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Grüne und Asylkompromiss

Ausverkauf der Menschenrechte

Grüne und Asylkompromiss: Ausverkauf der Menschenrechte
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Wie die Grünen in Regierungsverantwortung an der Festung Europa mitbauen, hat die alten Flügelkämpfe schlagartig wiederbelebt. In einer Schärfe, die selbst für den erfolgsverwöhnten baden-württembergischen Landesverband höchst unangenehm werden könnte. Denn der hat in den nächsten drei Jahren vier Wahlen vor der Brust.

Neun Seiten ist der Leitantrag lang, der dem Landesparteitag Anfang Juli zur Abstimmung vorliegt. Die Zeilen 288 bis 298 haben das Zeug, in Kehl umgehend Makulatur zu werden. Denn dort bekennen sich die Südwest-Grünen unter anderem zur "Wahrung der Menschenrechte und der Achtung der Menschenwürde auch an den europäischen Außengrenzen", zu "einer Migrationspolitik, die Humanität und Ordnung in Einklang bringt" und zur "Förderung von legalen Migrationswegen". Die EU müsse dafür sorgen, dass das Sterben im Mittelmeer endet.

Tatsächlich haben die 27 Innenminister:innen der Europäischen Union mit ihrem Kompromiss in der vorigen Woche Weichen in eine ganz andere Richtung gestellt: Flüchtende sollen durch Grenzverfahren unter Haftbedingungen abgeschreckt werden, der Anspruch auf Asyl bei der Einreise aus angeblich sicheren Drittstaaten ganz entfallen. Nicht einmal ein Mindestmaß an Mitmenschlichkeit konnte die Ampelkoalition durchsetzen. Denn der Plan, Familien mit Kindern die Entwürdigung zu ersparen, wurde schlussendlich von einer Mehrheit der Hardliner abgelehnt.

Der Kompromiss verschärft die Not

In der SPD hält sich die innerparteiliche Missbilligung in engen Grenzen. Verlass ist auf die Jusos. "Wir sind schockiert", bekennt die Landesvorsitzende Lara Herter auf einer Spontan-Veranstaltung am vergangenen Freitag in Stuttgart gemeinsam unter anderem mit dem DGB und der Grünen Jugend. Deren Landessprecherin Elly Reich nennt die Einigung "einen Angriff auf die Menschenwürde". Bundesinnenministerin Nancy Faeser dagegen lobte per Tweet den "historischen Erfolg". Die Fehleinschätzung an sich ist ein Skandal der Sozialdemokratin, die im Herbst hessische Ministerpräsidentin werden will. Ein zweiter, dass sie dieselbe Formulierung wählte wie ihre Kollegin Maria Malmer Stenergard aus Schweden, das gerade den EU-Vorsitz führt. Die allerdings gehört einer konservativen Minderheitsregierung an, die sich von den rechtsradikalen Schwedendemokraten tolerieren lässt. "Sorry, Nancy", so Juso-Chefin Herter, die Vereinbarungen seien zynisch und kein Erfolg, sondern eine Blamage.

NGOs, Unterstützer:innen aus vielen Bereichen von der katholischen Kirche bis zur Diakonie, Ärzte ohne Grenzen, Entwicklungspolitiker:innen oder die Flüchtlingsräte sind entsetzt über die Beschlüsse. Mehrere Petitionen dagegen sind bereits angelaufen. Gerald Knaus, der österreichische Soziologe und anerkannter EU-Migrationsexperte, sieht mit dem Kompromiss kaum Möglichkeiten, die irreguläre Migration zu reduzieren, sondern erwartet weiter illegale Pushbacks, Gewalt und Sterben im Mittelmehr. Mit ins Zentrum der Kritik rückt Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne). Wegen ihrer Zustimmung insgesamt und weil sie die Einigung versteht als Möglichkeit, um zu verhindern, "dass es wieder zu Zuständen an den EU-Außengrenzen wie in Moria kommt". Die katastrophalen Verhältnisse in dem griechischen Elendslager seien seinerzeit doch "zur Abschreckung politisch so gewollt gewesen", kontert "Pro Asyl", prangert den "Ausverkauf der Menschenrechte" an und dass "effektive Solidarität im Sinne von Umverteilung von Geflüchteten in Europa in der Reform gar nicht vorgesehen ist".

Tatsächlich müssen Polen oder Ungarn dabei auch künftig nicht mitmachen. Dennoch kommt viel Kritik aus beiden Ländern, wiewohl sie an einem ebenfalls beschlossenen Umverteilungsmechanismus unbeteiligt sind. Jedoch hat ein EU-Mitglied, das sich raushält, zu zahlen. Diese Idee sei bereits früher "wie ein Kartenhaus zusammengefallen", so der polnische Europaminister Szymon Szynkowski vel Sek (PiS, Partei Recht und Gerechtigkeit), weil nicht umsetzbar. Außerdem habe sein Land, twitterte er, die größte Flüchtlingskrise nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgreich bewältigt und 1,6 Millionen Kriegsgeflüchtete aus der Ukraine aufgenommen. Österreich will ebenfalls keine jener Geflüchteten aufnehmen, die die Verfahren in den Grenzlagern künftig erfolgreich durchlaufen haben. Es gehe nämlich "jetzt darum, wie wir entlastet werden", sagt ÖVP-Innenminister Gerhard Karner. Zwei Stellungnahmen, die andererseits nicht einfach von der Hand zu weisen sind: Polen ist tatsächlich vorbildlich aufnahmebereit, wenn es um Ukrainer:innen geht. Andere Flüchtende allerdings lehnt das Land ab. Und in Österreich wurden seit 2021 im Verhältnis zur Einwohnerzahl fast dreimal so viele Asylanträge gestellt wie in der Bundesrepublik.

Grüne bedauern, Rechte frohlocken

Koalierende Grüne treibt die Zustimmung der Regierungen zum Asylkompromiss in ein Dilemma: Sie können sich einerseits gegenüber ihren Partner:innen nicht durchsetzen und handeln sich andererseits erst recht Kritik von allen Seiten ein, wenn sie jetzt versuchen, über das EU-Parlament doch noch Korrekturen durchzusetzen. Erik Marquardt, der als Fotojournalist die Leidenswege Flüchtender dokumentiert, ist EU-Abgeordneter aus Berlin-Treptow-Köpenick und nennt den Kompromiss ein "großes Trauerspiel". Die "Strategie der Rechtspopulisten" sei aufgegangen, sagt er in einem Gespräch mit der "Frankfurter Rundschau" und, dass die Ja-Stimme Deutschlands nicht vom Koalitionsvertrag – an dem er mitgearbeitet hat – gedeckt sei. Auch Michael Bloss, Stuttgarts Abgeordneter in Brüssel und Straßburg, gehört zum linken Flügel der Grünen. Der allerdings hat keine Mehrheiten, auch nicht im berühmten Sechser-Rat aus Partei- und Fraktionsspitze sowie Baerbock und Vizekanzler Robert Habeck. Verlangt werden jetzt strukturelle Änderungen, um die Mehrheitsverhältnisse dort auszugleichen.

Die Außenministerin hat den Tag der Entscheidung immerhin als einen der schwersten in ihrem politischen Leben bezeichnet. Das beeindruckt viele an der Basis wenig. Der Vorsitzende der Europäischen Volkspartei (EVP) wiederum, Manfred Weber, missinterpretierte die Einblicke der 42-jährigen Mutter von zwei Kindern in ihren Abwägungsprozess absichtlich als "grün-ideologische Rechthaberei". So sei Europa nicht zusammenzuhalten, ätzt der Niederbayer, der seit einem Vierteljahrhundert in der Christlich-sozialen Partei Deutschlands (CSU) aktiv ist.

Derart im Sandwich der Angriffe von allen Seiten müssen sich die Grünen auf weiter sinkende Umfragewerte einstellen und darauf, dass ein Blütentraum bleiben könnte, mit Tarek Al-Wazir im Herbst in Hessen nach Winfried Kretschmann einen zweiten grünen Ministerpräsidenten ins hohe Amt zu hieven. Webers Tonlage gibt überdies einen Ausblick auf das, was im Wahlkampf zur Europawahl im Juni 2024 zu erwarten ist. Baden-württembergische Schwarze und Liberale werden gerade im parallel laufenden Kommunalwahlkampf versuchen, mit zugespitzten Fragen der Zuwanderung und der Integration vor Ort zu punkten. 2025 ist dann Bundestagswahl – wenn die Ampel hält bis dahin – und 2026 ein neuer Urnengang in Baden-Württemberg. Zu verteidigen sind da immerhin 58 der 70 prestigeträchtigen Direktmandate. "Das kann aber niemals gelingen", sagt ein grüner Abgeordneter, "wenn uns die Asylpolitik zerreißt."

Die Vorsitzenden sagen nichts

Am Wochenende trifft sich in Bad Vilbel bei Frankfurt mit dem Länderrat das wichtigste Beschlussgremium zwischen Bundesparteitagen. Dem liegt ein Antrag "für eine moderne und menschenrechtsorientierte Migrationspolitik in Deutschland und der Europäischen Union" des Vorstands vor, der so nicht bleiben kann. Denn abgelehnt wird darin genau das, was nach Meinung vieler Grüner, nicht nur aus dem alten Fundi-Lager, jetzt vorliegt: eine Einigung um jeden Preis. "Eine Reform muss sich daran messen lassen, ob sie konkrete und relevante Verbesserungen für die geflüchteten Menschen bringt und im Einklang mit unseren völkerrechtlichen Verpflichtungen wie der Genfer Flüchtlingskonvention, der Europäischen Menschenrechtskonvention und der UN- Kinderrechtskonvention steht", heißt es. Und an anderer Stelle: "Eine Reform sollte einen wirksamen Hebel gegenüber Mitgliedstaaten darstellen, die grundlegende menschenrechtliche Verpflichtungen bei Asylverfahren bislang nicht einhalten. Der immer stärkere Ausbau der Grenzanlagen kann keine Lösung sein."

Der Konflikt ist programmiert und wird schon allein deshalb nach Baden-Württemberg überschwappen, weil die beiden Landesvorsitzenden Lena Schwelling und Pascal Haggenmüller – die eine Reala, der andere vom linken Flügel – bisher offiziell schweigen und auf die Beschlüsse im Länderrat warten wollen. Dem Landesparteitag in Kehl liegen allerdings bereits Änderungsanträge vor, zum Beispiel einer aus der Ortenau, in dem gefordert wird, "die Freiheit der Geflüchteten" zu achten und Asylverfahren auch künftig "vollständig" nach europäischem Recht und der Grundrechtecharta abzuwickeln.

Ministerpräsident Winfried Kretschmann meint: "Nichthandeln hätte schlimmere Folgen für eine humanitäre Flüchtlingspolitik, weil es zwangsläufig die Wiederkehr einer Politik der Nationalstaaten mit vielen, teilweise humanitär bedenklichen Einzellösungen bedeutet hätte". Kann gut sein, dass er sich spätestens am 1. Juli in Kehl statt mit Nicht-, mit Anders- oder gar mit Richtighandeln zu befassen hat. Die Gegner:innen der Einigung machen jedenfalls kein Hehl aus ihrer Absicht, das Thema an prominenter Stelle auf die Tagesordnung zu heben.


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5 Kommentare verfügbar

  • chr/christiane
    am 16.09.2023
    Antworten
    ---Menschen wie wir
    United4rescue
    "Skandalös: Auswärtiges Amt kürzt Gelder für die Seenotrettung--17.7.2023

    Zitat:
    "Der Bundestag hatte Ende 2022 entschieden, dass United4Rescue von 2023 bis 2026 jährlich mit zwei Millionen Euro aus dem Haushalt des Auswärtigen Amtes gefördert werden solle.
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