Nicht, dass keine Versuche in diese Richtung gemacht worden wären. Ministerpräsident Winfried Kretschmanns (Grüne) Formulierung von einer "Politik des Gehörtwerdens" war 2011, nach dem Wahlsieg von Grün-Rot in Baden-Württemberg, eine konkrete Reaktion auf das Nichtgehörtwerden, das viele Büger:innen bei Stuttgart 21 beklagten. Eine Staatsrätin eigens für Bürgerbeteiligung und Zivilgesellschaft wurde eingesetzt. Der erste große Versuch, die Volksabstimmung über den Finanzierungsanteil des Landes an Stuttgart 21, war dann eher ein Musterbeispiel, wie man eine solche Abstimmung nicht machen sollte. In der Folge schien das Interesse an direkter Bürgerbeteiligung bei den Grünen rasant geschwunden. Nicht, dass es ganz weg ist, aber ein so großes, bestimmendes Thema ist es für die Grünen offenbar nicht mehr – für ihren schwarzen Koalitionspartner im Land ohnehin nicht.
Stattdessen scheinen bundesweit bei großen Bauprojekten nicht weniger Intransparenz und mangelnde Beteiligungsmöglichkeiten problematisch, sondern zu lange Planungs- und Umsetzungszeiten. Das Narrativ vom überbürokratischen Deutschland, in dem scheinbar absurde Umwelt- und sonstige Auflagen jedes Infrastrukturprojekt immens in die Länge ziehen würden, hat sich breit gemacht. Ganz gleich, wie viel dran ist. Nur so am Rande: Bei Stuttgart 21 waren es nicht etwa überlange Planungszeiten und erst Recht nicht Proteste, die zwischen Projektpräsentation und Baustart 16 Jahre vergehen ließen, sondern schlicht und einfach die ungeklärte Finanzierung. Die dann 2009 in einem so stümperhaften Finanzierungsvertrag geregelt wurde, dass sich momentan die Bahn AG und ihre Projektpartner (Land, Stadt und Co.) vor Gericht beharken, wer denn nun die Mehrkosten übernimmt.
Pfaffensteigtunnel: Wie der Phönix aus der Asche
Doch zurück zum, ja, nennen wir es so, Mythos der stets überlangen Planungszeiten. Um die zu verkürzen (und die Bürgerbeteiligung übersichtlicher zu gestalten), hatte schon der frühere Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) in seiner Amtszeit zwei Gesetze durchgebracht: das "Planungsbeschleunigungsgesetz" und das – hieß wirklich so – "Maßnahmengesetzvorbereitungsgesetz". Letzteres wurde 2023 von der Ampel-Regierung durch das in die gleiche Richtung gehende "Gesetz zur Beschleunigung von Genehmigungsverfahren im Verkehrsbereich" ersetzt.
Den Geist der beschleunigten Umsetzung, des Versuchs, den Nachtmahr der auflagengesättigten Bürokratie vom Bauch zu bekommen, zeigt sich etwa beim schon erwähnten Pfaffensteigtunnel von Böblingen zum Stuttgarter Flughafen. Er soll der längste Eisenbahntunnel in Deutschland werden, zweimal elf, also insgesamt 22 Tunnelkilometer lang. Und sehr teuer. Eine Milliarde Euro schätzt die Bahn, 2,7 Milliarden schätzte 2021 der von den S-21-Gegnern beauftragte Verkehrsexperte Karlheinz Rößler (Spoiler: Bei Stuttgart 21 bewahrheiteten sich bislang immer die Prognosen von Rößler und seinem früheren Büro-Partner Martin Vieregg, was auch Rothengatter einräumte).
Der Tunnel ist noch ziemlich jung, im Sommer 2020 wurde er ohne Vorwarnung aus dem Hut gezaubert. Anfangs hieß er Gäubahn-Tunnel, bei den S-21-Gegnern schnell Bilgertunnel, denn Steffen Bilger (CDU), Staatssekretär in Scheuers Verkehrsministerium, hatte ihn präsentiert – auch dies ein etwas überfallartiger Vorgang, aber mit weniger Prominenz besetzt als 1994. Niemand hatte diese Idee auf dem Schirm gehabt, auch wenn wohl den meisten klar war, dass die alte Planung zu diesem Stuttgart-21-Abschnitt 1.3b, völlig untauglich war. Der Pfaffensteigtunnel sollte diese ersetzen.
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