KONTEXT:Wochenzeitung
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30 Jahre Stuttgart 21

Nichts gelernt

30 Jahre Stuttgart 21: Nichts gelernt
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Vor 30 Jahren präsentierten fünf feixende Schwaben die Projektidee zu Stuttgart 21. Was soll man eigentlich noch dazu schreiben? Das Desaster ist schon da – doch schön wäre es, wenn man etwas daraus gelernt hätte.

Wie sollten Großprojekte am besten angegangen werden? Projekte, die das Gesicht von Städten, die ganze regionale Verkehrsinfrastrukturen umkrempeln können? Mit Bürgerbeteiligung, möglichst vielen gesellschaftlichen Akteure, ergebnisoffenen Entscheidungsprozessen, mit, wenn man denn Habermas zitieren will, deliberativen Verfahren? All das sollte es, so vor 30 Jahren die Devise, eben gerade nicht geben. Das war ja der Witz. "Die Art der Präsentation im April 1994 war ein überfallartiger Vorgang. Gegner und Skeptiker sind nicht im Stande gewesen, die Sache zu zerreden. Ein Musterbeispiel, wie man solche Großprojekte vorstellen muss", erinnerte sich Heinz Dürr, damals Chef der Deutschen Bahn AG, im Februar 1995 gegenüber den "Stuttgarter Nachrichten" an die Präsentation der Projektidee Stuttgart 21.

An besagtem "Überfall" beteiligt sind am 18. April 1994 neben Dürr der Bundesverkehrsminister Matthias Wissmann, Baden-Württembergs Ministerpräsident Erwin Teufel, Landesverkehrsminister Hermann Schaufler und der Stuttgarter Oberbürgermeister Manfred Rommel. Als "Jahrhundertchance" preisen die fünf Schwaben mit CDU-Parteibuch den Plan, den bestehenden Kopfbahnhof in einen um 90 Grad gedrehten, unterirdischen Durchgangsbahnhof zu verwandeln und über kilometerlange Tunnel eine schnellere Anbindung an den Flughafen und eine ebenfalls geplante Neubaustrecke nach Ulm zu schaffen. Auf den 120 Hektar Gleisfeld, die dadurch frei würden, werde ein neues Stadtviertel entstehen, der Verkauf dieser Grundstücke soll das Projekt finanzieren. Es koste die Stadt praktisch nichts, verspricht Rommel damals.

Rund 16 Jahre später war "die Sache" dann zum Musterbeispiel geworden, wie man Großprojekte besser nicht durchsetzt. Nach Massenprotesten in Stuttgart, nach einem brutalen und rechtswidrigen Polizeieinsatz im Schlossgarten, dem "Schwarzen Donnerstag", war es im Herbst 2010 zur sogenannten "Schlichtung", zum Faktencheck mit Heiner Geißler gekommen. Geißler, CDU, gab dabei seine Überzeugung zu Protokoll, dass staatliche Entscheidungen bei solch gravierenden Projekten ohne Einbindung der Bürger dem "vorherigen Jahrhundert" angehörten. Sein akuter Auftrag zur Konfliktschlichtung sei "ein deutliches Signal dafür, dass in Deutschland die Zeit der Basta-Entscheidungen vorbei ist".

Und immer noch mehr Geld wird hinterhergeworfen

Am Ende war Geißlers Schlichtung ein Musterbeispiel dafür, wie man einer großen und erfolgreichen Protestbewegung durch die Einbindung in ein Verfahren den Wind aus den Segeln nehmen kann. Wie ein mit Basta-Entscheidungen durchgezogenes Großprojekt im Sinne der Basta-Entscheider gerettet werden kann.

Stimmen zum Desaster

Auch wenn die überfallartige Präsentation der Projektidee zu S 21 es Gegner:innen anfangs schwer machte die Sache zu zerreden, ist es ja nicht so, dass niemand frühzeitig vor den Risiken gewarnt hätte. Zum 30-jährigen Jubiläum hat Kontext um Statements gebeten. Einschätzungen erhielten wir von Martin Poguntke, Sprecher des Aktionsbündnisses gegen Stuttgart 21; Klaus Gietinger, Autor und Regisseur; Martin Bachhofer, Geschäftsführer des BUND Baden-Württemberg; Verkehrswissenschaftler Heiner Monheim; Wolfgang Staiger, Vorsitzender des Fahrgastverbands Pro Bahn, Regionalverband Stuttgart; Gero Treuner, Vorstand des VCD Baden-Württemberg und Tom Adler, Ex-Stadtrat (Linke) in Stuttgart und Mitglied im Bündnis "Bürgerbahn – Denkfabrik für eine starke Schiene". Die Beiträge sind hier nachzulesen.  (red)

Und heute? Ist Stuttgart 21 ein Musterbeispiel dafür, wie unsinnig ausgegebenem, verlorenem Geld immer noch weiteres hinterhergeschmissen wird. Weil der Baufortschritt schon so weit und eine Bauruine in der Stadt ja nicht wünschenswert sei, weil zwar kaum mehr einer von dem Projekt wirklich begeistert ist, aber keiner der beteiligten Akteure sich traut, einen ersten Schritt zum Ausstieg zu machen. Dass geschlossene Verträge dies nicht ganz leicht machen – geschenkt. Doch wie sagte der Stuttgarter Verwaltungsrichter Wolfgang Kern im vergangenen Mai? "Es gibt bei öffentlichen Verträgen auch die Möglichkeit, einen Vertrag zu kündigen, wenn die Vertragsanpassungen zu unzumutbaren Belastungen für die Beteiligten führen würden."

Es ist – auch das – ein Musterbeispiel eines von Lobbyinteressen befeuerten Projekts, das wie der feuchte Traum der (Tunnel-)Bau und Immobilienbranche wirkt, aber leider nicht der von Menschen, die an zukunftsorientierter oder wenigstens zeitgemäßer Mobilität interessiert sind. Deren Lobbys sind leider weniger durchsetzungsstark oder verstehen einfach nicht, worum es geht. Denn wie sagte Ex-Bahnchef Heinz Dürr ein paar Jahre nach seinem Überfall-Statement: "Das Problem ist, dass das plötzlich ein Bahnhof geworden ist. Mir ging es aber nur darum: Wenn der Sackbahnhof wegkommt, dass dann Stuttgart 120 Hektar Land kriegt im Zentrum. Und das haben die nicht verstanden, da ging es nur noch um den Bahnhof."

Stuttgart 21 ist ein Musterbeispiel für ein Großprojekt

Man könnte auch ganz einfach sagen: Stuttgart 21 ist schlicht ein Musterbeispiel für ein Großprojekt. Denn "dass Täuschung und Lüge als Taktik angewandt werden, um ein Projekt in Gang zu bringen, scheint am besten zu erklären, warum bei Infrastrukturprojekten die Kosten in hohem Maße und systematisch unterschätzt und Nutzeneffekte überschätzt werden." Dieser Satz stammt aus einem 2003 erschienenen wissenschaftlichen Werk namens "Megaprojects and Risk" des Karlsruher Wirtschaftswissenschaftlers Werner Rothengatter und zweier Koautoren. Ihre These weisen sie anhand mehrerer Beispiele schlüssig nach. Stuttgart 21 war noch nicht dabei, das war damals noch in embryonalem Zustand. Dass Rothengatter selbst mehrmals als Gutachter für Stuttgart 21 tätig war, dass er in Studien dazu Projektkosten ebenso systematisch unterschätzte und Nutzen überschätzte, wie er es 2003 so scharf kritisiert hatte, gehört zu den unzähligen absurden, an Realsatire grenzenden Volten der Projekt-Geschichte. Von Kontext 2016 darauf angesprochen, sagte Rothengatter, bei 3,1 Milliarden Euro angenommenen Projektkosten im Jahr 2009 seien schon 50 Prozent Kostensteigerungen einkalkuliert gewesen, "wir haben uns damals allerdings nicht vorstellen können, dass es mehr als 100 Prozent Steigerung werden." Immerhin, der Mann hat Humor. Mittlerweile sind es knapp 400 Prozent.

Was bleibt also außer Galgenhumor? Die Hoffnung, vielleicht doch ein bisschen was gelernt zu haben, um es mal besser zu machen? Vielleicht ganz aktuell bei weiteren großen Projekten, die die Mängel der ursprünglichen S-21-Planung beheben sollen, wie dem Pfaffensteigtunnel? Lachen Sie jetzt nicht, liebe Leserinnen und Leser.

Nicht, dass keine Versuche in diese Richtung gemacht worden wären. Ministerpräsident Winfried Kretschmanns (Grüne) Formulierung von einer "Politik des Gehörtwerdens" war 2011, nach dem Wahlsieg von Grün-Rot in Baden-Württemberg, eine konkrete Reaktion auf das Nichtgehörtwerden, das viele Büger:innen bei Stuttgart 21 beklagten. Eine Staatsrätin eigens für Bürgerbeteiligung und Zivilgesellschaft wurde eingesetzt. Der erste große Versuch, die Volksabstimmung über den Finanzierungsanteil des Landes an Stuttgart 21, war dann eher ein Musterbeispiel, wie man eine solche Abstimmung nicht machen sollte. In der Folge schien das Interesse an direkter Bürgerbeteiligung bei den Grünen rasant geschwunden. Nicht, dass es ganz weg ist, aber ein so großes, bestimmendes Thema ist es für die Grünen offenbar nicht mehr – für ihren schwarzen Koalitionspartner im Land ohnehin nicht.

Stattdessen scheinen bundesweit bei großen Bauprojekten nicht weniger Intransparenz und mangelnde Beteiligungsmöglichkeiten problematisch, sondern zu lange Planungs- und Umsetzungszeiten. Das Narrativ vom überbürokratischen Deutschland, in dem scheinbar absurde Umwelt- und sonstige Auflagen jedes Infrastrukturprojekt immens in die Länge ziehen würden, hat sich breit gemacht. Ganz gleich, wie viel dran ist. Nur so am Rande: Bei Stuttgart 21 waren es nicht etwa überlange Planungszeiten und erst Recht nicht Proteste, die zwischen Projektpräsentation und Baustart 16 Jahre vergehen ließen, sondern schlicht und einfach die ungeklärte Finanzierung. Die dann 2009 in einem so stümperhaften Finanzierungsvertrag geregelt wurde, dass sich momentan die Bahn AG und ihre Projektpartner (Land, Stadt und Co.) vor Gericht beharken, wer denn nun die Mehrkosten übernimmt.

Pfaffensteigtunnel: Wie der Phönix aus der Asche

Doch zurück zum, ja, nennen wir es so, Mythos der stets überlangen Planungszeiten. Um die zu verkürzen (und die Bürgerbeteiligung übersichtlicher zu gestalten), hatte schon der frühere Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) in seiner Amtszeit zwei Gesetze durchgebracht: das "Planungsbeschleunigungsgesetz" und das – hieß wirklich so – "Maßnahmengesetzvorbereitungsgesetz". Letzteres wurde 2023 von der Ampel-Regierung durch das in die gleiche Richtung gehende "Gesetz zur Beschleunigung von Genehmigungsverfahren im Verkehrsbereich" ersetzt.

Den Geist der beschleunigten Umsetzung, des Versuchs, den Nachtmahr der auflagengesättigten Bürokratie vom Bauch zu bekommen, zeigt sich etwa beim schon erwähnten Pfaffensteigtunnel von Böblingen zum Stuttgarter Flughafen. Er soll der längste Eisenbahntunnel in Deutschland werden, zweimal elf, also insgesamt 22 Tunnelkilometer lang. Und sehr teuer. Eine Milliarde Euro schätzt die Bahn, 2,7 Milliarden schätzte 2021 der von den S-21-Gegnern beauftragte Verkehrsexperte Karlheinz Rößler (Spoiler: Bei Stuttgart 21 bewahrheiteten sich bislang immer die Prognosen von Rößler und seinem früheren Büro-Partner Martin Vieregg, was auch Rothengatter einräumte).

Der Tunnel ist noch ziemlich jung, im Sommer 2020 wurde er ohne Vorwarnung aus dem Hut gezaubert. Anfangs hieß er Gäubahn-Tunnel, bei den S-21-Gegnern schnell Bilgertunnel, denn Steffen Bilger (CDU), Staatssekretär in Scheuers Verkehrsministerium, hatte ihn präsentiert – auch dies ein etwas überfallartiger Vorgang, aber mit weniger Prominenz besetzt als 1994. Niemand hatte diese Idee auf dem Schirm gehabt, auch wenn wohl den meisten klar war, dass die alte Planung zu diesem Stuttgart-21-Abschnitt 1.3b, völlig untauglich war. Der Pfaffensteigtunnel sollte diese ersetzen.

Und tatsächlich, hier hatte man gelernt. Nicht wie man die Bürger besser einbinden könnte. Das hatte immerhin der Verkehrsclub Deutschland (VCD) einmal im Oktober 2020 gefordert. Die fehlende Planfeststellung wichtiger S-21-Abschnitte, so der VCD damals, eröffne die Möglichkeit, "die neuen Anforderungen nochmals ergebnisoffen zu diskutieren". Und er appellierte an die Projektpartner, "in einer Neuauflage des Filderdialogs 'Stuttgart 21 plus' die vorgeschlagenen neuen Lösungen und ihre Alternativen und weitere Ergänzungen offen mit der Bürgerschaft zu diskutieren – analog zum Projektbeirat Rheintalbahn, der als eine Lehre aus den Konflikten rund um Stuttgart 21 einberufen und erfolgreich umgesetzt wurde".

Aber es blieb beim Appell, Politik und DB sind nie darauf eingegangen. Steffen Bilger jedoch präsentierte im März 2021 eine so trickreiche wie hanebüchene Konstruktion, den neuen Tunnel wirtschaftlich zu machen und damit in den vordringlichen Bedarf des Bundesverkehrswegeplans zu bugsieren (was Bundesmittel ermöglicht), indem er ihn in ein größeres Paket des Gäubahn-Ausbaus packte. Es ging dann alles sehr schnell. Im Juli 2022 fand der Bund eine Einigung über die Finanzierung, momentan ist die Bahn gemeinsam mit mehreren Unternehmen mit der Planung beschäftigt. Die ehrgeizigen Ziele: Planfeststellung April 2025, Baustart Anfang 2026, Fertigstellung 2032. Nicht einmal Landesverkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) geht von einem so schnellen Bau aus. Und weil der Bund der Bahn jüngst das Budget für den Schienenausbau gekürzt hat und Sanierungsmaßnahmen Vorrang vor Neubauten eingeräumt hat, seien der "Zeitplan und die rechtzeitige Mittelbereitstellung für dieses aufwändige Projekt mit großen Fragezeichen versehen", sagt Wolfgang Staiger vom Fahrgastverband "Pro Bahn", Regionalverband Stuttgart.

Auch Gero Treuner, Vorstand des VCD in Baden-Württemberg, sieht den ganzen Prozess kritisch: "Der Ausbau der Bahninfrastruktur ist in der Konzeption weitgehend der Bevölkerung und selbst großen Teilen der Politik entzogen", sagt er. "Für den Bundesverkehrswegeplan entstehen Vorhaben mit Prämissen in einem intransparenten Prozes­­­­­s, die mit einer positiven Wirtschaftlichkeitsuntersuchung und dem Wirkungsnachweis für den Deutschlandtakt legitimiert werden. Weder können Alternativen eingebracht werden, noch spielen übergreifende Aspekte wie Angebot, Verbindungen sowie Klimaschutz für bestehende Anlagen im bestehenden Eisenbahnrecht eine Rolle." Was hält er von all den Forderungen nach schnelleren Planungen? "Eine Planungsbeschleunigung ist grundsätzlich sinnvoll, wenn es einen Konsens zu einem Projekt gibt", sagt Treuner. "Für diesen ist die geforderte gesellschaftliche Diskussion dringend notwendig, statt sturem Beharren auf alten Positionen. ... So verwundern Jubiläen bei den Montagsdemos und Klagen vor Gericht nicht. Die Wette auf eine Finanzierung des unwirtschaftlichen Pfaffensteigtunnels und den ambitionierten Zeitplan ist ein riskantes Spiel mit dem Bahnsystem und dem Klimaschutz."

Wie viele Jubiläen das riskante Spiel noch erlebt? Vermutlich noch einige.


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