und erst vor zwei Wochen in Tel Aviv mit 170 zum Teil Schwerverletzten, weil die Polizei auch scharfe Munition einsetzte; ferner in Opfikon bei Zürich.

Erkenntnisse aus Hessen und der Schweiz ignoriert

Bisher haben die sogenannten politischen Seminare im Stuttgarter Römerkastell offenbar nicht zu den Treffen gehört, die die Regimegegner verurteilen. Der Polizei zufolge haben die Veranstaltungen "in der Vergangenheit regelmäßig stattgefunden und sind im Wesentlichen völlig störungsfrei verlaufen", wie der Vizepräsident des Stuttgarter Polizeipräsidiums Carsten Höfler beteuert. Auch diesmal habe es sich um eine "für uns kleine Veranstaltungsform" gehandelt, eventuell mit ein paar wenigen Teilnehmern, die verbal provozierten. Er schickt aber auch ausgesprochen selbstsicher einen weiteren Satz hinterher: "Die Erkenntnisse aus Gießen waren uns bewusst, aber überhaupt nicht anwendbar." Eine irritierende Einschätzung, die jetzt Gegenstand der Aufarbeitung ist, unter anderem im zuständigen Ausschuss des baden-württembergischen Landtags, in dem Innenminister Thomas Strobl (CDU) Rede und Antwort stehen muss.

Den Einsatzkräften selber hat ihr oberster Dienstherr nicht eben einen Gefallen getan mit seinem Lob, es sei ein Blutbad verhindert worden: "Wenn sie das nicht so gemacht hätten und nicht vorgerückt wären, um den Mob zurückzudrängen, wäre es zu einem Zusammentreffen gekommen, und das wäre nicht gut ausgegangen (...) Es ist mir gesagt worden, dass es sehr wahrscheinlich Tote gegeben hätte." Abgesehen davon, dass Strobl zum wiederholten Male durch seine Neigung zu nachträglichen Dramatisierungen auffällt – diesmal spricht er von einem "Gewaltrausch" –, wirft das erst recht die Frage auf, wie die Vorbereitung derart schiefgehen konnte und wieso 20 Beamt:innen lediglich in der üblichen Streifendienstausstattung zum Römerkastell geschickt wurden. Immerhin sind die schweren Ausschreitungen für Florian Hummel, den Landesvorsitzenden der Jungen Union, sogar "ein Ausdruck staatlichen Kontrollverlustes".

Der deutlich genauere Blick über den Talkessel, gerade in die Nähe von Zürich, hätte sich im Vorfeld gelohnt. Dort hat der Gewaltausbruch vor etwa zwei Wochen zwischen Gegnern und Anhängern des eritreischen Regimes eine Debatte über die Möglichkeiten der Aberkennung eines Asylstatus ausgelöst. Inzwischen ist bekannt, dass 63 der Randalierer in Stuttgart eigens aus der Schweiz anreisten. Mindestens genauso unverständlich ist der ignorante Umgang mit hessischen Erkenntnissen, denn seit 10. August steht ein Brief der in Frankfurt ansässigen Deutsch-Eritreischen Gesellschaft im Netz, der ausdrücklich warnt: "Das, was wir jetzt in Gießen, Stockholm, Seattle und Toronto erlebt haben, kann morgen an anderen Orten wieder passieren."

Verbot der Seminare eher unwahrscheinlich

Die Vereinigung wird jedenfalls von Fachleuten als nicht kritisch gegenüber dem Langzeitdiktator, Staats- und Regierungschef Isayas Afewerki eingestuft und nennt selber als "unser höchstes satzungsgemäßes Ziel" ein friedliches Miteinander. Selbst ohne detaillierte Kenntnisse über die Zustände in dem auch "Nordkorea Afrikas" genannten Land hätte den Stuttgarter Verantwortlichen bei Polizei und Stadt – schon allein des Jahrestags der Unabhängigkeit wegen – die mögliche Brisanz eritreischer Treffen auffallen können. Intern wird mittlerweile sogar berichtet, dass es sehr wohl Warnungen aus dem Landeskriminalamt gegeben hat. Noch ein Punkt, der der Aufarbeitung harrt.

Inzwischen ist zumindest Hessen stärker im Fokus, etwa deshalb, weil der Stuttgarter Seminarveranstalter, der Dachverband eritreischer Vereine in der Landeshauptstadt, für kommenden Samstag ein weiteres Seminar angekündigt hat. Jetzt stehen Rufe nach einem Verbot im Raum. Die Stadt Gießen wollte im Juli diesen Weg beschreiten, wurde aber vom Verwaltungsgerichtshof in Kassel zurückgepfiffen (Aktenzeichen 8 L 1603/23.GI und 4 L 1614/23.GI), unter anderem, weil der Veranstalter nicht für die Gefahrenlage in Anspruch genommen werden könne, die nicht von ihm ausgehe.

Das Treffen in Gießen fand statt. Dutzende Menschen wurden verletzt, darunter 26 Polizist:innen. SPD-OB Frank-Tilo Becher hat daraufhin die Vermieter der Räumlichkeiten gebeten, "alles in Ihrer Macht Stehende zu tun", um dazu beizutragen, dass sich die Ereignisse nicht wiederholten. Jetzt hat die zuständige Messegesellschaft ihre Absicht, "diskriminierungsfrei" zu vermieten, aufgegeben und dem Zentralrat der Eritreer mitgeteilt, "dass aufgrund der aktuellen Situation von uns kein Mietvertrag ausgestellt wird". Kretschmann geht nach der Unterrichtung des Kabinetts durch Strobl davon aus, dass ein Verbot des neuerlichen Seminars in Stuttgart auf Grund der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht möglich ist.

Populistische Forderungen wecken falsche Erwartung

Schwerer als ins Leere gehende Verbotsforderungen wiegen Rufe nach gar nicht möglichen Maßnahmen, allen voran Abschiebungen. So hat CDU-Fraktionschef Manuel Hagel sogar verlangt, "dass wir sofortige Ausweisungen vornehmen – und notfalls dafür auch das Aufenthaltsgesetz verschärfen". Ein Verlangen, dem sich Polizeigewerkschaft, AfD-Politiker:innen und der Grüne Rezzo Schlauch anschließen. Dabei zählt die Diktatur am Horn von Afrika bekanntermaßen zu jenen Ländern, die keine Landeerlaubnisse erteilen und Staatsbürger:innen nicht zurücknehmen, ganz zu schweigen von den Konsequenzen für Leib und Leben derer, die abgeschoben würden. Umfangreich und seit vielen Jahren dokumentieren Flüchtlingsräte, Pro Asyl oder Amnesty International die katastrophalen Zustände. Unter anderem ist es die Gefahr, lebenslang zum Wehr- und Arbeitsdienst eingezogen zu werden oder für immer in Gefängnissen zu verschwinden, die junge Männer und Frauen eine oft jahrelange gefährliche Odyssee nach Europa auf sich nehmen lässt. Für AfD-Fraktionschef Anton Baron sind solche Zustände kein Grund, die 200 eritreischen Straftäter nicht zurück zu schicken: "Das passiert aber nicht, weil die Landesregierung eben nicht willens ist, nur mit der AfD-Fraktion folgen Taten statt leerer Worte."

Tatsächlich sammelt das Stuttgarter Innenministerium seit 2018 Erfahrungen damit, wie kompliziert es ist, Mehrfach- und Intensivstraftäter abzuschieben. Der von Strobl ins Leben gerufene Sonderstab war in bisher 313 Fällen erfolgreich. Unter anderem wurden Ausweisungen nach Syrien, in die Türkei und den Irak organisiert. "Wer hier schwerste Straftaten begeht, darf sich nicht sicher sein, hierbleiben zu dürfen", formuliert die mitzuständige Justizministerin Marion Gentges (CDU) vorsichtig. Sie sagt aber auch: "Bei schwersten Straftaten muss man sich die grundsätzliche Frage stellen, ob man nicht da den Schutz für entsprechende Straftäter etwas absenkt."

Letzteres ist ohnehin mehrfach geschehen in den vergangenen Jahren. Unter anderem 2019 hat die im Bund regierende Große Koalition die Hürden nach schweren Verbrechen gesenkt. Seit Anfang 2023 muss es "zwingenden Gründe" geben, die können jedoch schon bei "mittlerer Kriminalität" vorliegen. Cem Özdemir (Grüne), Bundeslandwirtschaftsminister und Stuttgarter Bundestagsabgeordneter, plädiert dafür, die schon vorhandenen Spielräume zu nutzen, anstatt nach schärferen Gesetzen zu rufen. Und der Landesinnenminister höchstpersönlich hat seine Kollision mit der Realität ohnehin hinter sich: Kaum im Amt, versprach Strobl im November 2016 eine erhebliche Steigerung von Abschiebungen und Rückführungen. Einmal sprach er sogar von einer halben Million pro Jahr. Einlösbar war dies – ausweislich der Statistiken – nicht.

Jüngst Geflüchtete gegen früher Geflüchtete

An die bundesrepublikanische Gesellschaft insgesamt richtet sich unter einschlägigen Hashtags – etwa #Eritrea – noch ein ganz anderer, ein viel diskutierter Aufruf: sich für hier zum Teil schon seit Jahrzehnten lebende Menschen mit nicht-deutschen Wurzeln zu interessieren. Rund 800 Eritreer:innen leben in Stuttgart, viele seit Anfang der Achtziger, etwa 80.000 sind es in ganz Deutschland. Eine Studie im Auftrag des BAMF belegt die vergleichsweise hohe Zufriedenheit gerade unter jenen, die erst in den vergangenen Jahren fliehen mussten. Kontakte mit Biodeutschen sind Mangelware, erhöhen aber – wie sollte es auch anders sein – das Zugehörigkeitsgefühl.

Ebenfalls zu Wort melden sich zahlreiche Fachleute, etwa die Politologin und Eritrea-Expertin Nicole Hirt, die im dpa-Gespräch das "größtenteils inzwischen völlig verklärte Bild" ihres Herkunftslandes beschreibt, das diejenigen pflegen, die seit 30 oder 40 Jahre in Deutschland leben. Und sie berichtet auch, dass gerade junge Flüchtlinge gezielt zu Veranstaltungen pro-eritreischer Organisationen gefahren und zu Gewalt angestachelt würden: "Wobei schwer zu sagen ist, wer da eigentlich hinter steckt." Jedenfalls sei es für die jungen Leute "sehr frustrierend", wenn die alteingesessenen Eritreer hier die Diktatur feiern.

Aktuell wird in der Landeshauptstadt jetzt erst einmal über den Umgang mit dem kommenden Samstag nachgedacht. Und der Ministerpräsident ist zuversichtlich: "Eines ist klar, wenn weitere solche Veranstaltungen stattfinden, werden wir zu verhindern wissen, dass es wieder zu solchen gewalttätigen Ausschreitungen kommt."


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9 Kommentare verfügbar

  • Jue.So Jürgen Sojka
    am 22.09.2023
    Antworten
    SWR Meinungen:
    19.09. von Stefan Giese „Hilfloses Abschiebungsgezeter“ und
    18.09. von Martin Rupps „Die Großzügigen sind die Dummen“
    Angereichert mit veröffentlichten Kommentaren und Zusätzen https://up.picr.de/46362898rx.pdf 6 MB

    Dazu passt die neue Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung:
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